Silber auf Schwarz

»Und was ich sah, war kein Turm.

Was ich sah, war der Tod selbst.«

AUFZEICHNUNG EINES UNBEKANNTEN VERFASSERS,

885 DGW

»Das reicht für heute!«

Erleichtert legte Tara ihre Feder weg und massierte sich den rechten Handballen. Zwar war sie daran gewöhnt, Kleidung zu nähen und Pfeile zu schnitzen, aber Schreiben war viel schwieriger als sie gedacht hatte. Zunächst einmal war da die komplizierte Fingerhaltung und man musste darauf achten, genau den richtigen Druck auszuüben und nicht zu viel Tinte aufzunehmen. Etwas missbilligend blickte sie auf den Tintenfleck ganz am Anfang ihres Blattes.

Die Jägerin wusste immer noch nicht, was sie geschrieben hatte, doch Cor hatte ihr versprochen, es später vorzulesen. Hoffnungsvoll sah sie zu dem Heiler, der tief in ein Buch mit schwarzem Einband vertieft war. Er hatte immer noch nichts zu dem Verschwinden der Fee gesagt und machte auch jetzt keine Anstalten, nach ihr zu suchen. Neben ihr lehnte Yatepa sich auf seinem Stuhl zurück, sodass die Lehne sich beträchtlich nach hinten bog.

»Ziemlich anstrengend«, seufzte er. »Ich hasse Bücher. Wie kann Nurov nur so lange hier bleiben?«

»Ich bleibe hier, weil es bis vor Kurzem noch keinen jüngeren Bruder gab, der mich nerven konnte«, antwortete er schmunzelnd und lachte kurz auf. Nurov hatte sich zum Abend hin zu ihnen gesellt, um Cor bei seiner geheimnisvollen Suche zu helfen. Doch der Wolkenleser hatte abgelehnt, also hatte er sich damit begnügt, Tara und Yatepa auf ihre Fehler hinzuweisen und die Bücher wieder in die Regale zu ordnen. Jetzt aber stand er von seinem Stuhl ihnen gegenüber auf und winkte Besqu zu, der vorbeigeflogen kam. »Wie viele Leute sind noch in der Bibliothek?«

»Außer Ihnen, Herr, Ihren Freunden und den Angestellten nur noch der Krieger vom Nachmittag, der seine Strafarbeit erledigt, und ein Elf, der sich in der Abteilung für die Völker der Goldenen Welt befindet und tief in seine Lektüre vertieft ist.«

»Gut, dann geh zu ihm und sage ihm, die Bibliothek hat geschlossen. Und der Krieger kann auch gehen.«

»Ja, Herr.« Der Quatto machte einen eleganten Luftsalto und flog dann über die Schränke hinweg davon. Nurov gab einen erleichterten Laut von sich und schloss für einen kurzen Moment die Augen, nur um sie kurz darauf wieder zu öffnen.

»Habt ihr eine Unterkunft in der Stadt?«, fragte er seinen Bruder.

»Nein. Es wäre sehr nett, wenn du uns drei Betten zur Verfügung stellen könntest«, antwortete Yatepa.

»Und die Fee?« Tara blickte von einem zum anderen. »Wir müssen sie suchen. Sie gehört doch mit zu unserer Gruppe. Vielleicht ist ihr etwas passiert?«

»Ihr?« Yatepa lachte. »Sie ist eine Hüterin der Erde. Glaub mir, sie hat schon mehr Gefahren getrotzt als wir alle zusammen. Sie kann schon sehr gut auf sich selber aufpassen. Ich wette, sie kann sogar dem Tod befehlen, von ihr fern zu bleiben.« Bei seinen letzten Worten legte sich ein dunkler Schatten über seine smaragdgrünen Augen. Kurz meinte Tara, der Schatten hätte wieder Besitz von ihm ergriffen, doch er schien sich nur Sorgen zu machen. Um wen? Doch nicht um die Dryade? Doch dieser Ausdruck verschwand genauso schnell wie er gekommen war und der ehemalige Bote fügte schnell hinzu: »Außerdem ist sie eine verdammte Fee. Wer weiß, was sie vorhat? Vielleicht hat sie Zowuza schon lange verlassen, um sich um ihre eigenen Sachen zu kümmern.«

