Verräter

»›Wer ist Ellon von den Bärenleuten?‹

›Es gibt ihn nicht und hat ihn nie gegeben!‹«

ONBOV HÜBSCHAUGE,

ZEHNTER ANFÜHRER DER BÄRENLEUTE,

572 DGW

Nebar überprüfte noch einmal den Inhalt seines Reisebeutels. Einige getrocknete Beeren und Kräuter aus der Hütte des Heilers lagen ordentlich zusammengerollt zwischen einem gefüllten Wasserschlauch und Stücken des Rußadlerfleisches, das bestimmt schon so hart wie Stein war. Man würde es dennoch essen können. Ulia meinte, dass werdende Mütter viel Fleisch brauchten, damit das Kind gesund zur Welt kam. Er schloss den Beutel wieder und hievte ihn sich auf den Rücken. Die vielen Wurfmesser an seinem Waffengürtel waren schwer, doch das Gewicht dieser Gegenstände lastete nicht so sehr auf ihm wie die Tatsache, dass er den Perlenwald, seine Heimat, verlassen musste. Wenigstens würde Unuma ihn begleiten, aber das war auch der einzige Trost, den er in seiner jetzigen Lage finden konnte.

Nachdem Theresa beinahe auf die Ratsmitglieder losgegangen war, weil sie vermutete, einer von ihnen hätte dem Elfen bei der Flucht geholfen, hatte er gewusst, dass es soweit war. Die Anführerin war endgültig irre und gefährlich unvorhersehbar geworden. Bei den Wolfsleuten würde es nicht mehr sicher sein, denn die Anführerin hatte begonnen, ihre eigenen Brüder und Schwestern des Verrats zu verdächtigen. Sie hatte mittlerweile nicht nur Citah, sondern auch Nakani verboten, ihr Haus zu betreten. Stattdessen waren Jeddac und Roja in den Rat aufgenommen worden. Der eine ein zwielichtiger Kämpfer mit nur noch einem Arm und die andere eine düstere Gestalt, die weder Familie noch Freunde besaß.

Vorsichtig zog Nebar den Vorhang etwas beiseite und erhaschte einen Blick auf den Platz vor seiner Hütte. Er hatte Unuma versprochen, sie in der Zeit kurz vor Sonnenaufgang abzuholen, weil es dann am ruhigsten im Lager war. Die meisten schliefen noch und die, die das nicht mehr taten, waren zu sehr damit beschäftigt, wieder einzunicken. Es war immer noch dunkel, aber die Sterne fingen bereits an, zu verblassen. Der Himmel wurde allmählich heller.

Hastig ging Nebar zur Tür und widerstand dem Drang, noch ein letztes Mal zurückzuschauen. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Er hatte bereits Abschied von den Wolfsleuten genommen, indem er seinen Umhang unter einer Bodendiele nahe seines Bettes versteckt hatte. Draußen war es etwas kälter als normalerweise. Die Tropfen vom Regen des vergangenen Tages funkelten auf den schmutzig braunen Grashalmen, die als letzte Überlebende noch am Wegesrand wuchsen. So leise wie möglich schlich der Kämpfer zu dem Haus seiner Geliebten. Es bestand keinerlei Risiko, dass jemand anderes ihm öffnete, schließlich war ihr Bruder Unar beim Brand gestorben und andere Verwandte hatte sie nicht. Er klopfte. Erst regte sich nichts, doch dann ertönten auf der anderen Seite lauter werdende Schritte und ihm wurde geöffnet.

Unuma war die Sorge ins Gesicht geschrieben. Auch sie hatte sich einen Reisebeutel über den Rücken gehängt. Unwillkürlich wanderte sein Blick zu ihrem Bauch, der jedoch genauso flach wie auch die Monate zuvor war. Natürlich, so schnell wuchsen Kinder nicht. »Ich habe Angst«, flüsterte sein träumender Stern und schloss die Tür hinter sich. Sie trat an ihn heran und legte ihren Kopf auf seine Brust. Sanft strich Nebar ihr durch die dunkelbraunen Haare, die sie, wie immer, offen trug.

