Stadt in Trümmern
»Freiheit ist der Zwang,
sich zu entscheiden.«
KÖNIGIN FILINU JE SAMON,
NEUNTE KÖNIGIN VON ALARCHIA,
KURZ NACH DEM ATTENTAT AUF KÖNIG NOVARO
»Die hier lebt noch.«
»Hast du ›die‹ gesagt? Frauen brauchen wir nicht! Such nach Männern, die überlebt haben!«
»Aber du hast sie dir nicht mal angesehen! Schau!«
»Was soll es da schon zu sehen geben?«
»Komm doch einfach her!«
Stiefelsohlen knirschten über Steinsplitter, verstummten dann. Ein resigniertes Seufzen ertönte. »Und? Was soll ich da sehen? Sie ist sowieso halb tot.«
»Aber... Schau dir ihren Arm an! Hier!«
Jemand packte sie am rechten Arm und verrenkte ihn nach hinten. Yudra stöhnte vor Schmerzen laut auf. Ihr ganzer Körper fühlte sich an, als wäre er zerschmettert worden. Sie erinnerte sich an gar nichts mehr, nachdem die Schwertkämpferin, Saapabia, ihr den Knauf ihrer Waffe gegen die Schläfe geschlagen hatte. Nur an das, was davor gewesen war. Das Geschrei um sie herum. Der Geruch nach verbranntem Holz und Fleisch. Was war hier los gewesen? Sie versuchte, ihren Kopf etwas zu bewegen und stieß dabei gegen etwas Weiches. Ekelhafter Gestank stieg ihr in die Nase. Sie kämpfte gegen den Drang an, sich zu übergeben. Etwas Nasses tropfte über ihren Hals. Blut? Sie war eindeutig verletzt. Aber sie lebte noch. Hoffentlich wird das auch so bleiben, dachte sie, als jemand den Ärmel ihres Oberteils hochschob. Finger gruben sich grob in ihre Haut und fuhren den Umriss der Quay-Tätowierung nach.
»Woher hast du das?«, ertönte die Stimme der Person, die zuvor nicht rüberkommen wollte. Sie gehörte eindeutig einer Frau, klang jedoch befehlsgewohnt und streng. »Nimm ihr diese verdammte Augenbinde ab!«
Die andere Person, ebenfalls eine Frau, machte sich an dem Stoffstreifen zu schaffen. Als sie den Knoten gelöst hatte, fiel gleißend helles Licht durch Yudras geschlossene Augenlider. Gequält verzog sie das Gesicht und drehte den Kopf weg. Wie lange bin ich wirklich dort unten gewesen?, fragte sie sich. Wie lange hat General Zenit Schwarzbart sich daran ergötzt, Beihun und Nurov umgebracht zu haben?
»Schau! Ihre Ohren!«, rief die zweite Frau. Yudras Haare wurden grob nach hinten gezerrt, damit man ihre Ohren besser sehen konnte. »Spitz!«
»Eine Elfe?«, wunderte die erste Frau sich. »Versteht sie dann überhaupt, was wir sagen? Kennst du hier jemanden, der Vahisisch spricht?«
»Nein.«
Wieder ein Seufzen. Yudras Arm und ihre Haare wurden losgelassen. »Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten. Lass sie hier liegen.«
»Aber die Tätowierung!«
»Zufall.«
»Aber...«
Yudra stemmte sich mit den Händen vom Boden ab, um sich aufzusetzen, die Augen immer noch geschlossen und zusätzlich fest zusammengekniffen. Ihr wurde schwindelig, aber sie schaffte es, sich halbwegs aufrecht zu halten. Sie war unglaublich schwach. Der General hatte sie gerne hungern lassen. Alleine werde ich nicht überleben. Mit zitternden Händen tastete sie nach ihrem Hinterkopf, wo sie in blutdurchtränkte Haare griff. Ein stechender und pochender Schmerz in ihrem Brustkorb sagte ihr, dass sie sich mindestens eine Rippe gebrochen hatte. Zum Glück war ihre Lunge von den Knochen nicht durchbohrt worden. Wahrscheinlich. Als sie die Hände senkte, berührte sie versehentlich das Weiche, gegen das sie zuvor gestoßen war. Haut. Kalt. Eine Leiche.
