Schicksalstod

»Doch in der Dämmerung erschien die Göttin der Nacht

mit einem Kind auf dem Arm,

mit Misare, der Göttin der Tücke und der Schlangen,

denn ihr Herz war vergiftet worden.

Die Götter des Tages erschraken furchtbar,

doch legten sie Lih und Misare, beiden,

die Ketten an und sperrten sie im Mondpalast [...] ein.

[...] Doch in ihren Herzen wuchs das Böse

und in ihren Köpfen reifte eine List.«

AUS DEM HEILIGEN BUCH

»DIE GESCHICHTE DES SEINS«

Verzweifelt versuchte Aktur, die Bewegungen der Schlangenfrau vorherzusehen, um sie wenigstens ein Mal zu treffen. Sie war zwar unbewaffnet und hatte auch keinen Schild, bewegte sich aber mit einer solchen Schnelligkeit und Präzision, dass sie jedem seiner Schwerthiebe scheinbar mühelos auswich. Jeder Schlag ging ins Leere. Während er sich aufs Äußerste konzentrierte, wirkte seine Lehrerin eher gelangweilt und enttäuscht, sorgte sich gar nicht darum, dass er sie trotzdem treffen könnte. Aber irgendwann werde ich das Schwert doch wohl gemeistert haben! Sie hat mir versprochen, dann zu zeigen, wie ich mit meiner Inneren Magie umgehe!

Plötzlich schoss der hintere Teil ihres Schlangenleibs vor und stieß ihn mitten in der Bewegung von den Füßen. Mit einem überraschten Schrei fiel er zu Boden, wobei das Schwert wieder seiner Hand entglitt. Im Gegensatz zu den letzten Malen kroch er diesmal auf seine Waffe zu. Doch kurz bevor er den Griff packen konnte, war die Schlangenfrau schon da und hob es selbst auf. Sie ließ es einmal in der Luft herumwirbeln und deutete dann mit der Spitze auf seine Kehle. »Du bist tot«, sagte sie ruhig. Ihre gelben Augen glühten vor Ärger. »Wo ist deine Konzentration! Erst war sie da, dann war sie auf einmal weg! Woran hast du gedacht?«

»An die Magie«, antwortete Aktur ehrlich, während er wieder auf die Beine kam, wobei er die Schwertspitze keinen Moment aus den Augen ließ. »Es tut mir leid.«

»Mit Entschuldigungen kommst du nicht weit!«, zischte die Schlangenfrau. »Wenn ein Krieger sich bei jedem, den er getötet hat, entschuldigen würde, würde er noch zwei Stunden nach Ende des Kampfes auf dem Schlachtfeld umher wandern!«

Akturs Gesicht verfinsterte sich. »Es ist wichtig, sich zu entschuldigen«, wandte er ein. »Denn es wird ein Tag kommen, an dem man es nicht mehr kann.« Einige Sachen, die seine Lehrerin ihm sagte, gefielen ihm ganz und gar nicht. Er wusste nicht, wie alt sie war – wahrscheinlich mehrere hundert Jahre – aber sie schien jedes Feingefühl für sterbliches Leben verloren zu haben.

»Du bist also der Meinung, dass man sich entschuldigen sollte, so viel man kann, solange man noch nicht tot ist?«, hakte die Schlangenfrau nach. Ihre Finger mit den langen, schwarzen Fingernägeln strichen langsam, fast zärtlich über die silberne Klinge des Schwertes.

»Es ist besser, als mit kaltem Herzen und ohne Gewissen durch die Welt zu ziehen«, antwortete Aktur entschlossen. Er war überrascht, dass sie seine Äußerung nicht nur zuließ, sondern sogar darauf einging. Normalerweise hatte sie ihn immer unterbrochen und direkt eines Besseren belehrt.

»In gewisser Weise hat jeder von uns ein kaltes Herz«, entgegnete seine Lehrerin. »Du bist ein Professor, aber musstest du für deine Kräutermischungen nicht Pflanzen ausreißen? Hast du nicht Fleisch gegessen? Trägst du nicht Stiefel aus Leder? Hast du dich bei diesen Pflanzen und Tieren entschuldigt? Bestimmt nicht.«

Aktur wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Wenigstens weiß sie nicht, dass ich einige Tiere des Silberwaldes gefangen und verkauft habe, um Geld für meine Forschungen zu haben. Er war nie stolz darauf gewesen, hatte sich deswegen sogar geschämt. Aber er hatte immer darauf geachtet, dass er die Tiere nicht verletzte und sie nur an Kunden weitergab, die sie sich als Haustiere halten und nicht schlachten wollten.

