Kapitel 3: Weiß (Jimin)
Kapitel 3: Weiß, wie Porzellanscherben (Jimin)
Stille erfüllte den Raum. Hatte ihn schon vor einigen Tagen ergriffen und lies mit eisigen Klauen nicht mehr von ihm ab. Seit Hoseoks Zusammenbruch unter Einfluss der Medikamente bewohnte ich das Zimmer am hintersten Ende des Ganges allein. Die Einsamkeit hatte mein Vertrauen gewonnen und die Lautlosigkeit gefüttert, bis sie geblieben war. Mittlerweile fürchtete ich die Geräusche von außerhalb des Zimmers, hielt mich im Verborgenem. Die Trauer war mein ewiger Begleiter geworden, verfolgte mich mit jedem Schritt, den ich tat. Hatte sich blutsaugend an meiner Kehle festgebissen. Die zugezogenen Vorhänge ließen nur wenig des Lichts in den Raum fallen, unterstützten meine düsteren Gedanken. Ein Klopfen lies mich im Bett auffahren. „Jimin?" Jungkooks Stimme hallte durch die Tür, während sich die Stille fauchend zurückzog. „Wir gehen jetzt. Bist du sicher, dass du nicht mitkommen möchtest?" Schwer atmend rieb ich mir über die Augen, versuchte den Schrecken hinunter zu schlucken. „Verdammt, wie oft willst du noch fragen?",schrie ich als Antwort zurück. Er stellte bereits zum dritten Mal die Frage, ob ich mit ihnen zusammen das Krankenhaus besuchen wollte. Natürlich wollte ich das nicht. Ich könnte die leidenden Gestalten von Hoseok und Jin einfach nicht ertragen. „Tut mir Leid." Jungkooks gebrochene Stimme entfernte sich langsam, bis sie sich hinter den Geräuschen der Anderen verlor. Schließlich war nur noch das abschließende Klicken der Haustür zu vernehmen. Ein trauriges Lächeln huschte über mein Gesicht und ging in ein ersticktes Schluchzen über. Warum ließen auch sie mich allein?
Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte bereits seit mehreren Tagen die selbe Uhrzeit. 3:19. Durch meine gewaltsamen Einwirkungen hatte ihn die Energie vollends verlassen. Sein Ticken vermisste ich nicht. Es war dem Piepen von Jins Geräten zu ähnlich gewesen. Unruhig warf ich mich in meinem Bett hin und her, versuchte irgendeine Position zu finden, in der ich die letzten 48-Stunden seit Hoseoks letztem Besuch, noch nicht gelegen hatte. Mit laut schlagendem Herzen verharrte ich schließlich. Den Rücken an die kalte Wand gelehnt, die Beine im Schneidersitz miteinander verschränkt.
Jin. Verzweifelt fuhr ich durch meine schwarzen Haare, ließ eine Hand an der Stirn ruhen, um meinem überforderten Kopf ein wenig Ruhe geben zu können. Immer wieder tauchte sein Name in meinen Gedanken auf, fraß sich durch die Windungen meines Gehirns und brachte mich an einen Abgrund, der tiefer nicht sein konnte. Mein Mund wollte schreien, meine Beine rennen, meine Hände irgendetwas zerstören, alles in mir tobte. Diese Ungewissheit zerriss mein Inneres, zerfleischte meine Organe und schälte sich langsam aus meinem Körper hinaus. Dieses schreckliche Chaos. Keine geordneten Wörter, keine geordneten Überlegungen, keine geordneten Gefühle. Fast panisch klammerte ich mich an meinen Haaren fest, führte die andere Hand an meinen Hals, um irgendwo Halt finden zu können. Meine Finger verhakten sich in der kleinen, silberfarbenen Kette mit dem Kreuzanhänger, die sich so eng an mein Schlüsselbein schmiegte. Ich fühlte mein pulsierendes Herz durch die schützende Haut hindurch, spürte wenigstens für einen kurzen Moment das pure Leben in mir schlagen, bevor die Töne erneut verblassten. Es gab nur einen Weg diese Mauern der Trauer zu durchbrechen, nur einen einzigen Weg um dieser Unordnung von Gedanken und Empfindungen zu entfliehen.
Mein Herz musste das Schweigen lernen.
