It girl

„Hope?" Frau Lessing schaut mich fragend an. „Es gibt kein Problem, wirklich nicht", antworte ich mit leicht zittriger Stimme. Mein Herz schlägt schneller, und ich verlagere mein Gleichgewicht auf das eine und dann das andere Bein, doch trotzdem habe ich das Gefühl, gleich im Erdboden zu versinken. Hilflos schaue ich mich nach meinen Klassenkameraden um, doch es sind nur wenige in Sicht.

„Hope, ich habe das Gefühl, dass du ständig im Mittelpunkt stehst. Seitdem wir unterwegs sind, wirkt es auf mich so, als ob du kein Drama auslassen würdest. Vorhin im Bus habe ich mitbekommen, wie du Tom beleidigt hast, indem du ihm gesagt hast, er solle den Mund halten, und jetzt die Auseinandersetzung mit Jan."

Meine Traurigkeit verschwindet langsam, sodass ich zunehmend wütend werde. Ich richte meinen Blick starr auf Frau Lessing und zeige ihr mein bestes Pokerface. Das hat mir Marie beigebracht, um mich bei meiner Unsicherheit stärker zu fühlen, und ich muss zugeben, dass es funktioniert.

„Natürlich, Frau Lessing, ich bin immer an allem schuld", fauche ich wütend. Frau Lessings Blick verändert sich prompt, da sie mich noch nie so sauer erlebt hat.

Frau Lessings Augen werden schmaler, und ihre Mundwinkel zucken vor Anspannung. Meine Geduld neigt sich dem Ende, sodass ich letztendlich die Fassung verliere.
„Wissen Sie was? Hätten Sie mich vorhin nicht ermahnt, wäre ich jetzt nicht so angepisst. Schließlich habe ich nichts getan." Meine Stimme wird lauter, ohne dass ich es will.

„Anscheinend haben wir zwei gerade ein Missverständnis, und wir können das gerne klären, wenn wir an der Ostsee sind. Ich finde erst mal, dass du dich beruhigen solltest, da du aufgebracht rüberkommst. Nachher können wir in Ruhe reden."

„Wie Sie wollen. Aber gehen Sie nicht davon aus, dass ich auf Sie zukomme", erwidere ich und gehe in die Tankstelle, um mir etwas zu essen zu kaufen. Ich höre, wie Frau Lessing meinen Namen ruft bevor ich in die Tankstelle verschwinde.

Ich spüre, wie angespannt meine Schultern und Arme sind, als ich versuche, eine Packung Gummibärchen aus dem Regal zu holen.
War ich vielleicht zu unfreundlich zu Frau Lessing gewesen? Sie wirkte überrascht, dass ich so streitsüchtig war, da ich ja sonst immer lieb zu ihr bin.
„Das macht dann 6 €, junge Dame." Ich schrecke auf, als der Verkäufer mit mir spricht.
„Könnten Sie das bitte wiederholen?" Genervt rollt er mit den Augen, doch er wiederholt, was er gerade gesagt hat. Während ich mein Portemonnaie aus der Hosentasche nehme, spüre ich, wie zittrig meine Hände noch von dem Gespräch sind. Ich reiche ihm einen Zehn-Euro-Schein, und er gibt mir das Wechselgeld. Brezel und Weingummi sind so absurd teuer in der Tanke. Bei Rewe wäre es deutlich günstiger. Ich stecke mein Portemonnaie wieder ein und gehe mit meinem Essen zu den anderen zurück.

Vielleicht hat Frau Lessing ja recht, und es wäre doch eine gute Idee, das Gespräch zu verschieben. Ich seufze auf und gehe wieder nach draußen. Die Schüler sind alle vor dem Bus versammelt, während Herr Dorn und Frau Lessing die Schüler zählen.

Es bildet sich ein Kloß in meinem Hals, als ich Frau Lessing erblicke. Habe ich überreagiert? Es war das erste Mal, dass ich ihr widersprochen habe. Am Anfang hat es sich noch gut angefühlt ihr zu widersprechen, aber jetzt fühle ich mich langsam unwohl in der Situation. Irgendwie hat diese Frau es geschafft, dass ich mich ihr gegenüber schuldig fühle. Ich schiebe diesen Gedanken beiseite und gehe zu meiner Freundin Marie, um rechtzeitig einen Platz neben ihr zu ergattern. Meine Sachen liegen zwar noch neben ihr, aber die kann ich ja später holen, wenn wir bei der Jugendherberge angekommen sind.