»Hast du jemals um die zertrampelten Ameisen unter deinen Füßen geweint?« Die geschlitzten Pupillen der Schlangenfrau schienen sich wie zwei Pfeilspitzen in ihn hinein zu bohren. »Bestimmt nicht. Du hast dich nicht bei ihnen entschuldigt, hast ihrer Königin keine Entschädigung für den Verlust gegeben. Jetzt stelle dir die Frage, ob du ein kaltes Herz hast oder nicht. Ich weiß, dass du darauf keine Antwort finden wirst. Niemand von euch Elfen kann das. Ihr haltet euch für die Besten der Besten, für die Herrscher dieser Welt. Anderen überlegen. Ihr sagt, ihr sorgt euch um das Leben derer, die schwächer sind als ihr, aber tut ihr das?« Sie breitete die Arme aus. »Wie viele Lebewesen gab es früher in diesem Wald? Und wie viele Himmelskrieger sind beim letzten Perlenwaldbrand gekommen, um sie zu retten? Ich sage es dir: Kein Einziger. Warum nicht? Auch darauf habe ich eine Antwort: Sie haben alle ein kaltes Herz. Du auch, Elf, obwohl du es nicht zugeben möchtest.«

Aktur zuckte unwillkürlich zusammen, als die Schlangenfrau das Schwert mit so einer Wucht zu Boden schleuderte, dass es mit der Spitze voran in der Erde stecken blieb. Zögerlich trat er heran und zog es mit einem Ruck raus. Unsicher schaute er zu seiner Lehrerin. Ich habe kein kaltes Herz, sagte er sich, aber tief in seinem Inneren fühlte er einen gewissen Zweifel. Oder denke ich nur so, weil ich ein Elf bin?

»Du bist verunsichert«, stellte die Schlangenfrau fest. »Das darfst du nicht sein. Die Unsicherheit ist der größte Feind eines Kriegers. Einmal Unsicherheit, einmal Tod.«

Etwas an dem letzten Satz ließ Aktur aufhorchen. Ich habe ihn genau so bereits gehört. Im Goldenen Palast, bei meiner ersten Lektion. Die Erinnerung daran ließ seinen gesamten Körper wieder schmerzen, als wären die blauen Flecken, die Finarfiniel, Rielle und Ishayon ihm verpasst hatten, immer noch da.

»Ich habe dir nicht die Erlaubnis gegeben, dich auszuruhen!«, zischte die Schlangenfrau. »Greif an!«

»Manchmal muss man Niederlagen erleiden, um zu verstehen, was der Sieg bedeutet«, zitierte Aktur eine weitere Lektion des Generals, die ihm im Gedächtnis geblieben war.

Er bemerkte, wie die Lippen seiner Lehrerin sich zu einem schmalen Lächeln verzogen. Ihre Zunge schnellte vor. »Du bist einem meiner Schüler begegnet.«

»General Nadir war ebenfalls Euer Schüler?«

Die Schlangenfrau gab ein verärgertes Zischen von sich. »Er war enttäuschend. So wie die meisten vor ihm. Er verkaufte seine Treue dem Höchstbietenden, also dem König. Und nun bildet er die Himmelskrieger nach meinen Methoden aus, aber sie alle sind unvollkommen, denn er selbst hat das Schwert nie gemeistert.«

Sie war die Lehrerin des Generals. Sie war die Lehrerin der dunklen Königin. Wen hat sie noch ausgebildet? Warum bildet sie jetzt mich aus? Die vielen unbeantworteten Fragen wirbelten in seinem Kopf umher, aber er wagte es, nur eine von ihnen zu stellen. Eine, vor deren Antwort er Angst hatte. »Wer seid Ihr?«

»Nur eine alte Magierin, die von allen vergessen wurde«, sagte die Schlangenfrau und Aktur wusste, dass es eine Lüge war. Der Feueropal an einer ihrer Ketten leuchtete im Sonnenlicht hell auf, als sie ihm auffordernd zuwinkte. »Nun greif mich an.«

»Ein Feind ist jeder, von dem man nicht mehr weiß, als nur seinen Namen«, gab er stattdessen eine ihrer Lektionen wieder. Er nahm all seinen Mut zusammen und fragte: »Seid Ihr mein Feind? Ihr habt die dunkle Königin unterrichtet, die nun scheinbar einen Krieg gegen ganz Alarchia führt. Warum sollte ich Euch trauen? Ich verstehe nicht, warum Ihr mir dabei helfen wollt, sie zu stürzen, wenn Ihr doch zuvor gesagt habt, wie sehr Ihr den König von Alarchia verabscheut. Ich verstehe nicht...«