»Ich stimme Yatepa voll und ganz zu«, ertönte auf einmal die Stimme von Cor. Der Wolkenleser hatte das Buch beiseite gelegt und war aufgestanden. Dabei stützte er sich auf seinen Stab, um nicht zu straucheln. »Wir brauchen uns wirklich keine Sorgen um sie zu machen.« Die Jägerin sah ihn entgeistert an und konnte kaum glauben, was sie hörte. Sie versuchte, in seine Augen zu blicken, doch er wich ihr geschickt aus. Mit seiner rechten Hand deutete er auf die beiden Brüder. »Nurov, zeige Yatepa schonmal das Zimmer, in dem wir übernachten werden und sorge dafür, dass er sich so wenig wie möglich bewegt. Seine Wunden sind immer noch nicht ganz verheilt.«

Nurov nickte ernst, packte seinen Bruder bei der Schulter und zog ihn vom Stuhl hoch. Die beiden bogen um die Ecke. Sobald ihre Schritte verklungen waren, bewegte Cor sich auf sie zu und setzte sich schräg neben sie, von wo Nurov vorher ihre schreckliche Handschrift kritisiert hatte. Der Wolkenleser lehnte seinen Stab an den Tisch und beugte sich zu ihr vor. Sein Gesicht hatte einen harten Ausdruck angenommen und er hatte seinen Mund fest zusammengekniffen.

Er räusperte sich kurz, bevor er zum Sprechen ansetzte. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dir alles zu sagen, was ich weiß.«

»Gute Idee«, pflichtete Tara ihm bei. Das hat auch so schon viel zu lange gedauert! Neugierig beugte sie sich zu ihm vor, bis nur noch wenige Handbreiten sie trennten. Sie atmete tief ein und wappnete sich für das, was jetzt kommen würde.

»Es hat einen Grund, warum ich Yatepa mitgenommen habe«, erklärte Cor zuallererst und zeigte auf das Blatt Papier, auf dem der Bote geübt hatte. »Ich weiß zwar nicht, ob der Schatten unsere Sprache verstehen kann, doch lesen kann er auf jeden Fall. Vielleicht nicht unbedingt das, was Yatepa abgeschrieben hat, aber dafür die Magie, die mit dem Buch verbunden ist.« Diesmal deutete er auf den dicken Wälzer auf dem Tisch. Die Seiten waren schon gelb geworden und an einigen Stellen konnte Tara Spuren von Ruß erkennen, als hätte jemand versucht, es in Brand zu stecken. Besonders auffällig war jedoch das silberne Zeichen, das auf den Buchdeckel gedruckt war und auf jeder Seite immer wieder auftauchte.

»Was ist so besonders an diesem Buch?«, wollte die Jägerin wissen.

»Dieses Zeichen, das du hier siehst, ist das Zeichen einer der Pixies. Wie du weißt, sind insgesamt achtundzwanzig Feen am Anfang der Goldenen Welt durch das Große Tor gekommen. Sieben Hüterinnen für jedes der vier Elemente. Die Nymphen verschrieben sich der Luft und zogen sich zurück. Sie studierten die Magie am intensivsten und sie waren es, die den Elfen dabei halfen, ihre Flügel zu erwerben, indem sie sie in einige Geheimnisse der Magie einweihten. Hauptsächlich entstanden dabei Visionen der Zukunft und nur sehr wenige überstanden die ersten Tage, wenn die Nymphen ihnen den Weg zu ihrer Inneren Magie geöffnet hatten. Daraufhin beschlossen die Hüterinnen der Luft, nur männliche Elfen zu Magiern auszubilden, die dem Tod Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden und überlebt hatten.«

»Du hast eben gesagt, sie bekamen Visionen der Zukunft?« Tara versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen, was jedoch nicht wirklich klappte. Sie trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. »Ich habe Visionen der Vergangenheit. Hängt das zusammen? Bin ich eine Nachfahrin von einem dieser Elfen? Bei Jeovi, das wäre...«

»Du bist eine kleine Seherin, keine große«, unterbrach Cor sie schroff.

