2. Anonym oder Bekannt
Zwei Stunden später stand Kylie in einer Sackgasse einen Block vor dem Pelham Bay Park. Der schwarze Mercedes Viano, den ihr Vater ihr zur Verfügung gestellt hatte,stand quer vor der Einfahrt der Gasse, sodass – sollte sich doch mal ein Passant in diese einsame Gegend verirren – sie Sichtschutz hatten. Kylie hatte ihre Hände in den Taschen ihres langen Mantels versteckt. Es war Ende Oktober und der Winter kam langsam in die Stadt. Ihre Hand klammerte sich um die kühle Klinge des Messer, dass sie immer in ihrer linken Tasche bei sich trug. Es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Sie wusste, auf welche Weise sie die Klinge berühren konnte, ohne sich die Hand daran aufzuschlitzen.
Das Messer hatte sie zu ihrem 10.Geburtstag von ihrem Vater erhalten. Auch wenn er nie viel davon gehalten hatte, sie schon im Kindesalter auszubilden, konnte er es hin und wieder nicht unterlassen, ihr Waffen zu schenken. Damals war es die erste Waffe gewesen, die sie je in der Hand gehabt hatte. Es waren auch nur wenige Sekunden, die sie das Messer halten durfte,bevor ihr Vater ihr die Klinge aus der Hand nahm und in seinem Büro einsperrte. Erst mit Vierzehn zeigte ihr Vater ihr, wie sie das Messer zu werfen hatte und übergab es ihr nach zahlreichen Trainingseinheiten endgültig.
Am Ende der Gasse stand eine Gestalt;sie trug schwarze Springerstiefel, eine Hose im Camouflagemuster und einen schwarzen Hoodie. „Kennst du ihn?", fragte Marya sie zu ihrer Rechten. Marya war eine Freundin aus Kindheitstagen. Sie war die Tochter eines guten Freundes ihres Vaters und deshalb Seite an Seite mit Kylie aufgewachsen. Seit sie Erwachsen waren, zogen sie gemeinsam durch die Straße und sicherten die Kreise des goldenen Barons. Die Person kam ein paar Schritte auf sie zu, blieb jedoch in einiger Entfernung vor ihnen stehen. Die Kapuze hatte sie so weit ins Gesicht gezogen, sodass Kylie nicht erkennen konnte, welcher Informant vor ihr stand. Kylie schüttelte den Kopf. „Nimm die Kapuze ab", befahl sie. Sie spürte, wie sich Marya zu ihrer Rechten und Bolle zu ihrer Linken aufbauten, als die vermummte Gestalt vor ihnen die Hände in die Luft hob. „Ich habe Informationen", sagte die Person und Kylie erkannte an der sanften Stimme, dass es sich entgegen ihrer Vermutung um eine Frau handelte,die da vor ihr stand.
„Du kannst uns erzählen, was du weißt, wenn du uns dein Gesicht gezeigt hast. Der goldene Baron spricht nicht mit Anonymen." „Soweit ich weiß, bist du nicht der goldene Baron, sondern lediglich seine hochnäsige Tochter",erwiderte die Frau. Aber sie schien sich umentschieden zu haben, denn sie nahm die Hände an die Kapuze und zog sie schwungvoll zurück.Eine Welle blonder Haare fiel über ihre Schultern und umrahmte ihr weißes Gesicht. „Wie ich heiße spielt keine Rolle", erklärte sie schulterzuckend. Im selben Moment griff sie unter ihren Hoodie. Bevor sie die Hand wieder hervorholte, umklammerte Kylie ihr Messer und schleuderte es aus ihrer Tasche heraus.
Als sich sich die Klinge in die Brust der Frau bohrte, schaute sie überrascht auf. Als sie Kylies Grinsen sah, erwiderte sie es mit einem noch breiteren, bevor sie ihre Hand unter dem Hoodie hervorholte und den Lauf einer Pistole auf Kylie richtete. Aus den Mundwinkeln der rothaarigen Frau lief ein langsamer Strom Blut und durch ihren Pullover sickerte ebenfalls Blut und hinterließ einen dunklen Fleck auf dem Stoff. Es musste sie höchste Anstrengung kosten, die Waffe in ihrer Hand gerade zu halten. Kylie konnte sehen,dass sie bereits zitterte. Ihr Gesicht schien nun noch weißer.„Kylie", knurrte Marya und wollte sie gerade zur Seite schieben,als neben ihnen ein Schuss ertönte. Die rothaarige Frau riss erneut ihre Augen auf, zwischen denen nun Blut hinunterlief, bevor sie zusammensackte. Die Kugel hatte sie zwischen die Augen getroffen.
