Good life


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Der Ball fliegt direkt auf ihn zu, eine fast perfekte Annahme seines Mitspielers. Er hebt seine Arme, der Ball liegt perfekt in seinen Fingern, ein Grinsen legt sich auf sein Gesicht. Schon im nächsten Moment ist die Berührung vorüber und der Ball fliegt blitzschnell nach hinten. Der perfekte Schnellangriff.

Er dreht sich um, will den Angriff nicht verpassen, in derselben Sekunde schlägt der Ball auf seiner Seite des Netzes auf dem Boden auf. Hinter ihm steht niemand.
„Er verhält sich wieder wie der König des Spielfeldes!", kann er von der Seite hören.
„Mit dem spiele ich nicht mehr!", sagt einer so laut, dass er es hören kann.
„Wir wollen nicht mehr mit dem Spielen!" und „Er erwartet viel zu viel!", tönt es von der Bank.
„Solche Bälle kann doch niemand spielen!"
„Seine Erwartungen sind einfach unmenschlich!"
„Ein richtig tyrannischer König!"


Schweißgebadet wacht Kageyama auf, sein Atem geht schnell, eine Träne löst sich aus seinem Augenwinkel, weitere folgen. Diese Erinnerungen kommen immer wieder, manchmal tagsüber, manchmal im Traum, er wird sie niemals los. Der Schmerz sitzt tief.

Nach dem Spiel damals hatte er nicht verstanden, was seine Mitspieler für ein Problem hatten. Die Erwachsenen hatten seine Leistung immer in den Himmel gelobt, doch mit jedem Lob hassten die anderen ihn mehr. Eines Tages erklärte sein Trainer ihm, dass er zu gut für seine Mitspieler war und, dass er lernen müsse, sich an die Mannschaft anzupassen. Doch Kageyama sah nicht ein, warum er seine eigene Leistung herabschrauben sollte, sollten die anderen doch versuchen, mit ihm mitzuhalten. Er wollte doch nur Volleyball spielen, was konnte er denn dafür, dass er so viel besser als alle anderen war?

Es dauert lange, bis Kageyama es schafft, sich wieder zu beruhigen. Es sind nur Erinnerungen, mehr nicht. Jetzt ist alles anders, auch wenn sein Start an der Oberschule etwas holprig gewesen war. Er war so froh gewesen, endlich auf die Oberschule zu kommen, die Chance zu bekommen, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Klar, Karasuno war sportlich betrachtet nicht seine erste Wahl gewesen, aber seine schulischen Leistungen reichten nun mal nicht für eine der Elite Schulen. Doch das war in Ordnung für ihn, solange er Volleyball spielen konnte. Solange er den Ball zwischen seinen Finger fühlen konnte, das typische Quietschen von Sportschuhen auf Hallenboden in seinen Ohren erklang und er Zuspieler sein konnte, so lange war ihm die Schule, auf die er ging, egal. Er wollte einfach nur Volleyball spielen.

Doch dann traf er am ersten Tag auf den orangehaarigen Jungen, an den er sich noch so gut erinnern konnte. Er hatte beim Turnier hervorragende Reflexe gezeigt, war enorm hochgesprungen und das in einer unmenschlichen Geschwindigkeit. Und dennoch: „Du hast beschissen gespielt!", rutschte es Kageyama heraus und begann damit einen Streit, der unvermeidlich war. Der Zuspieler konnte sich nicht erklären, was dieser Knirps beim Volleyballclub wollte. Er war schlecht, er war so furchtbar schlecht. Das machte Kageyama wütend.

Doch um in den Volleyballclub zu kommen, hatte Daichi ihm keine andere Wahl gelassen. Er musste sich auf Hinata einlassen, ob er es gewollt hatte oder nicht. Und niemals hätte Kageyama damals gedacht, dass ausgerechnet dieser untalentierte orangehaarige Knirps seine Rettung sein würde.

Hinata weckte in Kageyama den permanenten Drang besser zu sein und so wurden sie Rivalen, in allem, was sie taten. Aber gleichzeitig zeigte Hinata ihm, was es bedeutete, wenn jemand bedingungslos zu ihm hielt. Kageyama war so oft so unausstehlich zu dem Orangehaarigen gewesen. Etwas, das ihm mittlerweile klar geworden war und trotzdem, trotzdem war Hinata immer an seiner Seite geblieben und sie sind Freunde geworden.
Mehr noch, Hinata versteht ihn irgendwie und sorgt seit Beginn an dafür, dass auch die anderen im Team ihn so akzeptieren wie er ist.