Vor Lustlosigkeit taumelnd fand ich meinen Weg aus dem dunklen Zimmer, hinein in das Licht der restlichen Wohnung. Die Ruhe hatte sich auch hier eingenistet, grinste mir gehässig entgegen. Wusste sie denn gar nicht, dass ich kein Interesse mehr daran besaß zu Kämpfen? Die meisten der Türen auf dem Gang waren geschlossen, das Tor zum Wohnzimmer allerdings stand weit offen und verführte mich mit seinem warmen Licht, welches auf den Flur fiel. Ich betrat, angelockt von der süßen Helligkeit, das in Eichenholz gehaltene Zimmer, in welchem wir vor Jins Verschwinden unsere Abende oft gemeinsam verbracht hatten. Nari schlief zur Zeit bei ihnen auf dem großen, roten Ledersofa. Sämtliche ihrer Decken und Kissen fanden sich auf ihm wieder, wurden von der Sonne beschienen. Staub tanzte in der Luft und legte sich auf die Andenken in den Regalen, die wir in den Jahren unserer Karriere gesammelt hatten. Auf dem niedrigen Tisch, welcher vom Sofa fast gänzlich umschlossen wurde, lagen einige Bücher. Sehr besondere Bücher: Fotoalben, vollgestopft mit schmerzhaften Erinnerungen und lächelnden Gesichtern. Zögernd streckte ich meine Hand nach einer dieser Sammlungen aus, zuckte kurz zurück, als meine Fingerspitzen auf die Oberfläche trafen. Blitzartig fuhr ein stechender Schmerz in mein Herz, breitete sich von dort in meinem gesamten Körper aus. Wortlos ergriff ich das Album mit dem grünen Einband und presste es an meine Brust, als ich rückwärts das Wohnzimmer verließ. Ich hatte es wohl zum Letzten Mal betreten.
Mit einem dumpfen Geräusch schloss sich die Badezimmertür hinter mir. Das trübe Licht schimmerte auf den weißen Fliesen, welche die Wände und den Boden schmückten. Kein Fenster spendete Wärme, die Enge des Raumes beruhigte mich von ganz allein. Sanft bettete ich das Album mit all den Erinnerungen auf dem Boden, ehe ich den Wasserhahn über der Badewanne aufdrehte und das kühle Nass in das Becken laufen lies. Das Rauschen und das Plätschern ergriffen den Raum sofort für sich, füllten ihn zunehmend aus. Erschöpft von dieser ganzen Aktion, lies ich mich vor der Wanne nieder, lehnte meinen Rücken an diese und ergriff erneut das grüne Buch, zog es auf meinen Schoss. Zögernd ergriff ich die erste Seite des Einbandes. Mehrere Sekunden verstrichen, ehe die Neugierde mich dazu zwang es zu öffnen. Das erste Bild, welches mir entgegen lächelte, war ein Gruppenbild. Unser Manager hatte es vor einem Jahr, hier im Dorm, aufgenommen. Gemeinsam saßen wir auf dem riesigen Sofa, welches für uns sieben fast schon zu klein war. Tiefe Risse bildeten sich in meinen Gedanken, als ich mit meinem Blick an Jins Lächeln hängen blieb. Seine braunen Haare lagen ihm frech über den Augen, verdeckten fast gänzlich die weichen Gesichtszüge. Nach Luft schnappend blätterte ich um, versuchte diesem Bild zu entfliehen, nur um mich auf der nächsten Seite erneut mit einem ähnlichen Schrecken konfrontiert zu sehen. Es zeigte uns bei einer Preisverleihung. Namjoon, mit den damals noch rosafarbenen Strähnen auf seinem Kopf, streckte stolz einen Preis in die Kamera. Im Bildhintergrund umarmte ich Jungkook, der lachend versuchte sich aus meiner Berührung zu befreien. Jin stand ganz rechts außen, neben Taehyung und grinste genauso breit, wie auch der Jüngere es tat. Schnell wischte ich mir mit dem Handrücken über die Augen, als ich bemerkte wie meine Sicht langsam verschwamm. Die Tränen konnte ich nicht mehr zurück halten. Schluchzend schlug ich wahllos eine Seite auf, schaute auf ein Bild, welches einen schlafenden Jin zeigte. Jungkook saß neben ihm, hatte seinen Kopf auf die Schulter des Älteren