»Alles wird gut werden«, versuchte er sie zu beruhigen, obwohl sein eigenes Herz wie verrückt schlug. »Es sind schon Wolfsleute vor uns nach Zowuza gegangen und sie leben nun genauso gut wie vorher, vielleicht sogar noch besser. Wenn wir arm sind, wird Zowuza uns reich machen. Du kennst doch das Sprichwort.«

Unuma löste sich von ihm und sah Nebar tief in die Augen. Unaussprechliche Liebe lag in diesem einen Blick und er wusste sofort, dass sie ihm vertraute. »Wie lange werden wir gehen müssen?«

»Acht Tage, sieben wenn wir uns beeilen«, antwortete er ihr. Er nahm ihre Hand, führte sie zu seinem Mund und küsste sie. »Bist du bereit, meine Liebe?«

Die junge Frau nickte. »Ja.« Sie drückte seine Hand und tat den ersten Schritt weg von ihrer Hütte. Sie gingen nebeneinander. Ein letztes Mal warf Nebar einen Blick auf den Steinpodest, vor dem er zu einem Teil der Wolfsleute geworden war. Seufzend wollte er sich gerade abwenden, als er eine Bewegung hinter dem Fenster von Theresas Hütte wahrnahm. Er blieb stehen.

»Was ist los?« Unuma drehte sich verwundert zu ihm um und runzelte verwirrt die Stirn, bis auch sie die Gestalt entdeckte, die sie durch das Glas hindurch beobachtete. Es war Theresa, doch sie schien nicht wütend oder überrascht zu sein, sondern strahlte eine unheimliche Ruhe aus. Ihre Blicke trafen sich. Nebar fuhr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Er drückte Unumas Hand fester, um ihr Mut zu machen. Eigentlich wollten sie unbemerkt aus dem Lager verschwinden, doch sie hatten abgemacht, dass sie sich Theresa stellen würden, wenn sie eine Erklärung verlangte.

Die Silhouette der Anführerin verschwand und es dauerte nicht lange, bis sie aus ihrer Hütte hinaustrat. Tamina folgte ihr wie ein Schatten dicht auf den Fersen und hielt sich rechts hinter ihrer Mutter. Beide hatten das Wolfsfell ordentlich über ihre Schultern geworfen und machten nicht den Eindruck, eben noch geschlafen zu haben – eher, als wären sie die ganze Nacht über wach gewesen. Ist das möglich? Haben sie gewusst, dass wir heute den Perlenwald verlassen würden? Nebars Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. Erst als Unuma ihn grob in die Seite stieß, merkte er, dass er ihre Hand zu fest gedrückt hatte und ihr weh tat. Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, ließ sie los und wandte sich wieder der Anführerin zu.

»Ich habe erfahren, dass diesen Morgen jemand seine Treue verschenken würde.« Theresas Stimme rollte über ihn hinweg wie eine Lawine. »Bist du es, Nebar? Hast du deine Treue verschenkt? Gilt sie nicht mehr den Wolfsleuten?«

Wer hat es ihr gesagt? Der Kämpfer wechselte einen Blick mit seiner Geliebten. Unumas rotbraune Augen waren vor Furcht weit aufgerissen. Sie vertraute ihm, vertraute ihm so sehr, dass sie ihr Leben in seine Hände legte. »Meine Treue gilt immer den Wolfsleuten, aber nicht dir, Theresa«, antwortete Nebar selbstsicher und achtete darauf, dass seine Stimme nicht zitterte.

Die Frau weitete überrascht ihre Augen, bevor sich ihre Lippen zu einem schmalen roten Strich verzogen. »Du bist also der Verräter, den wir gesucht haben. Du hast Aktur fortgebracht und mich der einzigen Möglichkeit beraubt, die erste Anführerin zu werden, die Magie beherrscht.« Er bemerkte, wie Tamina kurz zusammenzuckte und ihre Mutter verwirrt anstarrte. Es stimmt also, was Ulia mir erzählt hat. Theresa möchte nur ihre Tochter von der Stummheit befreien.

»Ich habe nichts damit zu tun«, erklärte Nebar so ruhig wie möglich.