»Was ist hier passiert?«, fragte Yudra benommen und hoffte, dass die zwei Frauen noch da waren.
»Du verstehst uns also doch!«, stellte die erste fest und lachte kurz auf. »Du weißt nicht, was hier passiert ist? Ich sag dir was: Deine schöne Stadt wurde angegriffen und zerstört. Es gibt sie nicht mehr. Nur noch Ruinen. Die Leiche, die neben dir liegt, ist dein guter Freund, der dich treu zum Hafen bringen wollte, dann aber von einem der Trolle erschlagen wurde. Erinnerst du dich jetzt?«
Wie soll ich mich an etwas erinnern, dass ich nicht mitbekommen habe? Erst nach diesem Gedanken schlug die Realität über ihr zusammen. Zowuza ist zerstört? Wer hat sie angegriffen? Wozu? Wer liegt neben mir? Wenn sie ehrlich war, wollte sie es nicht wissen. Wahrscheinlich einer von Zenit Schwarzbarts Kriegern. Obwohl sie als Erdfee und Hüterin der Erde jedes Leben schätzen und beschützen sollte, fühlte sie in diesem Moment nichts als Genugtuung, dass wenigstens eines dieser Scheusale, die für Beihuns und Nurovs Tod verantwortlich waren, tot war. Wenn ich die anderen finde, werde ich keine Gnade walten lassen.
»Jetzt sag!« Wieder wurde Yudra am Arm gepackt. »Woher hast du diese Tätowierung?«
Die Dryade musste sich zusammenreißen, um der Frau keine scharfe Erwiderung entgegen zu schleudern. »Ich habe sie in Zowuza erneuern lassen.«
»Erneuern? Das interessiert mich nicht! Ich möchte wissen, wo du sie das erste Mal bekommen hast! Warum ausgerechnet diese Schlange?«
Yudra ließ sich ihre Verwirrung nicht anmerken. Es ist eine einfache Tätowierung. Rassou hat sich das Motiv ausgesucht. Hat es irgendeine Bedeutung für diese Frauen?
»Ich frage dich ein letztes Mal!« Die Frau packte die Dryade am Kinn und zwang sie dazu, den Kopf zu heben. Sofort schoss ein stechender Schmerz durch ihre Augen, als etwas Licht durch ihre Lider drang. »Woher hast du diese Tätowierung?«
»Meine Lehrerin«, gab Yudra nach. »Sie hat sie mir auf den Arm gezeichnet.«
»So? Deine Lehrerin?« Die Frau schwieg kurz und befahl dann: »Öffne deine Augen.«
Die Erdfee wollte den Kopf schüttelt, doch sie wurde immer noch am Kinn festgehalten. Also presste sie hervor: »Ich habe zu lange kein Licht gesehen. Ich könnte erblinden, wenn...«
»Wirst du nicht.«
Im selben Moment schob sich ein Schatten, wahrscheinlich die zweite Frau, vor, sodass es etwas dunkler wurde. Vorsichtig wagte Yudra es, zu blinzeln, und schlug die Augen auf. Ihr Blick wanderte zunächst ihren eigenen Körper hinab. Ihre Kleidung war größtenteils zerrissen und die Haut dadrunter blutig geschrammt. Der Boden, auf dem sie saß, war mit Staub überzogen. Und mit Asche. Hier und da waren dunkle Flecken geronnenen Blutes zu sehen. Die Leiche neben ihr war Kaso. Der Hut mit der grün-roten Feder war ihm über das Gesicht gerutscht und verdeckte die schlimmsten Verletzungen. Überall lagen Steine und zertrümmerte Teile der Hauswände. Weiter konnte Yudra nicht schauen, da das helle Licht der Sonne sie blendete.