gelegt und schlief ebenfalls. Er war zu uns allen ständig so fürsorglich gewesen, liebevoll hatte er kurzerhand den Spitznamen 'Mama' erhalten. Ruckartig öffnete ich eine andere Seite, versuchte erneut dem harmlos scheinenden Bild zu entflüchten. Schleichend verließen die ersten Wassertropfen die volle Badewanne und liefen in kleinen Bächen auf den Boden hinab. Mein T-Shirt nahm ebenfalls einige von Ihnen auf, sodass mir das kalte Wasser eine Gänsehaut bereitete. Meine Gedanken beschäftigten sich nicht lange mit der Tatsache, dass das kleine Badezimmer bald vollends unter einer dünnen Schicht aus Wasser verschwinden würde. Lieber betrauerten sie Jins Verlust, als sie ein weiteres Bild zu sich nahmen. Eine Abbildung von Jin, Taehyung und Jungkook, die zu dritt und friedlich schlafend in einem Bett lagen. Unser V hatte seinem Freund den Arm über die Schultern gelegt, Jungkook tat es ihm gleich. Alle hatten sie die Augen geschlossen, schwelgten in ihren Träumen. Mein Atem war mittlerweile nicht mehr zu bändigen. Zitternd versuchte ich an Sauerstoff zu gelangen, mein Schluchzen und Weinen übertönte das Plätschern des Wasser, welches mittlerweile meine gesamte Kleidung durchnässt hatte. Die schwarze Hose klebte mir am Körper, ebenso das ehemals weiße T-Shirt. Ich sammelte die letzten Reste meiner Kraft und öffnete die entscheidende Seite unserer gemeinsamen Erinnerungen. Die abschließende Seite. Fast sofort wünschte ich mir, ich hätte es gelassen. Das Bild zeigte Jin im Krankenhaus, leblos auf dem schneeweißen Bett liegend. Die Augen unbeschwert geschlossen, mit ausdruckslosem Gesicht. Von Wut erfasst sprang ich auf, schleuderte das plötzlich gehasste Buch in die Badewanne, betrachtete zufrieden, wie es auf den Grund sank und liegen blieb.
Die Erinnerung ertranken mit ihm.
Das Wasser war seit einigen Minuten ausgedreht, die feuchte Luft lag schwer wie Rauch in meiner Lunge. Hustend und zitternd hatte ich die Arme um meinen Körper geschlungen, versuchte irgendwie die nötige Kraft für die lebenswichtigen Atemzüge zu sammeln. Ich wollte das alles nicht mehr. Ich konnte einfach nicht mehr weiter. Der Schmerz, der sich mit jedem Gedanken an meinen geliebten Freund in mir ausbreitete erstickte jedes andere Gefühl. Es machte mich taub für Freude, Trost und die mutigen Worte der Anderen. Jin hatte mit seinem Verschwinden ein Loch in meine Brust gerissen, dass ich nicht zu heilen im Stande war. Langsam ertaste sich eine meiner Hände den Weg über den Arm, hinauf zu meinem Hals, um sich an die Glieder der Kette zu legen, die ein wenig verrutscht um meine verkrampften Muskeln hing. Das kleine Kreuz, dass Jin mir einmal geschenkt hatte. Es war an meinem Geburtstag gewesen, ein Tag an dem wir alle frei bekamen und beschwert einen schönen Tag genossen hatten. Jungkook war fast aufgeregter gewesen als ich selbst und sprang bereits Stunden vorher durch den Proberaum wie ein junges Reh. Kurz nach Mitternacht hatte Hoseok mich grob geweckt, mich hinter sich her ins Wohnzimmer geschleift, wo mich die anderen erwarteten. An diesem Tag hatte Jin mir die Kette mit dem kleinen Anhänger überreicht. Ich glaube er wusste nicht einmal selbst, welche Wirkung dieses Kreuz auf mich gehabt hatte. Ein Geschenk für die Ewigkeit. Ein schriller Schmerz durchfuhr meinen Nacken und ein Brennen löste das kalte Gefühl des Wassers ab. Mit trüben Augen blickte ich auf die zerrissene Kette in meiner Hand, umfasste das Kreuz mit einer Faust und schleuderte es gegen die Wand. Ein leises Klirren ertönte, als es auf den Fliesen aufschlug. Jin war weg. Jin hatte uns verlassen. Jin war tot.