»Aber die Nymphe von Alarchia hat gesagt...«

»Die Nymphe?« Der Wolkenleser wirkte überrascht. »Sie hat zu dir gesprochen? Was hat sie gesagt?«

Tara versuchte, das Gedicht der Luftfee so genau wie möglich wiederzugeben. »Warum ist sie ausgerechnet zu mir gekommen, wenn ich, wie du gesagt hast, kein Elfenblut in mir habe?«, fragte sie, als sie geendet hatte.

Der Heiler lachte kurz auf. »Das hat sie dir doch schon gesagt!« Als Tara ihn fragend ansah, schmunzelte er nur und wiederholte einen Vers, den sie ihm kurz zuvor vorgetragen hatte:

»Du hast mich gerufen.

Ich bin, wie die Winde mich schufen

allein mit dir in diesem Weiß.

Und nun, Kind, schließe den Kreis.«

Er klatschte in die Hände und zeigte dann begeistert mit dem Finger auf sie. »Du hast sie gerufen!«

»Aber das habe ich ni...«

»Du warst in einer Trance. Da kann wer-weiß-was passiert sein«, schnitt Cor ihr das Wort ab. Seine Augen hatten einen Glanz angenommen, den Tara schon seit Langem nicht mehr bei ihm gesehen hatte. »Und eine Nymphe würde nie einen Hilferuf einfach so ignorieren. Sie wird immer versuchen, zu helfen. Egal, wie. Nur bemerken die meisten ihre Hilfe nicht, weil sie zu beschäftigt mit sich selbst sind. Du aber hast ihr Interesse anscheinend so sehr geweckt, dass sie persönlich zu dir gekommen ist. Sie hat erkannt, dass du eine kleine Seherin bist und ihre Hilfe brauchst. Und wie sie auch schon gesagt hat, wird jedem eine Gabe oder Macht von Jeovi geschenkt. Doch nicht alle schaffen es, sie zu benutzen oder überhaupt zu entdecken.

Jeovi, Erschafferin allen Lebens,

die gab uns die Macht des Gebens.

Dir gab man die Macht des Sehens,

wie mir die Macht des Säuseln und Wehens.«

»Worauf willst du hinaus?«, hakte Tara nach.

»Das weiß ich ehrlich gesagt selber nicht so genau. Irgendwie hängt alles zusammen. Doch noch sehe ich nur den Schatten an der Wand und nicht die Figur selbst. Die Nymphe hat dich auch vor den Schatten gewarnt, nicht wahr?«

Die Jägerin wiederholte die Verse stockend:

»Die Schatten, Wesen der dunklen Nacht,

wissen dies, also gib Obacht.

Wollen dich finden, wollen dich quälen,

Wollen deine Macht dir stehlen.«

Cor nickte und schlug mit der Hand auf den Tisch, sodass Tara auf ihrem Stuhl zusammenzuckte. Etwas Staub stieg in die Luft und sie musste niesen. »Genau aus diesem Grund«, erklärte der Wolkenleser mit drängender Stimme, »solltest du dich von Yatepa eigentlich fern halten. Ich habe so etwas schon vermutet. Warum hätte er dich sonst angreifen sollen?«

»Aber heute hast du mich nicht daran gehindert.« Sie legte fragend den Kopf schief. »Warum?«