Unter meinem Sitz neben Marie spüre ich, wie sich die Räder vom Bus in Bewegung setzen.
„Ist alles okay mit dir?", fragt mich Marie, während ich noch ganz in Gedanken bei Frau Lessing bin. Ich schiele zu ihr rüber, denn ich sehe in der Ferne, wie sie mit Herrn Dorn diskutiert. Während sie redet, bewegt sie aufgeregt ihre Hände in alle Richtungen, doch leider verstehe ich kein einziges Wort, da der Motor bereits angeschmissen wurde und das Gespräch der anderen Schüler alles übertönt.

„Erde an Hope?" Marie boxt mich freundschaftlich in die Seite, sodass ich zusammenzucke.
„Tut mir leid, ich war nur in Gedanken..."
„Bestimmt denkst du gerade an Jan Orion, oder?" Grinsend schaut Marie mich an, und ihre blauen Augen leuchten erwartungsvoll.
„Nein, das stimmt nicht. Ich denke gerade an Frau Lessing."

Ihr Grinsen wird noch breiter. Wahrscheinlich denkt sie an etwas völlig Abartiges.
„Hast du dich jetzt umentschieden?" witzelt sie, und ich trete ihr gegen das linke Schienbein.
„Du liegst wieder falsch. Mein Herz gehört bereits Jan. Und Frau Lessing ist definitiv zu alt für mich."
„Dann nehme ich sie, wenn sie noch frei ist. Was denkst du, findet sie mich attraktiv?" fragt Marie mich hoffnungsvoll, und ich habe Angst, dass sie ihre Frage ernst meint.
„Nein, Pascal, ich denke nicht", erwidere ich, und Marie lacht. Doch nun wird sie wieder ernst.

„Was ist los mit dir, Hope? Seitdem wir unterwegs sind, schweigst du nur und schaust die ganze Zeit zu Frau Lessing und Herrn Dorn rüber. Kein Wunder, dass man denken könnte, dass du lieber Frau Lessing haben möchtest als Jan." Jetzt bin ich es, die Marie mit voller Kraft in die Seite boxt. Marie stöhnt leicht auf und reibt sich den Arm. „Ich hab nicht so doll zugeschlagen wie du." Amüsiert greift sie nach meinen Gummibärchen und öffnet sie.

„Weißt du, Marie, vorhin, als ich neben Frau Lessing saß, kam es zwischen uns zu einer Auseinandersetzung." Ungläubig werden Maries Augen etwas größer.

„Ich glaub's ja nicht, Hope. Das hätte ich nie von dir gedacht. Wenn du so weitermachst, wirst du ja noch zum It-Girl." Sie holt ihr Handy heraus und scrollt durch ihre ganzen Apps, bis sie schließlich TikTok öffnet. „Das müssen wir meinen Followern berichten." Begeistert klatscht sie in die Hände, und ihre Augen leuchten voller Vorfreude.

„Marie, ich glaube nicht, dass der Inhalt viral gehen würde."
„Ach, komm schon, Hope. Das wird dich aufmuntern, du liebst es doch, mit mir Videos zu drehen."
Ja, aber nicht, wenn es schlechte Auswirkungen auf mich hat.
„Wenn du meinst." Hoffentlich war das kein Fehler, aber ich muss ja nicht alles preisgeben, oder?
Amüsiert beobachte ich sie, wie sie ihre Haare kurz zurechtmacht, bevor sie den Startknopf drückt.

„Hallo, meine Follower. Ich bin gerade unterwegs auf Klassenreise und sitze neben meiner besten Freundin Hope Thornfield. Sie hat mir berichtet, dass sie sich unserer Lehrerin zum ersten Mal widersetzt hat. Das hätte ich nie im Leben von ihr gedacht, da sie sich immer an die Regeln hält. Mehr als ich übrigens. Sag mal, Hope, wie fühlst du dich nach diesem unglaublichen Ereignis?" Marie gibt mir ein Zeichen zum Reden, anscheinend werde ich jetzt gefilmt.

„Wie es mir dabei geht, erfahrt ihr, nachdem das Video über tausend pinke Herzen bekommen hat. Also macht fleißig das Herz pink", sage ich gezwungen, da ich sie nicht enttäuschen möchte. Doch nachdem der Satz gefallen ist, fühle ich mich zunehmend unwohler. Marie beendet das Video, und bevor sie es postet, fügt sie noch einige Hashtags hinzu.

„Hope, warum hast du nicht detailliert über die Auseinandersetzung mit Frau Lessing berichtet? Damit wäre das Video unterhaltsamer."

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