Langsam lies ich mich in das Wasser der Wanne sinken, bis es meinen Körper gänzlich umschloss. Mit meinen vor Kälte steifen Beinen, stieß ich gegen das Fotoalbum, welchem ich mich nicht erbarmt hatte. Sollten andere es an meiner Stelle retten, mir half ebenfalls niemand. Mit dieser Enttäuschung musste auch das mittlerweile verblichene Buch leben. Mein Kopf und meine Arme ragten als einziges aus dem Wasser heraus, meine Hände krallten sich an die Umrandungen. Es gab für mich keinen anderen Weg dem ganzen zu entfliehen. Es zeigte sich mir keine andere Lösung mehr. Die Anderen würden über mich genauso hinweg kommen, wie sie es mit Jin taten. Sicherlich würden sie Flüsse aus Tränen vergießen, doch auch der reisendste Strom würde versiegen. Erneut drängten sich die Bilder in meine Gedanken, diese Abbildungen auf denen wir alle noch glücklich waren. Auf denen niemand geahnt hatte, was einige Monate später passieren würde. Jin in seinem tödlichen Schlaf. Ein kurzer Schrei entkam meinen Lippen, lies mich selbst erschrocken zusammenfahren. Nie hätte ich geglaubt für etwas derartiges Kraft aufbringen zu können. Ich wollte nicht an Jin denken, meine letzten Gedanken sollten sich nicht um ihn und seinen Tod drehen. Ich wollte nichts mehr von ihm wissen. Mein Atem verfiel erneut in Panik, eine Hand presste sich auf meine Augen, die vom Sehen und Suchen so müde geworden waren. Das Wasser platschte über den Rand und landete bei seinesgleichen auf dem Boden.
Ein letztes Mal atmete ich tief ein, zog meine Lunge voll mit Sauerstoff und stoppte dann meine Atmung. Genüsslich lies ich dieses Gefühl auf meiner Zunge zergehen, ehe ich meine Beine anwinkelte um meinem Oberkörper mehr Platz in dem Raum bieten zu können. Schleichend senkte ich erst mein Kinn, schließlich meinen Mund unter die Wasseroberfläche, lies es auf mich einwirken.
Ich wollte das hier. Es gab keinen anderen Weg. Mein Herz begann entgeistert schneller zu schlagen, als es bemerkte welch teuflischen Plan ich verfolgte.
Meine Nase näherte sich dem Wasserbad und tauchte schließlich ein. Meine Hände krallten sich an die Badewannenränder, drückten mich nach unten auf den Grund. Niemand konnte das Ende noch aufhalten.
Schier unendliche Qualen zogen sich durch meinen Brustkorb. Schmerzen von undefinierbarem Ausmaß breiteten sich aus, als mein Körper nach Sauerstoff ächzte. Stattdessen erhielt er nur das kalte Wasser, welches unaufhaltsam in meine Lunge strömte. Die Entschlossenheit, die meinen Plan mit Freude gesehen hatte, begann bitterlich zu weinen. Vor meinen Augen tanzten schwarze Flecken, wie aufgescheuchte Schmetterlinge im Frühling. Doch es blieb nicht bei den Flecken. Sie wurden zu Punkten, zu Kreisen, bis sie meine ganzen Augen bedeckten. Fast konnte ich den fauligen Geruch des Todes in meiner Nase spüren, als eine endgültige Finsternis ausbrach. Meine Bemühungen hatten sich wahrhaftig ausgezahlt.
Die Dunkelheit hielt nicht lange an. Meine Umgebung schien sich verändert zu haben. Ich lag nicht mehr in der Badewanne, in dem vollkommen überschwemmten Bad. Ich lag in einem größeren Gefäß, noch immer umgeben mit der klaren Flüssigkeit. Die Schmerzen waren verfolgen, ich schien das Wasser zu atmen. Das erdrückende Gefühl von Enge breitete sich in mir aus, als meine Hände an den Wänden entlang tasteten. Glas über mir. Glas unter mir. Glas an den Seiten. Ich hatte freie Sicht auf meine Umwelt, auf einen weißen Raum ohne Mobiliar, in dem mein gläsernes Gefängnis platziert stand. Langsam umfasste ich mit den Armen meine Beine, versuchte mich an irgendetwas zu klammern um nicht vollends die Kontrolle zu verlieren. War das der Tod?
Ich glaubte an viele Dinge, allerdings nicht an Gott oder gar andere Götter, von denen Priester, Pastoren oder jegliche andere „Privilegierte" sprachen. Ich glaube auch nicht an das große Nichts. Aber so hatte ich mir das Ende des Lebens nicht vorgestellt. Gefangen in einem gläsernen Käfig, umgeben von Wasser. Gefangen für die Ewigkeit.