»Ganz einfach.« Der Heiler holte tief Luft. »Es hängt alles zusammen. Wie gesagt, ich weiß noch nicht alles, dafür brauche ich mehr Zeit, aber bei einem bin ich mir vollkommen sicher: Der Schatten in Yatepa hatte den Auftrag, jede magiebegabte Person zu töten. Also auch dich. Doch anscheinend sollte er dies tun ohne Aufsehen zu erregen. Du zum Beispiel. Wen kümmert schon eine Frau mit Feuermalen überall am Körper, die nach einem Waldbrand tot aufgefunden wird. Man hätte einfach gesagt, dass du an deinen Verletzungen gestorben wärst. Oder an einer Rauchvergiftung, wenn man schon von deinen Narben wusste. Nur leider war ich gerade noch rechtzeitig dort, um das zu verhindern. Zum Glück eher gesagt. Und zum Pech für den Schatten. Denn du hast den Angriff überlebt und weißt somit, dass mit Yatepa etwas nicht stimmt und ich habe deine Ermordung verhindert, weiß es also auch. Dem Schatten blieben nur zwei Möglichkeiten. Entweder er tötet uns an Ort und Stelle, was nicht geklappt hat, da ich Yatepa niedergeschlagen habe, oder er folgt uns, wartet den richtigen Augenblick ab und tut es dann. Nun ja«, Cor seufzte, »er hat die zweite Möglichkeit gewählt. Was blieb ihm auch anderes übrig?«

»Das heißt, der Schatten möchte uns wirklich töten?« Tara riss voller Entsetzen die Augen auf und krallte sich mit ihren Fingern in das Holz des Tisches.

»Er möchte es nicht. Er muss es tun. Er hat keine andere Wahl.« Der Wolkenleser griff sich an den Kopf und runzelte die Stirn. »Ich möchte gar nicht wissen, was passiert, wenn er seinen Auftrag vermasselt. Damit würde er seine Herrin nämlich dazu bringen, in die Offensive zu gehen, was diejenige ja anscheinend noch nicht möchte.«

»Seine Herrin?«, fragte die Jägerin. »Eine Frau?« Dieselbe Frau aus der zerstörten Stadt?

»Das ist sehr wahrscheinlich. Aber lass mich erst zu Ende erzählen.« Cor machte eine kurze Pause und schien zu überlegen, wo er seine Ausführungen unterbrochen hatte, als Tara plötzlich etwas einfiel.

»Und die Dryade?«

Der Heiler sah sie verwundert sein. »Was ist mit ihr?«

»Du hast gesagt, der Schatten hätte den Auftrag, alle magiebegabten Personen zu töten. Warum hat er sie nicht getötet, als sie alleine im Wald waren?«

»Erinnerst du dich noch daran, wie ich sie bei unserem Aufeinandertreffen besiegt habe?«

Ihr Blick wanderte zu Cors Stab. Immer noch war der weiße Stein zwischen den Holzstrukturen am oberen Ende zu erkennen. Nun ging kein Leuchten mehr davon aus, doch er strahle eine gewisse Macht aus, die man nur wahrnahm, wenn man sich genau darauf konzentrierte. Der Wolkenleser hatte ihren Blick bemerkt und nickte.

»Ich habe sie einfach so besiegt. Dabei ist eine Fee im Bereich der Magie sehr viel mächtiger als wir. Für unser kleines Duell hat sie ihre letzte Magie verbraucht, die sie an ihren Ring gebunden hatte. Solange diese Magie in einem Gegenstand oder Körper eingeschlossen ist, kann man sie nicht spüren. Deshalb haben weder sie noch ich die Dunkelheit in Yatepa wirklich gespürt. Und das wiederum heißt, dass der Schatten bei seiner Begegnung mit der Dryade gar nicht wusste, wen er vor sich hatte.«

»Aber ihre Ohren...«

»Auch Elfen und andere Geschöpfe haben spitze Ohren.«

»Aber sie hat doch gesagt, wer sie ist!«

»Gesagt hat sie das«, gab Cor zu. »Das ist einer der Gründe, warum ich in die Bibliothek wollte. Ich wollte etwas über Leute erfahren, die von jemandem besessen sind oder besessen waren. Dabei ist mir etwas Wichtiges aufgefallen: Die Geister, in unserem Fall der Schatten, können nur fühlen. Also nur Auren, so wie ich, und Magie. Ich habe mir die Aura unserer Dryade angeguckt. Sie sieht ganz normal aus. Wie die einer Elfe zum Beispiel. Erst bei unserem kleinen Duell muss dem Schatten wahrscheinlich klar geworden sein, wen er die ganze Zeit um sich herum hatte.«