»Warum fliehst du dann?«

»Ich fliehe nicht. Unuma und ich verlassen den Perlenwald nur so lange, bis hier wieder Ruhe eingekehrt ist. Wir werden immer ein Teil der Wolfsleute sein.«

»Unuma?« Die Anführerin kräuselte unzufrieden ihre Lippen. Als sein träumender Stern sich neben ihn stellte, tat Theresa so, als hätte sie sie zuvor nicht gemerkt. »Du also auch? Bin ich denn nur von Verrätern umgeben?«

»Wir sind keine Verräter«, sagte Unuma, aber so leise, dass nur Nebar sie hörte.

»Du warst ein Mitglied des Rates, du hast mehr Nahrung bekommen als einige andere, ich habe dir vertraut!« Die letzten Worte schrie die Frau in das Lager hinaus. Irgendwo wurde eine Tür laut zugeschlagen. Die Wolfsleute erwachten allmählich und der Himmel wurde immer heller. Der Strahlenkranz der aufgehenden Sonne war schon zwischen den verkohlten Ästen der Bäume zu sehen. Theresa richtete anklagend einen Finger auf beide. »Ihr habt mein Vertrauen missbraucht, indem ihr vorhattet, euch in aller Heimlichkeit davonzumachen.« Sie hielt inne. »Was ist in euren Reisebeuteln?«

»Proviant für die Reise nach Zowuza«, antwortete Nebar, verwundert über diese Frage. »Kräuter, Beeren und Fleisch.«

Auf einmal verließ ein grausiges Lachen die Kehle der Anführerin. Sie warf ihre dunkelbraunen Haare zurück und atmete tief ein, bevor sie sich mit einem unheimlichen Grinsen wieder umwandte. Langsamen Schrittes ging sie auf Nebar und Unuma zu. Die werdende Mutter wollte zurückweichen, doch der schwarze Rabe hielt sie am Unterarm fest. Wir dürfen uns von ihr nicht einschüchtern lassen. Sie darf uns nichts tun. Sie wird uns nichts tun, denn sonst wäre ihre ohnehin schon umstrittene Stellung als Anführerin noch mehr gefährdet und jemand anderes würde ihr das Amt streitig machen. Nebar erinnerte sich nur zu gut an Citahs Ungehorsam, den Waffengürtel bei der Ratssitzung abzulegen. Hat er schon dann mit dem Gedanken gespielt, sie einfach zu töten? Würde er das wirklich tun?

Theresa blieb direkt vor ihm stehen. In ihren dunkelbraunen Augen brannte das wilde Feuer des Irrsinns. »Proviant also. Citah.« Sie drehte sich nicht um, als sie das sagte, doch Nebar hatte ein sehr ungutes Gefühl dabei, dass sie den Namen seines Erzfeindes aussprach, als würde er hinter ihr warten. »Wie lautet das zweite Gesetz, dass unsere Vorfahren Nijaq, Zuo und Bhow verfasst haben, um ein harmonisches Leben im Perlenwald zu ermöglichen?«

»Stehle von deinen Freunden und dein Platz ist nicht mehr hier.«

Nebar fuhr herum und blickte direkt in schmale, haselnussbraune Augen. Citahs Augen. Der Kämpfer hatte Unuma an den Haaren gepackt und eine Hand auf ihren Mund gelegt, um ihren Schrei zu unterdrücken. Wo kommt er so schnell her? Die junge Frau sah verzweifelt zu ihrem Geliebten, der sie jedoch nur ohnmächtig ansehen konnte. Er hielt immer noch ihren Unterarm fest, wollte ihr helfen, konnte aber nicht mal ein Fingerglied bewegen. Er war wie gelähmt. Langsam nahm Citah seine Hand von ihrem Mund weg. Ein Schluchzen stieg in Unumas Kehle auf und in ihren Augenwinkeln glitzerten Tränen.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich... Ich bin glücklich, dich getroffen zu haben, Nebar, mein schwarzer Rabe. Du bist das Beste, was mir in meinem Leben je zugestoßen ist. Du wärst ein wundervoller Vater geworden.« Eine Träne rann ihre Wange entlang. »Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr.«

Nebar öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch heraus kam nur ein trockenes Krächzen. Er weinte stumm. Warum sagt sie das? Warum tut sie so als wäre alles schon vorbei? Als... als würde sie... In dem Moment entdeckte er das Wurfmesser, das Citah an ihren Hals hielt. Langsam drückte er zu. Ein roter Tropfen quoll aus dem Schnitt, während Unuma vor Schmerz die Augen schloss.