Kylie und Bolle wirbelten herum, während Marya zur Frau rannte, um ihr die Waffen zu entwenden. Am Viano lehnte ein großgewachsener Mann, den Kylie nur zu gut kannte. „Lucas", quiekte sie überrascht auf und rannte auf den jungen Mann zu, der sich in diesem Moment vom Viano abdrückte. Kylie sprang ihm in die Arme; der braunhaarige Mann nutzte den Schwung und wirbelte sie einmal um 360°Grad herum. „Was machst du für Sachen, Madame?", tadelte Lucas sie, nachdem er sie abgesetzt hatte und nun wie wild mit dem erhobenen Zeigefinger vor ihr herumfuchtelte, als sei sie ein Kleinkind. „Dir ist bewusst, dass ich dir gerade das Leben gerettet habe?" Als Antwort rollte Kylie mit ihren Augen, dann schlang sie ihre Arme um die schmalen Hüften des jungen Mannes, der nach Zigarettenrauch und Blut roch. „Du riechst", stellte sie niedergeschlagen fest. „Ich habe länger nicht geduscht",erklärte Lucas schulterzuckend. „Dafür sitzen deine Haare aber ziemlich gut", mischte Marya sich ein, die sich den beiden genähert und das Gespräch verfolgt hatte. „Das ist der Dreck", erwiderte Lucas, während sich ein Grinsen auf seinen Lippen breit machte. „Hi, Marya. Schön, dich zu sehen." „Es freut mich auch, dass du wieder lebendig hier auftauchst, nachdem du einfach so für deine Mission abgetaucht bist", entgegnete Marya giftig. Lucas und Marya mochten sich nicht sonderlich, aber sie kamen miteinander klar. Kylie wusste, dass die beiden sich ihretwillen bemühten, freundlich zueinander zu sein. „Dann sollten wir nach Hause fahren, damit du duschen kannst", fing Kylie das frühere Gesprächsthema wieder auf.
Bolle hatte sich bereits hinter dem Lenkrad des Vianos positioniert. Er war einer der Bodyguards ihres Vaters. Zu Treffen mit Informanten oder Gesprächen mit Kunden begleitete er ihn stets. Jetzt, wo Kylie begann, einige Aufgaben ihres Vaters zu übernehmen, hatte er ihr Bolle zur Seite gestellt. Bolle war ziemlich groß; er überragte selbst Lucas um einen Kopf und hatte mindestens das doppelte an Breite. Kylie fragte sich, ob der Mann jemals in einen Kampf geraten war und diesen nicht gewonnen hatte.
Sie ging zur Beifahrertür hinüber und verschwand kurz im Auto. Einige Sekunden später stand sie mit einer Sprühflasche vor Lucas und Maja. „Graffiti?", stutzte Marya. „Bist du nicht inzwischen alt genug, Kylie?", fragte Lucas zweifelnd als Kylie sich wenige Meter von der Leiche entfernt daran machte, die Mauer zu besprühen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Kylie zurücktrat und ihr Werk mit Genugtuung betrachtete. Ein dickes K prangte in einem goldenen Kreis auf den Backsteinen. „Dein Vater wird dich umbringen", klärte Marya sie auf, als wäre Kylie das nicht bewusst. Aber es war ihr bewusst.
Die Gang, die ihr Vater leitete, war keinesfalls ein Lausbubenverein, der mit Farbe herum sprühte. Sie respektierte das normalerweise. Trotzdem verspürte Kylie hin und wieder den Drang, sich gegen die klaren Vorschriften bei einem solchen Zwischenfall wie diesem zu wenden.
„Wer war die Frau?", fragte Lucas schließlich als sie hinten im Viano Platz genommen hatten. Marya saß vorne neben Bolle und unterhielt sich leise mit ihm. Kylie hingegen hatte keine Lust, sich großartig mit Lucas zu unterhalten. Sie wollte nach Hause und ihn richtig begrüßen. „Ich weiß es nicht. Sie wollte uns ihren Namen nicht verraten", erklärte sie dennoch, „wie hast du mich überhaupt gefunden?" „Du weißt doch,dass ich überall meine Ohren habe", lachte Lucas und zog sie zu sich. „Ich hoffe, ich kann mir trotz Gestank einen Kuss von dir klauen." Kylie nickte eifrig, aber Lucas hatte gar nicht vorgehabt, ihre Antwort abzuwarten. Stattdessen vergrub er seine Hände in ihren Haaren und presste seine Lippen auf ihre. Kylie nahm nur aus den Augenwinkeln wahr, wie die schwarze Scheibe zwischen Fahrer und Rücksitzbänken hochfuhr und sie beide vor Bolles und Maryas Augen schützte. Lucas musste den Knopf neben sich betätigt haben, ohne dafür von Kylie abgelassen zu haben. Sie löste sich kurz von seinen Lippen als er ihren Gurt löste und sie auf den Schoß zog. „Nicht hier, Lucky", widersprach sie ihm, als seine Hand unter ihr Top rutschte, „lass uns nach Hause fahren."
Kylie konnte sehen,dass es ihn höchste Kraft kostete auf sie zu hören. Er wusste, dass sie ihn nicht noch einmal aufhalten würde, wenn er jetzt weitermachte. Das war ihre Schwäche. Sie konnte ihm nicht widerstehen. Seine Hand verweilte unter ihrem Top, während er seine Möglichkeiten abzuwägen schien. Als er seine Hand schließlich von ihrer Haut nahm und über den Mantel auf ihre Hüften legte, seufzte er niedergeschlagen. „Es sind keine zehn Minuten mehr bis wir da sind, also reg dich nicht auf", lachte Kylie und rutschte von seinem Schoß. Als sie sich wieder auf ihrem Sitz positioniert hatte, schielte sie zu Lucky hinüber. Er betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf. Als er ihren Blick bemerkte, schaute er zur Seite aus dem Fenster.
Hier kommt das zweite Kapitel! Ich hoffe, euch gefällt es bis hierhin :)
Das ganze spielt in New York, wie ihr wahrscheinlich bis hierhin schon mitbekommen habt. Allerdings war ich noch nie dort und habe auch absolut keine Ahnung, wie oder in welchen Stadtteilen man sich dort aufhalten kann und in welchen lieber nicht.
Daher nehmt es mir nicht übel: Mein New York ist eine Mischung aus realen geographischen Angaben und reiner Phantasie.
Bis denne!
annaofthenorth
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