Endlich übermannt der Schlaf Kageyama noch einmal, doch als er spät am Vormittag wieder aufwacht, sind die Erinnerungen der vergangenen Nacht noch da. Normalerweise würde er versuchen, sich die Gefühle in der Sporthalle von der Seele zu spielen, doch es ist Weihnachten, was bedeutet, die Schule und somit auch der Volleyballclub würden noch ein paar weitere Tage warten müssen. Die Weihnachtsferien mag Kageyama am wenigsten, denn dies ist die einzige Zeit des Jahres, in dem die Sporthalle wirklich für eine unerträglich lange Zeit geschlossen ist. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als in seine Laufschuhe zu schlüpfen und loszulaufen.

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Später am Tag kommt Kageyama frisch geduscht die Treppe herunter. Seine Eltern sind bereits dabei, sich Jacke und Schuhe anzuziehen und zu ihrer alljährlichen Weihnachtsfeier mit Freunden aufzubrechen. Früher war Kageyama immer mitgegangen, dann fing er an allein zu Hause zu bleiben.
„Willst du wirklich nicht mitkommen?", fragt seine Mutter noch einmal.
Kageyama schüttelt den Kopf. „Ich bin später mit Freunden verabredet."
„Oh!", entgegnet seine Mutter überrascht und lächelt freudig. Das Wort „Freunde" hatte sie Kageyama noch nie nutzen hören. Sein Vater lächelt ebenfalls, drückt Kageyama noch etwas Geld in die Hand und wünscht ihm viel Spaß. Dann verlassen seine Eltern das Haus und Kageyama bleibt allein zurück.

Irritiert starrt er auf das Geld in seiner Hand hinab. Sein Vater hatte ihm, abgesehen von seinem Taschengeld, noch nie einfach so Geld in die Hand gedrückt. Ist es denn wirklich so besonders, dass er sich zu Weihnachten mit seinen Teamkameraden trifft? Es sind doch nur die Menschen, die er eh fast jeden Tag sieht. Nachdenklich steckt Kageyama das Geld in seine Hosentasche, geht in die Küche und isst noch eine Kleinigkeit.

Am frühen Abend ist Kageyama der erste am Treffpunkt, Hinata kommt kurz danach.
„Ich war eher als du da!" ruft Kageyama triumphierend woraufhin der Orangehaarige einen Schmollmund zieht. „Ich musste erst noch mit meiner Schwester spielen und konnte nicht früher los!", verteidigt er sich.

Sie warten noch auf Sugawara, Daichi, Tanaka und Nishinoya, alle anderen kommen erst später dazu, wenn sie in der Karaokebar sind, sogar Tsukishima. Doch erst läuft die Gruppe über den Weihnachtsmarkt und nachdem sie von den vielen süßen Leckereien gekostet haben, wagen sie sich auf die Eisbahn. Kageyama war noch nie Schlittschuhlaufen, trotzdem setzt er sorglos erst den einen und dann den anderen Fuß aufs Eis. Der erste Schritt ist etwas wackelig, doch mit jedem Weiteren wird er sicherer auf den Beinen und schon in der zweiten Runde gleitet Kageyama über das Eis, als hätte er nie etwas anderes gemacht.

„Wow Kageyama!", ruft Sugawara begeistert. „Du warst wohl schon öfter auf der Eisbahn!"
Kageyama schüttelt den Kopf. „Nein, noch nie."
„Ein Naturtalent", sagt Daichi frustriert, der etwas unbeholfen neben Sugawara herfährt. „Was auch sonst?"
„Hm?" fragt Kageyama verwirrt, doch bevor er eine Antwort erhalten kann, kommt Hinata mit wackeligen Beinen auf ihn zu.
„Kageyama, guck mal!", ruft der Orangehaarige euphorisch und fuchtelt wild mit seinen Armen herum, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. „Ich kann Schlittschuhlaufen!"
Der Zuspieler hätte es wohl nicht als „Schlittschuhlaufen" bezeichnet, was Hinata dort fabriziert und genau das will er auch gerade sagen, als Hinata ins Stolpern gerät, sich an Kageyama festkrallt und ihn mit zu Boden reißt.