Vorsichtig hob sie den Kopf und blickte in das Gesicht der Frau, die sie nach der Tätowierung gefragt hatte. Sie sah Yudra mit gerunzelter Stirn, funkelnden, tiefgrünen Augen und grimmig verzogenen Lippen an. Ihre dunklen Haare hatte sie sich streng zurückgebunden, sodass sie, als sie den Kopf drehte, den Blick auf eine Quay-Tätowierung an ihrem Nacken freigaben, die ein verschlungenes Muster aus drei Schlangenköpfen mit ausgestreckten Zungen darstellte.
»Kennst du dieses Zeichen?«, fragte sie.
Yudra schüttelte den Kopf, wobei sie versuchte, ihr Entsetzen nicht offen zu zeigen. Im ersten Moment hatte sie nicht verstanden, warum die Frau ihr seltsam vorgekommen war, aber jetzt erkannte sie es klar und deutlich. Dort, wo normalerweise ihre rechte Brust hätte sein müssen, war eine Art Loch. Es war, als wäre sie nie da gewesen. Oder als... wäre sie abgeschnitten worden. Der Stoff des Gewandes, das sie trug, spannte sich flach von der linken Taille bis zur rechten Schulter, während der Teil auf der anderen Seite sich vollkommen natürlich über die unversehrte Brust wölbte.
»Du hast wirklich keine Ahnung, was das bedeutet?« Die Frau warf ihre Haare zurück, zog die Augenbrauen zusammen und packte wieder Yudras rechten Arm. Ihre Finger fuhren mit festem Druck über die Quay-Tätowierung. »Nur Amazonen haben das Recht, sich eine Schlange tätowieren zu lassen. Aber du bist weder eine Amazone noch eine Elfe. Wer also bist du?«
Amazonen? Das Wort pochte in Yudras Kopf als müsste sie etwas über dieses Volk wissen, aber da war nur eine gähnende Leere. Die funkelnden Augen der Amazone erinnerten sie daran, dass sie etwas antworten musste. Kann ich ihnen verraten, dass ich eine Fee bin? Sie hörte immer noch Beihuns Stimme, der sie davor warnte, ihre Identität zu schnell zu offenbaren. Aber habe ich eine Wahl? Als der Griff der Amazone sich verstärkte, platzte sie heraus: »Ich bin eine Hüterin der Erde!«
»Eine Fee? In einer Stadt wie dieser? Wo es so viele böse Leute gibt?« Die Amazone verzog die Lippen zu einem grausamen Lächeln. »Bist du nicht froh darüber, dass wir Zowuza niedergebrannt haben?«
»Ihr wart das?« Die Frage war schneller heraus als Yudra es verhindern konnte.
Die Amazone lachte hell auf. »Ja, wir. Wir«, sie breitete die Arme aus, »sind die Namenlosen. Was für ein Zufall, dass dein Name ebenfalls ein Geheimnis ist. Wir haben mehr gemeinsam als du denkst.«
»Wir haben nichts gemeinsam!«, zischte Yudra. Allmählich spürte sie, wie wieder Kraft in ihre Glieder zurückkehrte und ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnten. »Ihr habt Tausende von Leben ausgelöscht! Unschuldige Leben!« Das Wort brannte auf ihrer Zunge, denn sie wusste genau, dass das nicht ganz stimmte. »Es ist meine Pflicht, alles Leben der Erde zu beschützen!«
»Dann hast du wohl offensichtlich versagt«, entgegnete die Amazone kühl. »Nicht nur jetzt. Zuvor auch schon. Welche Hüterin der Erde verlässt ihre Heimat freiwillig? Wie viele Leben sind dort schon ausgelöscht worden, während du dich in dieser Stadt versteckst?« Sie spuckte aus. »Feen sind alle gleich. Verstecken sich hinter ihren Gesetzen und ihren sogenannten Pflichten, aber wenn es hart auf hart kommt, fliehen sie wie Feiglinge. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Goldene Welt zugrunde geht. Die Feen verlassen ihre Heimat, geben sie einfach auf und suchen nach Abenteuern. Dafür verdienen sie keinerlei Verehrung!«