»Du musst das nicht verstehen!« Mehrere Schlangen hoben gleichzeitig die Köpfe und zischten, als würden sie den Zorn ihrer Herrin spüren. »Du bist der Held, der die dunkle Königin ketten wird! Allein das ist wichtig! Ich zeige dir nur den richtigen Weg! Habe ich dir nicht das Leben gerettet und hast du mir nicht die Treue geschworen? Du wirst tun, was ich dir befehle, Elf!«

Aktur hatte sich auf einen Wutausbruch gefasst gemacht und blinzelte nur mehrmals, nachdem sie ihren letzten Satz geschrien hatte. Wortlos nickte er. Doch statt die Schlangenfrau anzugreifen, streckte er den rechten Arm nach vorne aus und ließ das namenlose Schwert vor ihr zu Boden fallen.

»Was wird das?« Ihre gelben Augen funkelten wütend.

»Ich danke Euch für das, was ihr mir bisher beigebracht habt, aber dies ist nicht der Weg, den ich gehen möchte«, sagte er ruhig. »Vielleicht mögen die meisten Elfen im Goldenen Palast ein kaltes Herz haben, aber ich stamme nicht von dort. Ich werde die dunkle Königin nicht mit dem Schwert besiegen, denn ich werde sie nicht töten können, obwohl sie mir die Liebe meines Lebens genommen hat. Ich werde sie auf meine Art ketten. Es tut mir leid.«

Die Schlangenfrau verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse des Zorns und der Enttäuschung. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, wobei die langen Fingernägel sich in ihre eigene Haut gruben, sodass Blutstropfen hervorquollen. In ihren Augen loderte ein wildes Feuer. »Du wagst es, nach all dem, was ich für dich getan habe, dich einfach von mir abzuwenden? Hast du mir nicht dein Wort gegeben?« Ihre Stimme hatte nichts Menschliches oder Elfisches mehr, war nur noch ein kaum zu verstehendes Zischen.

»Ich danke Euch dafür, dass Ihr mich geheilt habt«, entgegnete Aktur und spürte das Herz in seiner Brust so schnell schlagen, als würde es gleich heraus springen. »Aber der Weg, den Ihr für mich ausgewählt habt, ist nicht richtig. Hinzu kommt, dass ich einen Wolkenleser als Meister finden muss, damit die Prophezeiung sich erfüllt. Cor.«

Bei diesem Namen stieß die Schlangenfrau ein ohrenbetäubendes Kreischen aus. Blitzschnell stieß ihre Hand vor. Die Finger krallten sich um den Griff des Schwertes und richteten es mit der Klinge voraus auf Akturs Brust. Der Elf schnappte erschrocken nach Luft und stolperte einen Schritt zurück. Der Schlangenleib seiner Lehrerin zog Linien durch das Gras, als sie ihm folgte.

»Sprich diesen Namen in meiner Gegenwart nie wieder aus!«, zischte sie. Ihre Stimme bebte vor Wut und purer Hass leuchtete in ihren Augen. Immer weiter schlängelte sie sich auf Aktur zu und drängte ihn dazu, Schritt für Schritt zurückzuweichen, bis er mit dem Rücken gegen einen Baum stieß. Die Spitze des namenlosen Schwertes lag kalt auf seiner Brust. Er spürte die Kälte durch den Stoff seines Hemdes hindurch als würde sie nach Aufmerksamkeit schreien, nach Blut verlangen. Allmählich stieg Panik in ihm auf. Seine Augen richteten sich auf die Hand der Schlangenfrau, wie sie den Griff umklammert hielt, die langen Finger gekrümmt. Ist dies mein Tod?

»Du wirst hier bei mir bleiben«, presste seine Lehrerin hervor. »Du hast keine andere Wahl! Du hast mir die Treue geschworen!«

Aktur wusste nicht, was er tun sollte. Sein Körper war wie gelähmt, der Blick nur auf die Klinge an seiner Brust gerichtet. Todesangst schnürte ihm die Kehle zu. Selbst wenn er wollte, könnte er kein Wort heraus bringen. Er schloss die Augen, wollte nicht, dass die Schlangenfrau seine Furcht sah. Oder die Tränen, die sich in seinen Augenwinkeln sammelten. Die Melodie von Miones Lied kam ihm in den Sinn. Singe süß in der Nacht... Unwillkürlich verließen die ersten Noten seine Lippen. Wenn er schon sterben musste, dann in Begleitung ihres Liedes.