Krampfhaft hielt ich meine Augen geöffnet, versuchte durch den Schleier des Wassers irgendetwas zu erkennen. Das Weiß behielt seine matte Farbe bei, nichts veränderte sich mehr. Das konnte nicht alles gewesen sein. Ich ließ meine Beine wieder frei, bevor ich begann um mich zu schlagen. Das Wasser wirbelte um mich herum, als ich mit neuer Kraft gegen die Wände schlug. Keine Regungen. So gut es zugelassen wurde, begann ich zu schreien, redete in Worten, die selbst ich nicht genau verstand.
Bis meine schlagende Hand keinen Widerstand mehr spürte. Es war, als hätte jemand den Deckel des Behälters geöffnet und mich freigelassen.
Sofort streckte ich meinen Kopf aus dem Wasser, war leid es noch länger auf meiner Haut spüren zu müssen. Hustend und keuchend gewöhnte ich mich wieder an den Sauerstoff, der meine Lungen gänzlich ausfüllte. „Jimin." Eine Stimme lies mich nach links in dem von oben bis unten gefliesten Raum blicken. Das konnte nicht wahr sein. Mit einem einzigen Sprung war ich aus dem Behälter hinaus, rutschte fast auf dem glatten Boden aus, als meine Füße auf diesen trafen. „Wieso kannst du mich nicht in Ruhe lassen?!",rief ich aufgebracht, rannte in die Richtung des in weiß gekleideten jungen Mannes. „Wieso?!" Niemand hatte mir erzählt, das es möglich war im Tode zu weinen und doch tat ich es. Heiße Tränen liefen meine Wangen hinab, als ich die bekannte Person grob an den Schultern packte und gegen die nächste Wand schubste. Er wehrte sich nicht, umklammerte hilflos meine Ellbogen.
„Jin, warum?"
„Jimin." Er weinte, genau wie ich. Die Bahnen seiner Tränen liefen am Kinn zusammen und tropften auf das weiße Hemd, wo sie durchsichtige Flecken hinterließen. „Warum hast du das getan! Jimin, das war so dumm." Schluchzend zog er mich näher an seinen Körper heran. Die Nässe von meiner Kleidung übertrug sich auf seine, die Kälte kroch unter meine Haut und ein Schauer wanderte über meinen Rücken. „Ich..." Ich empfand das plötzliche Bedürfnis mich für meine Tat rechtfertigen zu müssen. Er war doch hier der Schuldige, nicht ich. „Jimin! Hör auf damit!" Jin tat einen tiefen Atemzug, bevor er seine Stimme etwas senkte und weitersprach. „Du hast die Chance zu Leben Jimin und dann wirfst du sie einfach weg!" Er führte eine seiner Hände zu meiner und hob sie an, knickte meinen Arm und legte sie sanft an meinen Hals. „Fühlst du das? Du lebst Jimin, du lebst!" Unter meinen tauben Fingern spürte ich ein regelmäßiges, beruhigendes Schlagen. Mein Puls war langsam, doch er war vorhanden. Ich war nicht tot. Ich lebte.
Meine andere Hand fand ihren Weg an Jins Hals. Er lies es geschehen, wartete stumm auf eine Reaktion. „Du lebst auch.",hauchte ich, als ich das bekannte Pochen unter seiner eisigen Haut spürte. „Ich lebe, ja. Allerdings nicht mehr lange. Merkst du wie schwach es ist?" Ich nickte. „Wo sind wir hier, wenn das nicht der Tod ist?" Erneut blickte ich mich um. Spürte in meiner Brust eine unbekannte Wärme aufsteigen. „Das ist nicht wichtig. Ich habe dich hergeholt, als du endgültig aufgegeben hast, das allein zählt." Mein Herz schlug. Jin hatte mich gerettet. „Ich wollte dich vergessen." Mit aller Kraft warf ich mich in seine Arme. „Wie konnte ich nur."
