Verlassen von den Göttern
»In Zeiten des Schreckens lebt die Hoffnung weiter.
In Zeiten der Dunkelheit regieren Lichtgestalten.
In Zeiten des Todes werden Helden geboren.«
WEISHEIT DER MENSCHEN
Nebar träumte. Er saß mit dem Rücken an den Stamm der Knocheneiche gelehnt, wie das Zuhause der jungen Luchsin genannt wurde, die jedoch nicht mehr dorthin zurückkehrte. Dafür wurden in der Erde zwischen den Wurzeln immer noch ab und zu Knochensplitter gefunden, die besonders unter den Kindern der Wolfsleute sehr beliebt waren. Jenedaya trat aus dem Schatten eines Baumes heraus, an seiner Hand führte er seine Tochter. Tara! Plötzlich veränderte sich die gesamte Szene. Heiße Flammen schlugen zwischen den Ästen der Knocheneiche hervor und verbrannten alles um ihn herum. Hilfslos musste Nebar mit ansehen, wie sein Mentor und sein Welpe Feuer fingen. Mit schmerzverzerrten Gesichtern verschwanden sie in der Hitze des Brandes. Der Wald brüllte und fauchte wie ein ausgewachsener Drache. Unuma tauchte zwischen den brennenden Bäumen auf und fiel zu Boden. Die Flammen umspülten ihren Körper, bis sich ihre Haut allmählich schwarz verfärbte.
Keuchend fuhr Nebar hoch. Sein ganzer Körper schmerzte als wäre er selber ein Opfer des Feuers geworden. Er konnte sich nicht bewegen, nicht mal die Augen öffnen. Seine Hände zitterten, als er über sein Gesicht tastete. Bei jeder Berührung jagte eine Schmerzenswelle durch seine Glieder. Eine Kruste aus getrocknetem und geronnenem Blut klebte auf seiner Haut. Nur geschundenes Fleisch. Seine Nase war gebrochen. Die Wolfsleute hatten ihn, einen Verbannten und Verstoßenen, aus ihrem Lager geschleppt und in den Wald gelegt, damit er starb. Erstaunlich, dass noch kein Wolf oder Bär zu ihm gefunden hatte.
Erschöpft und gebrochen war er einfach liegen geblieben. Doch egal wie sehr Nebar sich anstrengte – er konnte keinen Schlaf finden. Nicht, solange ihn diese Alpträume quälten und er nicht wusste, was mit Unuma geschehen war. Wurde sie wenigstens gut behandelt? Wer kümmerte sich um sie? Bekam sie genügend zu essen? Der Hunger trieb Menschen manchmal dazu, unmenschliche Dinge zu tun. Er erinnerte sich noch an das, was Ulia ihm erzählt hatte. So weit würde es sicher nicht kommen.
Die Tage vergingen. Nebar dämmerte in einem Halbschlaf vor sich hin. Er fühlte nichts, nur die Trauer, den Schmerz und die Angst. Sein Geist gehörte nicht mehr zu seinem Körper. Schatten und Licht wechselten sich immer wieder ab. Mal blendete ihn die Sonne, mal schien das rote und silberne Licht der Monde in sein Gesicht. Er dachte an die Götter. Sie hatten ihn verlassen. Oder es gab sie nicht und hat sie nie gegeben. So wie ihn. Wo war seine Kraft hin, wo sein Lebenswille? Conar, warum hast du mir alles geraubt, betete Nebar in Gedanken zu seinem Patron, während die Abenddämmerung in die Nacht überging. Selbst wenn alle andere Götter ihn ignorierten, sollte Conar zu ihm stehen und ihm helfen. Warum bist du nicht da? Wo bist du?
Plötzlich durchdrang ein lautes Brüllen die tiefe Dunkelheit. Trockene Äste zersplitterten unter dem Gewicht eines schweren Körpers. Etwas schnaufte. Die Überreste der abgebrannten Bäume stöhnten ächzend im aufkommenden Wind. Nebar drehte den Kopf etwas zur Seite, doch er sah nichts, nur pure Finsternis. Dafür hörte er alles. Sein Instinkt drängte ihn dazu, aufzustehen und davonzulaufen, aber sein Körper weigerte sich. Erst, als die ungestüme Bestie zwischen den Bäumen hervorbrach und sich brüllend auf ihn stürzte, sprang er auf. Ein Schrei entwich seiner Kehle. Brennender Schmerz loderte auf jedem Fleck seiner Haut, seinen Muskeln und seinen Knochen.
