Wer in der Nacht kam

»Hab Acht vor denen,

die stets ein Lächeln auf den Lippen tragen,

denn sie wollen dir ihre Gedanken nicht zeigen

und du kennst sie nicht.«

EIN UNBEKANNTER NACHTMAHR,

402 DGW

Der Rauch des Scheiterhaufens war sogar noch außerhalb des Perlenwalds und zwei Tage nachdem sie das Lager der Wolfsleute verlassen hatten zu sehen. Der Karren ruckelte über die holprige Straße, die am Nebelsee entlang bis nach Otequ führte. Erste Bauernhöfe und Farmen mit ihren Feldern und Weiden waren schon hier und da zu sehen. Sie begegneten mehreren Boten, Kriegern, aber vor allem auch Händlern und kleinen Gruppen von Menschen, die offenbar ebenfalls in Richtung Otequ reisten. Einige redeten anscheinend auch davon, auf der großen Handelsstraße durch das Gion-Gebirge bis nach Zowuza zu wandern, um dort Unterschlupf zu finden. Viele flüchteten aus dem Norden Alarchias aus Angst, die dunklen Wesen, die einst Yaari erobert hatten, könnten auch vor den südlicheren Städten und Dörfern keinen Halt machen.

»Nach dem, was in Ihany passiert ist, möchte ich einfach nur so weit in den Süden wie möglich«, hörte Aktur einen Reisenden zu seinen Kameraden sagen. Die Gruppe bestand aus vier Elfen, so wie Akla, Ethajon und er, aber sie sahen um einiges heruntergekommener und mitgenommener aus. Die Kleidung bestand fast nur noch aus Flicken und war verdreckt. In ihren Augen lag eine seltsame Hoffnungslosigkeit.

Was ist in Ihany passiert?, horchte Aktur auf und lehnte sich unauffällig weiter in Richtung der Reisenden, wobei er die Kapuze des Mantels, den Ethajon ihm auf Aklas Bitte hin gegeben hatte, tiefer ins Gesicht zog. Er durfte das Risiko, erkannt zu werden, nicht eingehen. Schließlich wurde in ganz Alarchia nach ihm gesucht.

»Und wieder war der König nicht da«, beschwerte ein anderer Elf sich. »Man könnte annehmen, er würde sich wenigstens um Seinesgleichen kümmern, aber weit gefehlt! Wann hat er überhaupt das letzte Mal den Goldenen Palast verlassen? Ich meine, richtig verlassen, um sein Volk zu beschützen? Der erste Perlenwaldbrand zählt nicht. Da war er noch nicht mal König!«

»Er hockt da oben auf seinem Gold. Wie ein Drache auf seinem Schatz.«

»Nimm in meiner Anwesenheit das Wort ›Drache‹ bloß nicht in den Mund!«, fuhr ein anderer Elf ihn an. »Wir müssen noch durch das Gion-Gebirge und du weißt ganz genau, wer da haust.«

»Du meinst Ximou?«

»Natürlich meine ich Ximou. Wen denn sonst?«

»Ich habe Gerüchte von unheimlichen Bestien gehört«, warf ein anderes Gruppenmitglied ein. »Halb-Löwe, Halb-Adler. Sie suchen die Völker im Gion-Gebirge heim und rauben ihnen ihre Ernte. Die, die sich weigern, etwas abzugeben, töten sie und hängen sie in tiefen Schluchten auf, damit sie ausbluten. Und dann fressen sie sie.«

»Noch nie von denen gehört.«

Aktur sah hilflos zu Akla, die ihm gegenüber im Wagen saß, während ihr Bruder das Pferd lenkte. Sie bemerkte seinen Blick und rutschte zu ihm rüber. »Was ist los? Fühlst du dich wieder schlechter? Soll ich dir noch etwas Medizin geben?« Sie wollte nach den kleinen Glasfläschchen im Korb greifen, die sie aus dem Lager der Wolfsleute mitgenommen hatten, doch Aktur hielt sie auf.