»Also ist es eigentlich Glück, dass sie keine Magie verwendet hat, bevor wir uns trafen«, stellte Tara fest. »Und danach war es dem Schatten zu riskant, uns alle drei umzubringen. Wir sind ein zu großer Gegner.«

»Ganz genau«, entgegnete Cor zufrieden und lächelte. »Zwar ist seine Magie stärker als unsere, doch er kann sie nicht benutzen, solange er in Yatepas Körper steckt.« Der Wolkenleser legte seine Hand auf den dicken Wälzer mit dem silbernen Zeichen. »Der Schatten hat die Magie dieses Buches gelesen, als Yatepa und du die Seiten abgeschrieben habt.«

»Ist das gut?«, fragte Tara. »Oder... schlecht?«

»Wie gesagt, es gibt einen Grund, warum ich ihn mitgenommen habe. Und auch einen, warum er dieses Buch zum Üben bekommen hat. Es wurde von der sechsten Pixie geschrieben.« Cor sprach die letzten Worte so aus, als wäre es etwas Besonderes, obwohl die Jägerin nicht verstand, was.

»Die sechste Pixie?«

Der Heiler nickte andächtig mit dem Kopf und zog seine Hand wieder zurück. »Sie ist die sechstgeborene der Feuerfeen, war jedoch die letzte, die durch das Große Tor trat. Sie wurde betrogen von ihrer Schwester, der Letztgeborenen.«

»Was ist so schlimm daran?«

»Sie kam als letzte durch das Tor, obwohl ihr eigentlich eine höhere Position zustand. Die siebte Pixie brachte sie mit einer List dazu, das zu tun. Seitdem ist ihre Magie die schwächste aller Feuerfeen. Denn bei jedem Schritt, den man durch das Große Tor tat, nahm man einen Teil seiner Magie mit sich. Die sechste Pixie wurde also zu der Fee mit der geringsten Begabung für Zauber.«

Tara musste schmunzeln. »Deshalb haben wir Menschen also nicht die Fähigkeit, Magie zu beherrschen. Wir kamen als letztes Volk durch das Große Tor.«

»Ja«, bestätigte der Wolkenleser und fuhr sogleich fort: »Nun denn, die sechste Pixie wurde schrecklich wütend. Sie schwor sich, Rache an ihrer Schwester zu nehmen, doch sie hatte keine Chance gegen sie. Weil ihre Schwester begabter war, konnte sie sie nicht besiegen, doch erst nach vierhundert Jahren eines schrecklichen Krieges begriff sie das und gab auf. Jedoch nur vorläufig. Sie sperrte sich in ihrem Turm ein, dem Huyu Yatto, was übersetzt Turm des Schreckens bedeutet. Jahre vergingen. Aus Jahren wurden Zeitalter und aus Zeitaltern eine Ewigkeit. Bis die Tore des Turms sich öffneten. Ströme von Blut flossen hinaus. Leichen stapelten sich in allen Winkeln und Höhlen. Ratten fraßen das, was von den armen Geschöpfen übrig geblieben war, und huschten davon. Erste Gerüchte verbreiteten sich in der Goldenen Welt. Man munkelte, dass die sechste Pixie gestorben sei. Man behauptete, ein dunkler Zauber liege über Huyu Yatto, der einem die Magie und das Leben aussaugt. Man sagte, es wurde ein Buch gefunden, so schwarz wie der Tod selbst und mit einem silbernen Zeichen drauf, das mitten in einem Blutsee lag. Wer es öffnet, verfällt der Dunkelheit. Wer es liest, wird wahnsinnig. Wer versteht, was darin geschrieben ist, stirbt eines qualvollen Todes ohne in Jeovis Reich zu kommen und ist fortan ein Geist, der sich vor den Strahlen der Sonne verstecken muss.«