„Was tun wir jetzt?" Mit einer kontrollierten Bewegung lies ich mich an der Wand hinunter gleiten, setzte mich auf den Boden. Jin tat es mir gleich und lehnte seinen Kopf gegen die Wand in unserem Rücken. Gespiegelte Schlieren des Wasser funkelten an den Wänden, ließen den Raum trotz des kalten Weiß, lebendig wirken. „Warten. Du hattest Glück Jimin." „Was meinst du?",fragte ich etwas kleinlaut, meine Stimme war nur ein leises Flüstern. „Sie haben dich gerettet. Hoseok wollte etwas von Zuhause haben. Nari und Namjoon kamen gerade noch rechtzeitig an, um dich dem Tod zu entreißen. Du liegt gerade im Rettungswagen." Ungläubig schaute ich ihm in die sternenklaren Augen. „Woher weißt du das?" „Die Zeit und ich, wir sind gute Freunde geworden." Müde legte ich meinen Kopf auf seiner Schulter ab, rückte ein Stück näher an ihn heran. „Hör auf in Rätseln zu reden." Ein leises Lachen verließ seine Lippen, als er einen Arm um mich legte und unsere Verbindung somit noch enger machte. Seine Stimme klang dicht an meinem Ohr: „Versprich mir, dass du das nie wieder tust." In wenigen Sekunden sprach ich die erhoffte Antwort. „Versprochen. Niemals wieder."
„Jin, verlass mich nicht. Verabschiede dich nicht von mir." Die braunen Haare meines Gegenübers wippten bei seinem Kopfschütteln auf und ab. „Wie gerne würde ich bei euch bleiben. Aber es geht nicht. Für jetzt, muss ich gehen." Meine Augen suchten nach seinen, fanden schließlich ihr Ziel. Ein silbernes Funkeln zog sich durch seine Pupillen, lies mich sofort ruhiger werden und nahm mir die Angst. „Es ist kein Abschied für die Ewigkeit. Irgendwann werden wir uns wieder sehen." „Und bis dahin werde ich mein Leben nutzen.",vollendete ich Jins Satz, legte mich ein letztes Mal in seine Arme. „Das hast du schön gesagt. Aber tu es auch. Ich möchte dich kein einziges Mal mehr so sehen müssen." Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter, in dem Wissen, dass es lange dauern würde, bis ich wieder die Möglichkeit dazu hatte. „Was soll ich tun, wenn ich den Glauben erneut verliere?" Behutsam strich er mit seinen Händen über meinen Rücken. „Dann ruf nach mir. Vielleicht bin ich gar nicht so weit weg wie du glaubst." „Du bleibst bei uns, oder?" Ich kam mir vor wie ein unwissendes Kind. „Ja." Und dieses Wort erfüllte mein Herz mit Freude. Ein Gefühl, was schon so lange nicht mehr den Weg in mein Innerstes gefunden hatte. Trauer, Verlust und all diese Dinge schienen vergessen, die Hoffnung nahm das entstandene Loch ein, setzte sich in mein schlagendes Herz und verteilte sich warm in meinem Blut. Zaghaft löste ich die Umarmung, schaute ein letztes Mal in seine silberfarbenen Augen. Diese Farbe weckte Erinnerungen in mir, ließ mich an die Kette denken, die ich verletzt auf dem Boden des Badezimmers liegen gelassen hatte. Ob ich sie wieder bekommen würde? „Ich muss jetzt wirklich gehen, Jimin. Die Anderen erwarten dich schon." Finsternis legte sich auf mich, verschluckte die gesamte Umgebung. Ein wenig Panik machte sich in mir breit, als ich sie wieder erkannte. Ich wollte diese Schwärze nicht mehr, ich wollte Licht. Ich wollte Leben.
„Jimin? Bist du wach?" Murrend drehte ich mich auf die andere Seite, starrte nun an die weiße Wand. Ein leichter Schmerz zuckte dabei durch meinen Oberkörper und erinnerte mich an meine Tat, aber auch an Jins gespendete Worte. Ich spürte eine Hand an meiner Schulter. Wer kam den jetzt ins Krankenhaus um mich zu besuchen? Die Anderen waren vorhin schon da gewesen. „Komm schon Jimin. Du kannst deinen Zimmernachbarn doch nicht einfach ignorieren. Ich weiß wie du aussiehst, wenn du versuchst dich schlafend zu stellen." Das Lachen hätte ich unter tausenden erkannt. „Hoseok?" Ein wenig zu schnell für meinen geschundenen Körper wendete ich mich erneut, verzog dabei das Gesicht. Meine Augen konnten nicht glauben was sie sahen. Er stand vor mir, grinste mich fröhlich an. Das hereinschneiende Licht, lies seinen ganzen Körper lebendiger wirken, als er es schon war. Seine schwarzen Haare glänzten, vervollständigten dieses Bild und seine braunen Augen leuchteten voller Leben. Ich hatte den Krankenschwestern verboten die Vorhänge zu schließen, ich wollte die Dunkelheit nicht mehr, genauso wenig wie ich die Stille