»Die Elfen neben uns haben erwähnt, dass etwas in Ihany passiert ist«, flüsterte er ihr zu. »Ich habe dort mein Labor aufgeschlagen. Ihany ist meine zweite Heimat, nachdem Yaari erobert wurde. Kannst du... Kannst du die Elfen fragen, was dort geschehen ist?« Er fühlte eine tiefe Sorge und Angst in sich aufsteigen. Nicht nur wegen seines Labors – die wichtigsten Erkenntnisse hatte er ohnehin in seinem Notizbuch notiert, das er allerdings in den Silberwald geworfen hatte. Auch wegen Mangayam, seines treuen Freundes, der ihm so oft geholfen hatte, wenn er am Verzweifeln gewesen war, weil seine Kräutermischungen nicht funktioniert hatten.

Akla nickte verständnisvoll, strich eine ihrer Haarsträhnen zurück, sodass man ihre spitzen Ohren besser sehen konnte und rief: »Die freundlichen Herren in der Gruppe, Ihr sagtet etwas von Ihany? Was ist dort passiert?«

Die insgesamt vier Elfen drehten sich überrascht zu ihr um. Anscheinend hatten sie nicht erwartet, dass jemand sie ansprechen würde. Einer von ihnen, der sich zuvor über König Zefalo aufgeregt hatte, trat näher zu ihrem Wagen heran, woraufhin Akla Ethajon auf die Schulter tippte, damit er das Gespann anhielt.

»Wo wart Ihr denn unterwegs, dass Ihr das nicht mitbekommen habt, werte...?«

»Akla«, antwortete sie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. »Meine Brüder und ich waren im Süden und wollen nach Otequ. Nun sprecht schon, was ist in Ihany geschehen?«

»Akla, schöner Na...«

»Ein Unglück ist geschehen«, unterbrach der Elf, der von den Gerüchten über die Bestien berichtet hatte, seinen Vorredner. »Was mit Yaari vor hundertzehn Jahren passiert ist, hat jetzt auch Ihany heimgesucht.«

Aktur schluckte.

»Ihany wurde eingenommen?«, fragte Akla fassungslos. »Wann?«

»Vor etwa einem halben Monat«, kam die Antwort. »Es waren Tausende. Hexen und Hexenmeister, Werwölfe, Vampire, sogar Trolle. Mitten in der Nacht, als alle schliefen. Sie kletterten einfach über die Stadtmauern, als könnten sie Wände hochgehen. Viele wurden getötet, einige konnten fliehen. In den Süden nach Zoua oder Xiza oder noch weiter so wie wir.«

»Den Fürsten hat es am schlimmsten erwischt«, warf wieder der Gerüchteverbreiter ein. »Es wird gesagt, dass er zusehen musste, wie seine Frau zu einem Vampir wurde. Vielleicht stimmt das, vielleicht nicht. Fakt ist, dass niemand weiß, wo er hin ist. Wie vom Erdboden verschluckt. Wahrscheinlich tot.«

»Ein Vampir herrscht jetzt über Ihany«, fügte ein anderer Elf hinzu. »Er hat sich die Fürstin als Frau genommen und behauptet, damit sei sein Amt gerechtfertigt.«

»Dass König Zefalo sich so etwas gefallen lässt«, beschwerte sich der nächste. »Ich kann es immer noch nicht fassen. Weiß er denn nicht, wie viele Elfen ihre Heimat verloren haben? Schaut nur, wie ich aussehe!« Er deutete auf seine schmutzige Kleidung. »Wie soll ich so eine vernünftige Arbeit finden?«

»Wir schaffen das schon irgendwie«, munterte einer seiner Begleiter ihn auf und klopfte ihm auf die Schulter. »Schließlich gehen wir nach Zowuza, wo die Reichen arm und die Armen reich werden.«

»Was bringt uns das, wenn wir nicht mal die Sprache der Menschen beherrschen?«

Die gesamte Gruppe seufzte tief und schüttelte die Köpfe.

»Ihr werdet Euch bestimmt durchschlagen«, versuchte Akla, ihnen Mut zu machen. »Die Sprache der Menschen ist nicht so schwer. Ich habe sie ebenfalls gelernt, nachdem ich nach Otequ gezogen bin.«

»Wirklich?« Ein kleiner Funken Hoffnung blitzte in den Augen der Reisenden auf. Als Akla nickte, brachen sie in erleichtertes Gelächter auf. »Wir danken Euch, werte Dame, und wünschen Euch und Euren Brüdern eine gute Reise!« Damit traten sie vom Wagen zurück und Akla tippte Ethajon an, der das Pferd wieder antrieb. Dabei wechselten die zwei Geschwister einen kurzen Blick, den Aktur nicht recht deuten konnte. Er schlug sich verzweifelt die Hände vor das Gesicht.