Tara fuhr ein Schauer über den Rücken und schnell wandte sie den Blick von dem Buch ab. »Was ist das für ein Buch? Was steht darin? Und wie kommt es überhaupt in diese Bibliothek? Hier kann doch jeder einfach reinspazieren, es aufschlagen und damit versehentlich das Ende seines Lebens einleiten!«

»Um deine letzte Frage zu beantworten: Es stand nicht im Regal, sondern ich musste mich erst durch unzählige Bücherlisten arbeiten, bis ich es endlich fand. Dann habe ich Nurov darum gebeten, es mir zu holen.« Ein belustigtes Lächeln lag auf seinen Lippen, aber schnell wurde er wieder ernst. »Was deine anderen Fragen angeht: Niemand hat das Buch der sechsten Pixie je ganz gelesen und die meisten verstehen auch nicht, was das Geschriebene bedeutet. Doch ich bin ein Wolkenleser. Eines der ersten Geschöpfe, die das Große Tor durchschritten haben. Ich schaffe es, einige Worte zu lesen, ohne der Dunkelheit zu verfallen.« Der Wolkenleser drehte das Buch zu sich um, sah der Jägerin einmal tief in die Augen und senkte dann den Blick. »Ich muss es nur lesen und darf nicht verstehen, was dort steht. Du musst für mich denken.«

Tara nickte, auch wenn sie wusste, dass der Heiler sie nicht sehen konnte. Das schien ihn jedoch nicht zu stören. Seine Stimme zitterte, als er vorlas: »Dies sind die Aufzeichnungen Zacharias, der sechsten Pixie, der Feuerfee, der Hüterin des Feuers, die als siebte durch das Große Tor ging, Herrin von Huyu Yatto, Fürstin der Ewigen Flammen in Leôria, dem dritten Land der Goldenen Welt. Ich schreibe das vierhundertzweite Jahr meiner eigenen Verbannung in Huyu Yatto, dem Turm des Schreckens in der Sprache der Menschen. Es ist das Jahr der Harpyie nach meiner Zeitrechnung und der vierzehnte Tag des Sichelmondes. Mein fünfzehnter Zauber ist gescheitert. Jahre der Verschwendung sind vergangen und immer noch habe ich nicht genügend Magie in mir, um meine Schwester zu besiegen, die mich betrogen und verraten hat. Der Hass in mir nährt sich von den genommenen Leben und dem Leben, das ich brauche, um meine Versuche fortzuführen. Ich werde es nun mit den Furien versuchen. Ihre Magie ist nicht stark genug und währt nicht lange, doch ihr Wille, zu Überleben ist groß. Mein Rabe ist soeben gekommen und berichtet mir ihre Ankunft. Bald werde ich mit dem sechzehnten Versuch beginnen.«

Cor schüttelte den Kopf, als wolle er eine lästige Fliege abschütteln, übersprang einige Seiten und konzentrierte sich wieder auf den Text.

»Es ist das Jahr der Chimäre nach meiner Zeitrechnung und der achte Tag des Mordmondes. Mein sechszehnter Zauber ist gescheitert. Nur noch mehr Leichen hinter den Mauern meiner Festung. Zerfallen sind meine Hoffnung und meine Liebe. Zerbrochen sind meine Seele und mein Herz. Das Blut unzähliger Geschöpfe tropft aus meinem Haar und von meinen Fingern. Meine Augen haben schon so lange kein Licht mehr gesehen. Meine Füße sind wund. Ich nehme nur noch die Schreie meiner Gefangenen unter der Erde und das ängstliche Wimmern meiner Versuche wahr. Bald wird das Ende kommen. Bald werde ich ein Mittel finden. Meine Aufzeichnungen werde ich verwahren als Erinnerung daran, was sie mir angetan hat. Der Dunkle. Er eilt her, um zu helfen. Meine Sinne wie im Nebel, wie erschöpft mein Herz. Mezeh me keluc Zish? Mezeh me hrot Gohrbul?«

Tara kniff die Augen fest zusammen. Ihre Ohren dröhnten und sie kämpfte darum, nicht zu schreien. Eine Träne lief ihre Wange hinab. Die letzten beiden Sätze, die der Wolkenleser vorgelesen hatte, hingen immer noch in der Luft. Unwillkürlich bemerkte die Jägerin, dass das Licht der Kerzen vom Kronleuchter schwächer geworden war.