»Lege deinen Umhang ab und dein Platz ist nicht mehr hier.« Theresas Stimme drang wie durch eine dicke Nebelwand zu ihm hindurch. Er wollte das nicht hören, wollte seinem träumenden Stern helfen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Seine Augen fixierten das dünne Blutrinnsal als wäre es das einzig wichtige auf der Goldenen Welt. »Sag mir, Nebar, wo ist dein Umhang. Wo ist ihr Umhang?« Er antwortete nicht. »Brich deinen Schwur und dein Platz ist nicht mehr hier. Du hast geschworen den Wolfsleuten ewig zu dienen. Sind elf Jahre für dich eine Ewigkeit, Nebar? Sag es mir, ich möchte es wissen.« Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter. »Sag es mir!«

»Warum?«

Der Atem der Anführerin strich warm über seinen Hals, doch ihre Lippen blieben verschlossen. In weiter Ferne wurden noch mehr Türen zugeschlagen, aufgeregte Stimmen erklangen und wurden immer lauter. Der Boden unter seinen Füßen schien zu erbeben und Kälte umfing ihn, als Theresa zurücktrat. Nebars Blick richtete sich auf Citah, der Unuma an den Haaren einige Schritte nach hinten zog. Der schwarze Rabe wollte zu ihr, doch jemand packte ihn am Unterarm und wirbelte ihn herum, sodass er all die Menschen sah, die sich um ihn herum versammelt hatten. Er fühlte sich wie ein Tier, das ein Rudel Wölfe zu ihrem nächsten Opfer auserkoren hatte. Die Anführerin stand auf dem hohen Steinpodest, zwei Stufen niedriger Tamina. Ihr grauweißer Wolfspelz schimmerte leicht im Licht der aufgehenden Sonne.

»Theresa, was geschieht hier?«, erhob sich Nakanis Stimme über alle anderen. Die hochgewachsene Frau trat vor. »Wo ist mein Bruder?«

»Citah kümmert sich um Unuma. Ihr wird nichts geschehen, aber wir müssen sicherstellen, dass wir nicht noch mehr Verräter an unserer Brust genährt haben«, antwortete sie ohne Nebar aus den Augen zu lassen. Schließlich unterbrach sie den Blickkontakt doch und wandte sich mit hoch erhobenen Armen an die Wolfsleute. »Meine Freunde, meine Brüder und Schwestern, ihr habt euch hier versammelt, um der Verbannung eines Verräters beizuwohnen. Nebar«, ihr Finger deutete anklagend auf ihn, »hat seinen Umhang abgelegt. Er hat von seinen Freunden gestohlen und seinen Schwur gebrochen! Können wir solch einen Menschen unter uns leben lassen?«

Einige schüttelten zögerlich den Kopf, andere starrten die Anführerin nur geschockt an, während sie sich immer weiter in Rage redete. Nebar schlug die Augen nieder und blendete ihre Worte aus. Er wusste, dass sie vorhatte, ihn zu verbannen. Nur ihn, ohne Unuma. Warum? Warum gewährte sie ihm nicht eine letzte Bitte wie es sonst immer üblich war. Sie hätte es schon lange tun müssen. Dann hätte er verlangt, Unuma neben sich stehen zu haben. Andererseits... Wäre sie bei den Wolfsleuten nicht besser aufgehoben? Hier wurde ihr wenigstens Schutz garantiert und Nahrung würde es auch geben, wenn die Zeit nach dem Waldbrand erst überstanden war. Außerhalb des Perlenwaldes jedoch war alles ungewiss. Ihnen könnte der Zugang zu Zowuza verweigert werden und dann müssten sie sich alleine durchschlagen, was mit jedem Monat immer schwieriger werden würde. Das Kind, sein Kind, würde es außerhalb des Perlenwaldes überhaupt überleben? Noch nie war jemand von den Wolfsleuten zurückgekehrt um von diesem anderen Leben zu berichten. Waren sie alle gestorben und deswegen nicht nach Hause zurückgekommen? Ich darf Unumas Leben nicht aufs Spiel setzen, nur damit es mir gut geht. Er hob den Blick wieder und starrte in Theresas hasserfüllte Augen.

»Wer ist Nebar von den Wolfsleuten?«, schrie die Anführerin aus voller Kehle und wandte sich an ihre Kämpfer und Jäger.