»Ihany, meine Heimat«, murmelte er. »Alles verloren.« Hoffentlich konnte Mangayam fliehen. Hoffentlich... Er wusste nicht, worauf er noch hoffen sollte, denn alle Hoffnung schien vergebens. Nach dem Großen Brand von Yaari hatte er gehofft, dass die dunklen Wesen nicht noch weiter nach Süden vordringen würden. Mit jedem Jahr, in dem nichts passiert war, war er ruhiger geworden, sicherer geworden, dass ihm nichts drohte. Und jetzt war es doch geschehen. Ist das auch das Werk der dunklen Königin? Wenn das so ist, muss ihr Unterschlupf sich irgendwo im Norden befinden. In Yaari? In... Ilasnar? Er konnte sich nicht vorstellen, dass letztere Stadt, die fast so etwas wie eine Festung war, unbemerkt eingenommen werden konnte.

»Es tut mir leid«, hörte er Aklas Stimme dicht neben sich. Sie umarmte ihn und legte ihren Kopf tröstend auf seine Schulter. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es dir schmerzt, das zu hören. Es ist nun das zweite Mal, dass du deine Heimat verloren hast.«

Akturs Kehle war so trocken, dass er nicht antworten konnte. Alles in ihm zog sich zusammen und er fühlte sich wie betäubt. Er dachte an all die netten Elfen, denen er in Ihany begegnet war. Ihr genaues Schicksal war nun nur noch Jeovi bekannt.

Den Rest der Reise verbrachten sie schweigend. Akla flößte ihm mehrmals seine Medizin ein und richtete ihm die Kapuze, wenn zu viel seines Gesichts zu sehen war. Am Abend erreichten sie Otequ. Rechts von ihnen lag der Nebelsee, über dem ausnahmsweise keine weißen Schleier hingen, die ihm seinen Namen gegeben hatten. Ein breiter Fluss mündete in den See und über den stetig fließenden Strom war eine Brücke gebaut worden, über die man Otequ betreten konnte. Links und rechts von ihr standen zwei Wachtürme, die im Vergleich zu denen der Elfenstädte relativ klein waren. Auch schienen die Wachen sich nicht darum zu kümmern, wer die Brücke überquerte, da sie niemanden anhielten. Vorsichtshalber zog Aktur sich die Kapuze trotzdem weiter ins Gesicht.

Die Räder des Wagens ruckelten über die Pflastersteine der Brücke und sie erreichten unbeschadet die andere Seite. Die Straße dort war breit und an den Rändern standen viele Menschen, die laut ihre Waren anpriesen. Sie alle trugen heruntergekommene Kleidung und waren teilweise sogar barfuß. Ein Junge mit wirr vom Kopf abstehenden Haaren drängelte sich zum Wagen hindurch, als er sah, dass er Elfen gehörte, und hob bittend die Hände, wobei er auf der Sprache der Menschen laut auf sie einredete. Akla verzog leicht gequält das Gesicht und schüttelte den Kopf, aber der Junge lief dennoch mit ihnen mit. Erst, als sie in eine Seitengasse abbogen, blieb er enttäuscht zurück.

»Das Armenviertel von Otequ«, erklärte Akla bedauernd. »Es liegt vor der Stadtmauer, weil der Fürst keine Bettler auf seinen Straßen haben will. Deshalb haben die Menschen sich hier ihre eigenen Hütten gebaut. Jeder, der in die Stadt möchte, muss erst hier vorbei.«

Sie fuhren die schmale Gasse entlang und hielten vor einem heruntergekommnen Haus an, dessen Wände so schief waren, dass es aussah, als würde das ganze Gebäude sich an seine Nachbarn lehnen. Ethajon sprang ab, während Akla Aktur vom Wagen half.

»Dies ist euer Haus?«, fragte er verwundert. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie im Armenviertel wohnten. Selbst sein Labor in Ihany hatte besser ausgesehen. Das Haus, das seine Familie in Yaari gehabt hatte, erst recht.