„IDIOT!", ruft Kageyama laut und schiebt Hinata von sich runter. „Idiot, Idiot, Idiot!", wiederholt er immer wieder und funkelt den Orangehaarigen böse an.
„'tschuldige...", murmelt Hinata leise, schiebt sich in eine aufrechte Position auf seine Knie, legt eine Hand an seinen Hinterkopf und schenkt Kageyama ein schüchternes Lachen. Beim Anblick von Hinatas Gesicht, das breite Grinsen auf den Lippen und mit den von der kälte geröteten Wangen, wird Kageyama plötzlich ganz warm und er spürt, wie Hitze in seine Wangen aufsteigt. Schnell wendet der Zuspieler sich ab. „Pass doch besser auf," sagt er wütend zu Hinata und hievt sich wieder auf die Beine. „Wenn ich mich verletze, war's das mit dem Frühjahrsturnier!"

„Entschuldige," sagt Hinata erneut, als auch er wieder auf den Beinen ist und neben Kageyama steht und schaut ihn traurig an. „Ich habe nicht aufgepasst..."
„Vielleicht hat Kageyama recht", mischt Daichi sich ein, ehe die beiden anfangen können sich richtig zu streiten. „Wir sollten lieber wieder von der Eisbahn gehen und keine Verletzungen riskieren", fährt der Kapitän milde lächelnd fort. Sugawara stimmt ihm zu und fährt los, um Tanaka und Nishinoya einzusammeln. Wieder festen Boden unter den Füßen wechseln sie ihre Schuhe und machen sich auf den Weg zur Karaokebar.

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„Bist du noch sauer?" fragt Hinata vorsichtig, bleibt stehen, die Hände in den Jackentaschen und den Blick zum Himmel gerichtet. Kageyama und er befinden sich auf dem Rückweg vom Karaoke. Der Orangehaarige hat sein Fahrrad in der Nähe vom ursprünglichen Treffpunkt abgestellt und weil dies eh auf Kageyamas Heimweg liegt, hat er zugestimmt, ihn dorthin zu begleiten.

„Schon gut", brummt Kageyama, steckt seine Hände ebenfalls in seine Jackentaschen und schaut zu Hinata hinüber, der den Mond anstarrt.
„Da bin ich froh", erwidert Hinata leise, dreht sich zu Kageyama und lächelt. „Ich möchte niemals der Grund sein, dass du nicht Volleyball spielen kannst."

Abermals an diesem Abend läuft Kageyama bei dem Anblick von Hinatas Lächeln rot an. Glücklicherweise kann der Orangehaarige das im Dunkeln nicht sehen und so lenkt Kageyama das Thema für den Rest des gemeinsamen Weges einfach auf das Frühjahrsturnier, das bald beginnen würde. Über Volleyball können sie immer reden, denn auch wenn Hinata bei weitem nicht so gut wie Kageyama war, so teilen sie doch die gleiche brennende Leidenschaft für diesen Sport.

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Später im Bett starrt Kageyama lange an die Decke und denkt über Hinata nach. In letzter Zeit hatte er sich oft so merkwürdig in dessen Gegenwart gefühlt, merkwürdig gut. Auch an diesem Abend. Die Rivalität mit dem Orangehaarigen hatte schon lange seinen feindseligen Charakter verloren. Viel mehr war es etwas geworden, über das Kageyama sich freute. Er genießt die Herausforderung mit Hinata jedes Mal aufs Neue und Kageyama wird klar, dass jede gute Erinnerung, die er in seinem ersten Jahr der Oberschule gewonnen hat, mit Hinata zusammenhängt.

Kageyama hatte gedacht, er würde sich so gut fühlen, sein Leben als so gut wahrnehmen, weil er endlich frei Volleyball spielen konnte. Weil sein Talent akzeptiert wird und er eine Mannschaft gefunden hat, in der er sich entfalten kann. Doch dann schiebt sich ein anderer Gedanke in Kageyamas Bewusstsein: Er liebt Volleyball, er liebt es so sehr. Doch noch mehr liebt er Volleyball mit Hinata. Als Zuspieler ist es Kageyamas Aufgabe seine Angreifer zum Strahlen zu bringen, doch bei Hinata ist es anders. Hinata ist die Sonne auf dem Spielfeld, die Kageyama zum Strahlen bringt.

Und auf einmal ist Kageyama sich sicher, dank Hinata wird die Zukunft ein gutes Leben für ihn bereithalten. Selbst, wenn ihre Wege sich eines Tages trennen sollten. Selbst, wenn Kageyama manchmal das Gefühl haben wird, dass nichts mehr funktioniert. Selbst, wenn Kageyama die Erinnerungen von früher wieder einmal übermannen. Diese Zeit, hier und jetzt, macht sein Leben zu einem guten Leben und das kann ihm nie wieder jemand wegnehmen. Hinata ist die Sonne, die ihn allein durch diese Erinnerungen immer zum Strahlen bringen wird.

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