»Es ist das Jahr der Chimäre nach meiner Zeitrechnung und der dreißigste Tag des Knochenmondes. Schreie überall. Die Spuren der Verwüstung ziehen sich durch Huyu Yatto. Sie haben sich gegenseitig getötet. Niemand ist mir geblieben bis auf die Ratten, die sich über die Leichen hermachen. Es gibt kein Licht in der Dunkelheit. Doch es gibt auch keine Schatten. Alles wird schwarz. Die letzte Kerze ist soeben erloschen und das letzte Fenster verbarrikadiert. Ich ziehe mich zurück. Ich brauche Ruhe. Immer noch höre ich die Schreie durch die Gänge hallen. Sie verfolgen mich bis in meine Träume. Ich bin schlaflos. Ein wacher Geist in der Finsternis. Aber nicht allein. Knochenhände. Rot glühende Augen. Blasse Haut. Seine Unerschrockenheit zieht mich an. Der Dunkle ist der wahre Herrscher. Er soll König sein neben mir. Sitzen auf einem Thron aus Gold und Silber und funkeln im Licht des roten Mondes Keo. Allmählich werden meine Sinne besser, meine Schritte entschlossener, mein Atem ruhiger. Mein Herz schlägt im Einklang mit dem Tod.«

Cor holte rasselnd Luft und blätterte bis zur Mitte des Buches. Die Schrift war kleiner geworden und an einigen Stellen überdeckten rote Flecken die Buchstaben.

»Es ist das Jahr der Scharfkralle nach meiner Zeitrechnung und der einundzwanzigste Tag des Mordmondes. Endlich haben sich alle meine Träume erfüllt. Die Lösung war nah, so nah. Ich brauchte nur Zeit zum Denken, Planen, Hassen und Schreiben. Nur der, der Blut von meinem Blute ist, wird die nächsten Seiten entziffern können. Nur wer durch meine Augen gesehen, durch meine Ohren gehört und durch meine Haut gefühlt hat, wird das lesen können. Nur wer sich meiner einst bemächtigt hat, wird das lesen können. Der Dunkle ist es. Auch die, die Blut von seinem Blute sind, können die nächsten Seiten entziffern. Ich habe abgeschlossen. Mein Blut wird gebraucht, wird vergossen. Bald werde ich Rache nehmen können an meiner Schwester. Bald wird sie wissen, was es heißt, verraten worden zu sein. Bald, sehr bald. Es müssen nur noch einige Vorkehrungen getroffen werden. Das Siegel, das nicht gebrochen werden darf, muss gebrochen werden. Das Geheimnis muss verborgen bleiben. Verborgen in diesem Buch. Mein Zeichen wird es sein, das all jene sehen, die es lesen und verstehen werden. Verdammnis soll über jene kommen, die es gesehen haben. Der Zauber wird stark sein, sehr stark. Nur einer von uns wird überleben. Der Dunkle oder ich. Ich habe mich entschieden. Früher oder später gelange ich in die richtigen Hände. Früher oder später wird alles verfallen, was mich versteht. Ich werde eins mit dem Papier. Ich werde eine Seele, verbannt aus dem Reich der Toten. Zaisha, Mehrsha un Deborsha.«

Es wurde dunkel in der Bibliothek. Mit einem Schlag erloschen alle Kerzen der Kronleuchter und tiefe Finsternis legte sich über alles. Tara schnappte erschrocken nach Luft, als eine eisiger Windhauch über ihre Haut fuhr. Sie hörte nur noch das gequälte Stöhnen des Wolkenlesers und ein leises Zischen wie ein Schwert, das gezogen wurde. Kaltes Metall legte sich an ihre Kehle und eine Stimme flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie nicht verstand.