um mich herum haben wollte. Einige Freudentränen bildeten sich in meinen Augenwinkeln. „Wie...? Was...?" Ich rang nach Worten. „Sie haben mir endlich Auslauf gegeben. Bin fast schon wieder fit. Ein paar Tage noch, dann kann ich wieder nach Hause." Langsam richtete ich mich auf, achtete dabei sorgsam auf die Kabel, welche mit meinem Oberkörper verbunden waren. „Du glaubst gar nicht wie schön es ist, dich wieder zu sehen!" Ich breitete meine Arme aus, lud ihn ein zu mir zukommen. Dieses Angebot schlug er nicht aus, legte sich vorsichtig hinein. „Was machst du nur für Sachen.",murmelte er an mein Ohr, drückte mich ein klein wenig fester, was meine Rippen abermals schmerzen lies. „Und dann konnte ich nicht mal dabei sein, als du aufgewacht bist." Mit meinem rechten Bein gab ich ihm einen leichten Schubs, weshalb er lachend zur Seite rollte und neben mich auf das Bett fiel. „Du warst auch nicht besser. Mit Drogen auf der Straße. Jedes Auto hätte dich mitnehmen können." Sein Gesicht wurde ein wenig ernster, das Lächeln verflog. „Aber du. Wären Nari und Namjoon nur ein paar Minuten später gekommen..." Er wagte nicht es auszusprechen. Ja, dann wäre ich jetzt nicht mehr hier. Dann wäre ich noch war Jin von dieser Welt gegangen. „Wie hätten wir ohne dich und Jin weiter machen sollen? Einen Member zu verlieren ist schlimm genug." Verwundert blickte ich ihn an. Diese Art wie er über Jin sprach, hatte ich bisher von keinem unserer Freunde gehört. Ich erkannte keine Tränen in seinen Augen, was mich ebenfalls überraschte. Sollte ich ihn fragen? „Hoseok?" Schüchtern zog ich mir die Ärmel des weißen Krankenhaushemdes über die Hände und blickte starr auf das Bett. „War Jin bei dir?" Er erwiderte meinen nachdenklichen Gesichtsausdruck, bis er schließlich nickte. „Ja, die ganze Zeit, bis ich aufgewacht bin." Ich würde es ihm nicht glauben, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte. „Er war auch bei mir.",begann ich zu erzählen. „Er hat geweint. Er sagte, dass er mich nicht so sehen wolle." Jetzt spiegelte Hoseoks Mimik die gleiche Überraschung wieder, wie meine es vor wenigen Sekunden getan hatte. „Hast du ihn verstanden?" Ich nickte. „Ja. Er will das wir weitermachen und unser Leben leben. Nichts sollte uns daran hindern." Ein Lächeln bildete sich erneut auf den Lippen meines Freundes „Und er wird bei uns sein. Für immer, bis wir ihn irgendwann wiedersehen werden." Ruckartig lies ich mich nach hinten fallen, wurde von der weichen Matratze aufgefangen. „Ich war so dumm Hoseok. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich hätte niemals versuchen sollen mein Leben zu beenden." „Es ist gut, dass du das einsiehst. Es wird alles gut werden, Jimin." Sanft zog er meinen Kopf zu sich, legte ihn auf seinen Oberschenkeln ab. „Wir werden so etwas nie wieder tun. Versprochen?" Sein letztes Wort ähnelte Jins so sehr, dass ich lächeln musste. „Ja. Nie wieder."
„Jimin, ich wollte dir noch etwas geben." Beinah hätte ich auf seinen Beinen erneut den Schlaf gefunden, ich fühlte mich so geborgen in seiner Nähe, welche die Stille für mich vertrieb. „Mhh?",murmelte ich verschlafen, richtete mich ein wenig auf, damit ich ihn ansehen konnte. „Jungkook hat das hier im Bad gefunden." Hoseok griff in seine Hosentasche und zog einen äußerst interessanten Gegenstand hervor. „Er wollte unbedingt, dass du ihn wieder bekommst. Deshalb hat er sie extra zu einem Juwelier gebracht und reparieren lassen." Ein kleiner, besonderer Anhänger schimmerte im Sonnenlicht. „Aber er wollte, dass ich sie dir gebe." Das Kreuz war nun nicht mehr allein. Neben ihm baumelte eine kleine, ebenfalls silberfarbene Schleife, die kein Ende zu finden schien. Ein Zeichen für die Unendlichkeit. „Ich meinte, er solle es selbst tun. Immerhin war das alles seine Idee, aber er bestand darauf." Wie ein kleines Kind, streckte ich meine Finger nach der Kette aus, stupste sie vorsichtig an. „Danke.",hauchte ich, als Hoseok sie in meine Hand fallen lies. „Bedanke dich nicht bei mir. Sag es beim nächsten Mal Kookie." Ich nickte, während eine kleine Freudenträne meine Wange hinab lief und auf der schwarzen Hose meines Freundes landete. Jungkook würde wohl nicht verstehen, wie viel mir dieses große Geschenk jetzt bedeutete.