»Es reicht aus. Komm.«

Da er immer noch nicht sehr sicher auf den Beinen war, stützte Akla ihn auf dem Weg ins Innere der Hütte. Offenbar waren die Geschwister schon sehr lange nicht mehr hier gewesen, denn überall hingen Spinnenweben und eine dicke Staubschicht bedeckte alle Möbel. Die Elfe führte ihn in ein abgelegenes Zimmer und ließ ihn dort ins Bett sinken. Dann richtete sie sich auf und strich ihr Haar zurück. »Ruh dich aus. Ethajon und ich bringen hier alles in Ordnung.«

»Sollte ich nicht helfen?«

Akla schüttelte milde lächelnd den Kopf. »Du bist unser Gast.« Sie wandte sich ab, um zu gehen, blieb jedoch an der Tür nochmal stehen und drehte sich um. »Ich sage Ethajon, dass er dir dein Schwert bringen soll.«

Mein Schwert... Aktur schloss die Augen und öffnete sie erst, als er laute Schritte hörte. Aklas Bruder war reingekommen und hatte das Schwert an die Wand gelehnt. Er verschwand jedoch, bevor Aktur sich auch nur bedanken konnte. Sie sind nett zu mir, dachte er. Besonders Akla. Ohne sie wäre ich wahrscheinlich schon tot. Er hob seine Hand, um zu sehen, dass die Spuren der Giftzähne bereits vollkommen verblasst waren. Ich hätte der Schlangenfrau nie vertrauen dürfen. Egal, was sie für mich getan und was sie mir versprochen hat. Meine Aufgabe ist es, Cor zu finden, so wie Mione es mir aufgetragen hat. Die Prophezeiung muss sich erfüllen. Er ist ein Wolkenleser, ein magiebegabtes Wesen. Bestimmt wird er mir ebenfalls beibringen können, wie ich meine Innere Magie benutze. Kurz bevor es draußen vollkommen dunkel wurde und die Sonne unterging, kam Akla ein letztes Mal vorbei und brachte ihm seine Medizin. Kurz darauf schlief er ein.

Mitten in der Nacht wurde er plötzlich von einem seltsamen Geräusch geweckt. Ein leises Summen ganz in der Nähe, als würde jemand ein Lied singen. Ein Lied, dass er nur allzu gut kannte. Miones Lied. Träume ich noch? Jedenfalls fühlte es sich so an. Benommen fühlte er seine Stirn, doch sie war nicht erhitzt. Alles war ganz normal. Nur erschien das Licht Keos und des silbernen Mondes viel heller, vermischte sich mit dem Sternenlicht und malte verschlungene Muster auf den Boden unter dem Fenster. Doch die Melodie kam nicht von draußen. Sie kam von der Tür.

Aktur drehte seinen Kopf. Dunkelheit. Tiefe Dunkelheit. Aber in der Dunkelheit bewegte sich etwas. Eine Gestalt, eingehüllt in flatternde Gewänder. Er wusste, dass er sich erschrecken sollte, nach Hilfe schreien sollte, aber er war seltsam ruhig. Wer war diese Person? Sein Herzschlag ging regelmäßig, im Takt des gesummten Liedes. Woher kennt sie Miones Lied? Was möchte sie von mir? Oder... Ist es Mione? Sein Kopf fühlte sich seltsam leer an. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder entschlüpfte ihm diese eine, diese wichtige Sache.

»Du hast gesummt«, erklang eine Stimme, so klar wie ein dem Fels entspringender Gebirgsbach, »als du geschlafen hast. Es ist ein schönes Lied. Diese Melodie...« Das Summen setzte wieder ein.

Es ist nicht Mione, dachte Aktur. Sie ist es nicht. Sie würde sich nie selbst loben. Aber wer ist es dann? Wer ist es? Sein Kopf war wie leergefegt. Warum fühlte er sich so abgetreten? Und doch so wach? Er sah alles klar. Klar und deutlich.

Sein Herz setzte einen Schlag aus, als die Gestalt aus der Dunkelheit ins Licht trat. Sie hatte ihre Reisekleidung gegen ein fließendes Seidengewand ausgetauscht. Ein weißes Nachthemd, das bei jeder Bewegung leichte Falten schlug, sich an ihren Körper schmiegte. Sie erschien ihm wie ein Geist, ein unwirklicher Geist, der ihn in der Nacht aufsuchte. Mit einer Hand strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Die andere streckte sie nach ihm aus, die zierlichen Finger leicht gebogen. Verwirrt setzte Aktur sich auf, rieb sich die Augen, doch als er sie wieder aufschlug, war sie immer noch da. Nur näher. Ihr Gesicht tauchte direkt vor ihm auf.