»Du verstehst nicht, worüber du redest«, sagte Yudra mit unterdrückter Wut und ballte ihre Fäuste. »Das Leben als Fee ist hart, ja, aber wir tun unser Bestes, um unser Element zu beschützen! Ich musste viele Opfer bringen! Viel zu viele! Du behauptest, wir wären feige, aber das ist schlicht und einfach falsch! Meine Lehrerin hat ihr Leben gelassen, um ihre Heimat zu beschützen! Es war vergebens, doch sie tat es mit Mut und Hoffnung im Herzen! Sie ist nie feige gewesen!«
Wieder lachte die Amazone, diesmal verächtlich. »Deine Lehrerin ist in dem Fall nicht feige, sondern dumm. Sie ist gestorben ohne dass es irgendwas gebracht hat? Wie armselig.«
Yudra explodierte innerlich. Sie hieb mit der Faust nach der immer noch lachenden Amazone, die ihrem Schwinger jedoch mit Leichtigkeit auswich und sie am Handgelenk packte. Tadelnd schnalzte sie mit der Zunge. »Wo ist deine Liebe zu allen Wesen der Erde? Du hättest mich beinahe geschlagen! Hegst du so einen Hass gegen mich? Dabei habe ich dich am Leben gelassen, dir die Augenbinde abgenommen und mich sogar mit dir unterhalten!«
»Sie war nicht armselig!«, schrie die Dryade sie an und versuchte, sich dem Griff zu entwinden, was jedoch nicht klappte. Also gab sie es auf und starrte die Amazone stumm an.
»Bist du dir sicher, dass du eine Hüterin der Erde und nicht des Feuers bist?«, fragte diese und spuckte erneut aus. »Und wo ist deine Magie hin? Warum bist du überhaupt in deiner sterblichen Gestalt?«
Yudra schwieg.
»Weißt du was?« Die Amazone ließ sie endlich los und stand auf. In ihren Händen hielt sie nun einen Bogen, in den unförmige Löcher gestanzt waren, und mehrere Pfeile. »Du hast mein Interesse geweckt. Deswegen stelle ich dich vor die Wahl: Entweder du bleibst hier liegen, inmitten der Trümmer, inmitten der Leichen, und wirst endgültig erschlagen, wenn der nächste Troll hier vorbeikommt, oder du gehst mit mir und ich bringe dich in mein Zelt, wo du mir mehr von dir erzählst und ich deine Wunden versorge. Außerdem könntest du ein gutes, warmes Bad gebrauchen. Die Wahl dürfte dir nicht sonderlich schwer fallen.«
»Aber...« Mit einer barschen Handbewegung brachte die Amazone ihre Begleiterin zum Schweigen, die ihren Schatten immer noch auf die Dryade warf.
»Nun?«, wandte sie sich erneut an Yudra.
Das soll eine Wahl sein?, dachte die Erdfee fassungslos. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr begriff sie jedoch, dass die Amazone mit ihr spielte, ihr eine Falle gestellt hatte. Als Fee darf ich diejenigen, die den Wesen meines Elements geschadet haben, nicht unterstützen. Ich darf nicht mit ihr gehen. Ich darf auch ihre Hilfe nicht annehmen. Also sollte ich hier sterben. Hier und jetzt. Ich habe als Hüterin der Erde ohnehin versagt. Ich sollte sterben. Ich sollte diese Namenlosen vertreiben, selbst wenn es mein Leben kostet. Das wäre das Richtige. Das wäre das, was Rassou getan hat. Aber... Warum habe ich Angst? Sie spürte sie tief in sich drin. Die Angst vor dem Tod. Hätte da nicht Mut sein müssen? Mut, zu sterben, um das eigene Element zu beschützen?
Hilfslos sah sie zu der Amazone auf, auf deren Lippen sich ein triumphierendes Lächeln ausbreitete. Sie wird wissen, dass sie recht mit ihren Behauptungen hatte, wenn ich mit ihr gehe. Sie hätte den Beweis dafür, dass Feen feige sind und ihre Pflichten nur so lange erfüllen, wie sie sich sicher fühlen. Allein deswegen sollte ich ihre Hilfe ablehnen. Ich sollte ihr zeigen, dass nicht alle Feen so sind, wie sie denkt.
Doch als sie den Mund öffnete, kamen die falschen Worte heraus: »Ich komme mit dir.«
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