Plötzlich formten sich die Worte zu Sätzen. Immer die gleichen Sätze auf verschiedenen Sprachen: »Du hast das Buch der Zacharia gesehen, du hast verstanden, was darin steht, so wie ich es verstanden habe. Doch du bist weder Blut von ihrem Blut noch von dem des Dunklen. Wer bist du, dass du es wagst, es zu verstehen? Wer bist du?« Ein langgezogenes Zischen voller Hass drang in ihr Bewusstsein. »Ich weiß, wer du bist. Du hast eine Macht in dir, die sehr selten ist. Gib sie uns, kleine Seherin, gib sie uns!«

Die Jägerin rang nach Luft. Das Metall an ihrer Kehle schlitzte in ihre Haut und sie spürte, wie ihr ein Blutrinnsal den Hals hinunter lief. Ihr Mund formte sich zu einem stummen ›Ja‹, doch sie kämpfte gegen den Drang an, es laut auszusprechen. Sie wusste, wenn sie es sagte, würde der Schatten sich in ihr einnisten und sie wäre genauso unberechenbar wie Yatepa. Genauso unberechenbar wie die besessenen Himmelskrieger in der Stadt aus ihrer Vision. Das durfte nicht passieren. »Nein!«, schrie sie so laut sie konnte.

Im selben Moment blitzte plötzlich ein greller Lichtstrahl auf. Der Schatten hinter ihr zischte erschrocken auf, als der Blitz ihn berührte, wirbelte herum und schoss davon in die Dunkelheit zwischen die Bücherschränke. Taras Herz klopfte ihr bis zum Hals. Voller Entsetzen stellte sie fest, dass Cor auf seinem Stuhl zusammengesunken war. Einige schwarze Strähnen in seinem Haar hatten an Farbe verloren und seine Haut war seltsam blass geworden.

Hastig stürzte sie zu dem Wolkenleser und drehte sein Gesicht so, dass sie es erkennen konnte. Er hatte die Augen geöffnet und starrte sie mit leerem Blick an. Tränen traten ihr ins Gesicht. Das kann nicht sein! Er ist nicht tot! Bei Jeovi! Ein Schluchzen kam über ihre Lippen und sie sank neben dem Stuhl des Heilers zu Boden. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte stumm.

Auf einmal näherten sich ihr Schritte und eine Hand schüttelte sie sachte an der Schulter. Tara wollte die Hand abschütteln, wagte es aber nicht. An dem Mann hinter ihr war etwas, das sie stutzig machte. Sie erinnerte sich an das, was Nurov ihr erzählt hatte. Wortlos erhob sie sich, blinzelte die Tränen weg und nahm verschwommen Beihun wahr, der sich über Cor beugte. Der Wächter des Wissens erstrahlte in strahlendem Weiß und auch sein Haar hatte die Farbe von grellem Sonnenlicht. Seine Helligkeit blendete die Jägerin und sie wandte den Kopf zur Seite.

»Sei unbesorgt, kleine Seherin. Dem Wandler ist nichts geschehen. Er ist nur in einen tiefen Schlaf gefallen. Die Schwarze Magie der sechsten Pixie hat seine Kräfte fast vollkommen ausgezehrt. Gehe zu Nurov und Yatepa. Hier ist es nicht sicher. Der Schatten hat Yatepas Körper freiwillig verlassen, doch er wird sich einen neuen suchen. Du musst dich beeilen.«

Taras Tränen waren fast versiegt und sie nickte benommen. Schwankend erhob sie sich auf die Beine, zitterte und rannte los, während hinter ihr Beihun mit gedehnten, magischen Worten auf Cor einsprach, in der Hand einen seltsamen Stab. Bei Jeovi, warum ist alles so schrecklich? Und was hat die sechste Pixie mit Gasoka zu tun? Es sind zwei völlig verschiedene Personen, sonst hätte ich den Turm des Schreckens in meinen Visionen gesehen. Hoffentlich wird es Cor gut gehen. Hoffentlich kommen wir alle bald aus diesem endlosen Kreis raus.

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Ich muss sagen: Das ist eines meiner Lieblingskapitel XD Es hat ewig gedauert, bis ich mit ihm zufrieden war.

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