»Was summst du?«, hörte er die Schlangenfrau ihn anschreien. »Was ist das?«

Er antwortete nicht.

»Hör sofort auf!«

Warum zögert sie? Im selben Moment spürte er, wie die Spitze der Klinge sich von seiner Brust entfernte. Das Zischen eines durch die Luft schwingenden Schwertes ertönte. Gleich, gleich würde es vorbei sein. Aktur hörte den zornigen Schrei seiner Lehrerin, das Zischen ihrer Schlangen, dann ein fassungsloses Keuchen. Verwirrt, keinen Schmerz zu spüren, öffnete er die Augen. Und starrte. Starrte auf die klaffende Wunde, die sich der Schlangenfrau quer über die Kehle zog. Blut floss heraus, tropfte über ihren Goldschmuck und auf den leuchtenden Feueropal. Rot vermischte sich mit orange, wurde zu einem Chaos feuriger Farben. Die geschlitzten Pupillen seiner Lehrerin waren vor Entsetzen geweitet. Das namenlose Schwert entglitt ihren Händen und fiel zu Boden, seine Klinge blutbefleckt. Mit den Händen tastete sie ungläubig nach ihrem Hals, fuhr fahrig durch das unaufhaltsam herausströmende Blut und verwischte es zu unzusammenhängenden Mustern. Sie schwankte. Ihr Mund öffnete und schloss sich als wolle sie etwas sagen, doch heraus kam nur ein unartikuliertes Röcheln. Dann verdrehten sich ihre Augen zum Himmel, ihr Körper erschlaffte und stürzte zu Boden.

Aktur konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was?, war die einzige Frage, die stetig in seinem Kopf hämmerte. Was? Was? Was? Was ist passiert? Seine Knie wurden weich und seine Beine gaben unter ihm nach, sodass er zu Boden fiel. Sein Blick fiel auf die blutbefleckte Klinge des namenlosen Schwertes. Hat sie sich selbst umgebracht? Plötzlich erinnerte er sich an die Worte, mit denen König Zefalo ihn einst gewarnt hatte: »Einige berichten von plötzlichen Richtungsänderungen im Kampf. Die Fee, die dieses Schwert gesegnet hat, war offenbar noch nicht sehr vertraut mit ihrer Kunst.«

Es hat sie getötet.

Der Schock steckte tief in seinen Gliedern. Aktur schaffte es irgendwie, wieder auf die Beine zu kommen. Einen weiten Bogen um das namenlose Schwert schlagend, schwankte er auf die Schlangenfrau zu und fiel neben ihr auf die Knie. Die Schlangen um ihren Kopf zischten immer noch, wanden sich hin und her. Einige starrten ihn mit vorwurfsvollen Schlitzaugen an, ließen ihre Zungen vor und zurück schnellen. Vorsichtig streckte er eine Hand aus. Es war unmöglich, dass jemand eine solche Wunde überlebte, aber sie war offenbar eine mächtige Magierin gewesen und er musste sich sicher sein, dass sie keinen Zauber gewirkt hatte, der sie am Leben hielt.

Plötzlich schoss eine der Schlangen vor. Die Kobra spreizte nicht mal ihren Kragen, sondern riss sofort ihr Maul auf. Die spitzen Giftzähne bohrten sich durch die Haut an Akturs Hand als wäre sie weiche Butter. Erschrocken schrie er auf, zuckte zurück und schlug mit der anderen Hand nach dem Kopf der Kobra. Sie ließ ihn los und verschwand zischend zwischen den anderen Schlangen, die sich immer noch um den Kopf ihrer Herrin wanden. Doch es war schon geschehen.

Ein heißes Brennen machte sich in seiner Hand breit. Die zwei roten Punkte, wo die Giftzähne der Kobra noch vor Kurzem gesteckt hatten, schienen ihn auszulachen. Aktur wusste, dass er das Gift aus der Wunde saugen musste, um zu verhindern, dass es sich weiter in seinem Körper ausbreitete, aber er zitterte zu stark. Sein ganzer Körper schien nicht mehr zu ihm zu gehören. Ein Krampf nach dem anderen durchzuckte ihn. Blitze aus Schmerz schossen durch seine Hand, seinen Arm, seinen gesamten Oberkörper. Er konnte sich nicht mehr bewegen, kippte zur Seite. Seine Augen verdrehten sich und verharrten auf dem namenlosen Schwert. Dies ist nicht mein Tod, dachte er. Noch nicht. Dann verlor er das Bewusstsein und fiel in ein tiefes Schwarz.

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