Conar beschütze mich! Der Bär stellte sich auf die Hinterbeine und überragte Nebar um mehr als das Doppelte seiner eigenen Größe. Seine gigantischen Pranken stießen hinab und die langen Klauen verfehlten ihn nur um Haaresbreite. Völlig überrumpelt stolperte der Kämpfer zurück. Seine Hand wanderte sofort zum Waffengürtel, fand aber nicht, was sie suchte. Keine Zeit! Das riesige Tier bleckte die Zähne, sodass er einen Blick auf die spitzen Reißwerkzeuge werfen konnte, die sicher schon so manchem Hirsch das Leben gekostet hatten.
Nebar wich dem schnappenden Maul mit einem Sprung zur Seite aus und kroch weiter. Er wollte, musste fliehen! Gegen einen Bär wie diesen konnte er nicht bestehen. Seine Finger gruben sich tief in die Erde und rissen kleine Sprösslinge mitsamt ihren Wurzeln aus. Verzweifelt versuchte er, sich aufzurichten. Plötzlich bohrten sich scharfe Zähne in seinen rechten Unterschenkel. Es knackte laut, als sein Knochen unter dem starken Biss nachgab. Der Kämpfer schrie laut auf. Sein Kopf dröhnte. Er wusste, dass er einer Ohnmacht nahe war. Und dann wäre es vorbei mit ihm.
Die raue Zunge des Bären leckte begierig an seinem Blut, das seine Hose und den Waldboden tränkte. Nebar wollte das nicht sehen. Bereit, den Tod zu empfangen, schloss er die Augen. Die schweren Tatzen der Bestie donnerten rechts und links von ihm auf die Erde. Fauliger Atem schlug ihm ins Gesicht und der Gestank von schmutzigem Fell betäubte seine Sinne. Etwas Feuchtes tropfte auf seine Haut.
Auf einmal fuhren seine Finger über etwas Hartes, Kaltes. Instinktiv umklammerte er den Gegenstand und riss ihn mit letzter Kraft hoch. Unbändig vor Wut jaulte der Bär seinen Schmerz in den Wald hinaus. Warmes Blut rann Nebars Hand hinab. Ungläubig öffnete der Kämpfer die Augen und konnte gerade noch sehen, wie die Bestie sich auf die Hinterbeine stellte und mit einer Pranke nach ihm ausholte. Die Klauen trafen ihn im Gesicht und schlitzten ihm die Wange auf. Ein unartikulierter Laut drang aus seiner Kehle und er nahm den Geschmack von Eisen auf seiner Zunge wahr.
Voller Wut hob Nebar erneut den Gegenstand in seiner Hand. Es war ein altes, rostiges Stück Eisen, dessen Form entfernt an ein Schwert erinnerte. Ruckartig zog er die scharfe Kante über den Bauch des Bären. Seine winzigen, schwarzen Augen blickten wild hin und her zuckend auf ihn hinab. Rotes Blut schoss aus der tiefen Wunde. Die Bestie ließ sich auf alle Viere fallen. Die gewundenen Gedärme quollen hervor und fielen zu Boden. Verwirrt stand das Tier einige Augenblicke da. Dann gaben seine Beine nach. Ein dumpfer Laut zeugte von seinem Aufprall und der rasselnde Atem, der schließlich aussetzte, von seinem Tod.
Die Augen des Kämpfers flackerten. Alles verschwamm. Immer noch pulsierte roter Lebenssaft aus seinem Körper. Der heiße Schmerz begleitete ihn in seine Bewusstlosigkeit. Das letzte, was er sah, war der funkelnde Diamant am Knauf des Eisenstabs. Den kenne ich, dachte er und empfing die Finsternis dankbar.
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