»Es gibt ihn nicht und hat ihn nie gegeben!«, antwortete ihr die Menge wie aus einem Mund.

»Wer ist Nebar von den Wolfsleuten?«

»Es gibt ihn nicht und hat ihn nie gegeben!« Erste Steine wurden aufgehoben und nach ihm geworfen. Er duckte sich nicht. Der Schmerz drang nicht zu ihm hindurch, denn seine Gedanken kreisten nur um Unuma. Als ein Geschoss ihn an der Stirn traf, rannen Blutstropfen seine Augenbraue hinab und färbten sein Sichtfeld rot. Theresas laute Stimme war in den aufgebrachten Rufen der Wolfsleute fast gar nicht mehr zu hören. Sie stampfte immer wieder mit dem rechten Fuß auf, bis alle es ihr nachtaten und die Erde zu beben anfing. Ein weiterer geworfener Stein hinterließ einen Schnitt auf seiner Stirn, woraufhin er die Augen schloss, um das Blut nicht sehen zu müssen. Der Reisebeutel entglitt seinen rutschigen Fingern und fiel zu Boden. Ihm wurde schwindelig. Blind versuchte er, einen Weg aus diesem Wahnsinn zu finden, doch sobald er auf den Rand der Menschenmenge stieß, rammte ihm jemand den Ellenbogen in die Seite oder das Knie ins Gemächt.

»Wer ist Nebar von den Wolfsleuten?«, schrie Theresa wieder.

»Es gibt ihn nicht und hat ihn nie gegeben!«

Allmählich drang der Schmerz zu ihm hindurch und salzige Tränen vermischten sich mit rotem Blut. Seine Gedanken galten allein Unuma, die irgendwo mit einem Messer an der Kehle zwischen den versammelten Menschen stand und alles mit ansehen musste. Sie litt wahrscheinlich noch mehr als er. Plötzlich stolperte er über einen ausgestreckten Fuß und kam hart auf dem Boden auf. Staub wirbelte auf, den er einatmete und wieder heraus hustete. Langsam hob er den Kopf, um sich wieder aufzurichten.

»Verräter!«, rief jemand direkt über ihm und ein Fußtritt schleuderte ihn wieder zu Boden. Er wurde bei den Haaren gepackt und hochgezogen. »Wir haben gehofft, du würdest sie herausfordern und töten, aber du hast es nicht getan«, flüsterte die Stimme ihm ins Ohr, bevor sein Gesicht wieder in den Dreck gedrückt wurde.

»Wer ist Nebar von den Wolfsleuten?«

»Es gibt ihn nicht und hat ihn nie gegeben!«, kreischte die Menge hysterisch. Harte Geschosse trafen ihn am Rücken und am Hinterkopf, doch ihm war zu schwindelig, als dass er aufstehen konnte. Seine Hände zitterten, als er nach seinem Waffengürtel tastete und eines der Wurfmesser in die Finger bekam. Mit letzter Kraft drehte er sich auf den Rücken und hob seine einzige scharfe Waffe hoch. Er spürte die Vibration, als die meisten Menschen vor ihm zurückwichen und hörte den lautlosen Aufschrei, der durch die Menge ging. Es dauerte eine Weile, bis Theresas Stimme ertönte.

»Vor was fürchtet ihr euch, meine Brüder und Schwestern?«, fragte sie eisig. »Vor einem Geist? Nebar von den Wolfsleuten gibt es nicht und es hat ihn nie gegeben. Er ist keine Gefahr mehr.«

Der schwarze Rabe hörte sich entfernende Schritte. Alltägliche Gespräche über Familie und Freunde setzten ein. Irgendjemand riss ihm das Wurfmesser aus der Hand, ein anderer zog ihm die Stiefel aus und ein Kind schnitt ihm lachend ein Haarbüschel ab, um »ein Andenken an den bösen Mann zu haben«. Nebar wusste nicht, wie lange er halb tot, halb lebendig mitten im Lager lag, bis ihm seine Sinne schwanden. Das einzige, was er wusste, war, dass er für die Wolfsleute nicht mehr existierte. Irgendwann setzte ein warmer Regen ein und der schwarze Rabe wünschte sich, er würde darin ertrinken.

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