---Nari---
„Hier." Namjoon reichte mir das randvoll gefüllte Glas mit Wasser. Einige Sekunden hielt ich es in einer Hand und streckte es soweit wie möglich von meinem Körper weg, als wäre es ein Monster mit scharfkantigen Zähnen. Ein Tropfen lief am Rand hinab, legte sich auf meine Haut. Eine sanfte Berührung, die wie Feuer brannte. Panisch lies ich das gesamte Glas fallen, welches klirrend am Boden zerschellte und wischte mir den kleinen, unschuldigen Tropfen mit zitternden Bewegungen von meinem Handrücken. Mein Bruder beobachtete mich dabei, lies zu, dass sich das gesamte Nass über seine Füße ergoss und legte schließlich wortlos seine Arme um mich. „Das ist jetzt schon das dritte Glas gewesen.",hauchte er dabei, drückte mich fest an seine Brust, um mir mit seiner Nähe etwas Trost zu spenden. „Ich weiß auch nicht.",schluchzte ich an seine Schulter, trat gegen eine der Scherben und lies sie somit über den Untergrund rutschen. „Ich kann Wasser nicht mehr sehen." „Verständlich.",murmelte er, löste sich behutsam von mir und schob mich näher an das Krankenbett. „Lass dir ruhig Zeit, wenn du sie brauchst." Mit diesen Worten ergriff er meine bebende Hand und legte sie vorsichtig auf Jins. Sofort ergriff ich diese, verknotete unsere Finger miteinander. So fest, wie es mir möglich war. „Du musst dich nicht zwingen." Lächelnd folgte er meiner Reaktion, machte einige Schritte rückwärts und lies mich allein an dem Bett zurück. Plötzlich durchzuckte mich die Einsamkeit, mischte sich mit Gewalt unter die Gedanken der Hoffnung. Angst kam in mir auf, ich könnte Jins Hand mit meinem Griff zerbrechen, wie das Glas es bei seinem Aufprall getan hatte. Er konnte sich nicht wehren, konnte mir nicht sagen ob er Schmerzen hatte. Sein Körper war wie eine blasse, weiße Porzellanpuppe. Zerbrechlich und hilflos. Seine geschlossenen Augen vertieften dieses Bild. Meine Finger lockerten sich etwas, gaben ihn wieder frei. „Du hast seit heute Morgen nichts mehr getrunken." In der Stimme meines Bruder spürte man Besorgnis. Er wollte mich schützen, doch konnte nicht verhindern, dass ich immer tiefer rutschte. „Hat es dir nicht weh getan, Jimin so zu sehen?" „Als du gesagt hast, er würde nicht mehr atmen, da ist auch etwas in mir zerbrochen." Erstaunt wendete ich ihm meinen Blick zu. Er stand am Fenster, schaute auf die Straßen und Menschen hinab. „Ich wusste nicht, dass es ihm derart schlecht ging." Ich wollte nichts mehr erwidern, ich war zu müde um auch nur ein Wort sprechen zu lassen. Stumm blickten wir uns an, wussten auch so was der andere dachte.
„Lass uns zu Jimin gehen, es wird nicht mehr lange dauern bis er aufwacht." Als Bestätigung erhob ich mich von meinem gewohnten Platz, ließ Jins Hand zurück auf das Bett gleiten. Die Scherben knirschten unter meine Fußsohlen.
„Mach es gut, Prinzessin."
„Glaub mir Nari, ich versuche es."
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An dieser Stelle möchte ich mich für einen kurzen Moment zwischen schalten. Das Kapitel war lang und schwierig, ich weiß und dann kam es auch noch am Totensonntag. Denkt darüber nach, lasst es euch auf der Zunge zergehen. Vielleicht findet ihr dann auch das Schöne in ihr, hinter der ganzen schrecklichen Fassade.
Mit ganz lieben Grüßen,
Sunny
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