»Gefällt dir das Lied?«, hauchte sie ihm zu.

»Ich...« Seine Stimme hörte sich gedämpft an, als würde er nicht die Kraft haben, lauter zu sprechen. Er wollte es nochmal versuchen, doch sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. Dann strich sie ihm mit der Hand über die Wange, sanft, fast zärtlich. Mit der anderen zog sie ihn näher zu sich.

»Das Lied«, flüsterte sie. »Wer hat es dir vorgesungen?«

Aktur öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er brachte kein Wort heraus. Sie ist zu nah, dachte er. Viel zu... Im selben Moment drückte sie ihn plötzlich an sich. Vergrub ihre Hände in seinen Haaren und presste ihre Lippen auf die seinen. Er erstarrte, verwirrt und überrascht zugleich. Überrumpelt erwiderte er den Kuss im ersten Augenblick, bevor er ihre Arme von sich löste und sie mit Gewalt von sich weg schob. Keuchend wich er ein Stück von ihr zurück.

»Das... geht nicht«, presste er heraus, hörte die eigenen Worte kaum. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Entsetzt von sich selbst starrte er stur in Richtung des Fensters, weg von ihr.

»Ich weiß, wer es dir vorgesungen hat«, flüsterte sie ihm ins Ohr und berührte fast beiläufig mit den Lippen seine Wange. Dann verschwand sie mit flatterndem Nachthemd in der Dunkelheit der Hütte.

Was ist gerade passiert?, pochte es in Akturs Kopf. Er fühlte immer noch die brennende Hitze auf seinen Lippen. Warum hat sie das getan? Das leise Summen war verklungen und eine Totenstille hatte sich über die Hütte gelegt. Ein eiskalter Schauer nach dem anderen fuhr ihm über den Rücken. Er wollte aufstehen und ins Nebenzimmer gehen, wo Akla und Ethajon schliefen. Wollte sehen, ob sie wirklich schliefen. Oder schlief er vielleicht noch? War das alles nur ein Traum gewesen? Was hatte das zu bedeuten?

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war oder ob er zwischendurch eingeschlafen war. Vielleicht war er die ganze Zeit wach gewesen, hatte stumm nachgedacht. Vielleicht hatte er sich alles nur eingebildet. Irgendwann bemerkte er, dass die verschlungenen Muster vor dem Fenster verschwanden und hellem Sonnenlicht wichen. Und noch etwas sah er. Einen einzelnen Brief, der dort auf dem Boden lag. Seit wann war er da? Er konnte es nicht sagen. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er in der Nacht auch schon dort gelegen hatte.

Leicht schwankend erhob Aktur sich auf die Beine und stützte sich an der Wand ab, bis er sich sicher war, beim nächsten Schritt nicht sofort hinzufallen. Seltsamerweise fühlte er sich nicht mehr so benommen wie die vorherigen Tage – besonders nicht wie in der vorherigen Nacht. Vorsichtig, als könnte er ihn zerbrechen, hob er den Brief vom Boden auf. Er war nicht versiegelt. Auf der Vorderseite stand in geschwungenen Buchstaben sein Name. Im Umschlag selbst steckte ein beschriebenes Blatt Papier. Er holte es heraus und klappte es auseinander.

Ethajon und ich mussten abreisen, las er. Das Haus gehört nun dir. Suche mich nicht. Du wirst mich nicht finden. Akla.

Kein Wort von dem, was letzte Nacht geschehen war. Kein Wort einer Erklärung. Nur diese Sätze. Aktur kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie wieder. Alles war noch da. Genau so, wie vor wenigen Augenblicken auch schon. Er betrachtete den Brief in seiner Hand. Ich werde sie nicht suchen, dachte er. Ich habe keinen Grund dazu. Sie hat mir geholfen und ich schulde ihr noch etwas, aber wenn sie ihre Schuld einfordern möchte, ist sie es doch, die mich suchen wird. Wäre es nicht in ihrem Interesse, dass sie bei mir bleibt? Warum ist sie also abgereist? Egal wie er es drehte und wendete, er fand keine Antwort auf diese und auch keine auf all die anderen Fragen. Ich werde bald aufbrechen, um nach Cor zu suchen, beschloss er. Nur wie soll ich ihn finden?

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