Samues und Seumas
»Die Yadalgau, zweiunddreißig an der Zahl,
Die Phoenice, sechzehn an der Zahl,
Die Arcturus, acht an der Zahl,
Die Sebaensah, vier an der Zahl,
Die Addabaran, zwei an der Zahl,
Der Sirius, einer an der Zahl.
Wir dienen dem Alios, der kommen wird.
Seine Seele ist rein und sein Herz stark.
Geboren auf der Erde
wird er uns den Weg in den Himmel weisen.«
GLAUBENSBEKENNTNIS DER HEILIGEN STERNE
Die Bibliothek von Zowuza war ein riesiges mehrstöckiges Gebäude ohne auch nur ein einziges Fenster im untersten Stock, im zweiten dafür erheblich mehr. Es war das einzige Haus aus solidem Stein in der Straße und stellte das Wirtshaus Zum brodelndes Giftkessel ohne Zweifel in den Schatten. An den Ecken der Bibliothek wölbten sich unförmige Halbkugeln nach außen, die leicht an die Form eines Turms erinnerten. Der Eingang der Bibliothek wurde von zwei Soldaten bewacht, die erstaunlicherweise nicht betrunken waren, sondern wachsam umherschauten, die Hand am Schwertknauf.
Yudra folgte ihren Begleitern zu den beiden Wachposten. Hastig schlang sie die Wolldecke enger um ihren Körper und rümpfte angeekelt die Nase, als der Pferdegestank sich verstärkte. Sie würde mehrere Bäder brauchen, um den Geruch wegzuwaschen. Hoffentlich gab es einen Waschraum für Bedienstete in der Bibliothek. Cor bedeutete ihr und Yatepa, im Hintergrund zu bleiben, während er selber auf die Soldaten zu ging, die Aufenthaltsgenehmigungen in der Hand. Seinen braunen Hengst ließ er einige Schritte hinter sich zurück, wo Cabricho artig stehen blieb und schnaubte.
»Wie ist er eigentlich, dein Bruder?«, fragte die Dryade den Menschenmann, der sich auf Kanessos anderer Seite immer noch an der Flanke des Rappen abstützte.
»Sehr stur«, war das einzige, was Yatepa antwortete und sein Mund verzog sich zu einem gezwungenen Lächeln. »Als er seinen Bären erlegt hatte, wollte er ihn unbedingt auf seine Art häuten und auf seine Art einen Umhang daraus machen. Statt einem Umhang hat er dann einen Mantel mit Kapuze angefertigt. Alle haben ihn für verrückt gehalten. Es verstieß gegen die Tradition. Schon seit Jahrhunderten machen die Stämme des Perlenwaldes aus ihrem ersten erlegten Raubtier einen Umhang, der ihren Stand unter ihren Leuten anzeigt. Ein Mantel hingegen... Das ging einfach nicht...« Er schüttelte den Kopf. »Wenigstens wurde er nicht verbannt, sondern durfte einfach nicht mehr bei den Jagden und Kämpfen am Anfang jedes Monats teilnehmen.«
»Wie alt ist dein Bruder?«, wollte Yudra von ihm wissen. Sie selber schätzte Yatepa auf ungefähr zwanzig Jahre, doch sie war noch nicht vielen Menschen begegnet, an denen sie das hätte üben können. Die Karawanenstadt Jami in der Nähe der Ohawa-Wüste war bis jetzt die größte Stadt, die sie besucht hatte.
»Zwei Jahre älter als ich. Dreiundzwanzig.« Wieder lächelte der Menschenmann leicht gequält, doch bevor die Dryade weiter nachfragen konnte, winkte Cor sie zu sich.
»Bringe Cabricho und Kanesso zu der Tränke im Hinterhof der Bibliothek. Gleich danach kannst du durch die Hintertür zu uns gelangen. Yatepa und ich bringen Tara rein«, rief der Wolkenleser ihr zu. Die Erdfee nickte und wartete, bis die beiden Männer Tara von dem braunen Hengst gehoben hatten, bevor sie die Pferde leicht an ihrem Hals berührte, sodass sie ihr folgten.
Cor und Yatepa verschwanden mit der schwarzhaarigen jungen Frau in dem Steingebäude und die zwei Wachmänner schlossen die breite Tür wieder hinter ihnen. Yudra wandte den Blick von ihnen ab. Ein Wunder, dass sie ihr noch nicht zu Leibe gerückt waren. Sie erinnerte sich nur zu gut an den betrunkenen Tölpel, der sie mitten auf der Straße bedrängt hatte.
Es gab bisher genau drei Sachen, die sie an Zowuza zu bemängeln hatte. Einmal die ganzen Hurenhäuser, die überall in Stadt erbaut waren und dementsprechend die käuflichen Frauen, die in jeder Gasse auf ihr nächstes Opfer lauerten. Die Dryade bog jetzt ebenfalls in eine ein, die zwischen der Steinwand der Bibliothek und den mit Moos überzogenen Ziegelsteinen vom Wirtshaus Zum brodelnden Giftkessel entlangführte. Kanessos und Cabrichos Hufe klapperten laut auf der gepflasterten Straße. Ab und zu knirschte es und bei näherem Hinsehen erkannte sie auf dem Boden liegende Glasscherben. Schnell lenkte sie die beiden Pferde auf ihre andere Seite.
Plötzlich wurde direkt neben ihr ein Fenster aufgerissen und eine Flasche zersplitterte klirrend an der Wand der Bibliothek. Gelächter und Gebrüll ertönte aus dem Wirtshaus und der Gestank von Alkohol schlug ihr entgegen. Angewidert verzog die Erdfee das Gesicht und ging vorsichtig an den Glasscherben entlang. Sie fragte sich, ob der Glasbläser Xian diese Flasche ebenfalls angefertigt hatte. Er sah zwar aus wie ein Bettler, doch da war etwas an ihm gewesen. Als sie ihn als Bettler beschimpft hatte, hatte sie sich gleich darauf geschämt. Normalerweise nahm Yudra nie ein Blatt vor den Mund und sagte gerade heraus, was sie dachte, doch bei Xian war es anders gewesen. Der alte Glasbläser hatte eine gewisse Ausstrahlung auf sie gehabt. Sie hatte ihm sofort vertraut.
Gedankenverloren strich sie sich über ihren rechten Arm und tastete nach der feinen Schramme, die ihr Schlangentattoo in der Mitte unterbrochen hatte. Ihre Finger fuhren weiter hinunter zu ihrem Ring. Es war das einzige Wertvolle, was sie wirklich besessen hatte. Nur teure Edelsteine wie ihr Jade hatten die Macht, Magie zu konservieren und damit als Stamm eines Zaubers verwendet werden zu können. Zum Glück hatte sie immer darauf geachtet, den Ring nicht zu zeigen, sonst wäre er schneller weg gewesen, als sie gezwinkert hätte.
Das war das Zweite, was ihr an Zowuza nicht gefiel. Die hohe Anzahl an moralischen Schwerverbrechern. Es wimmelte nur so von Betrunkenen, Hurenböcken, Dieben oder einfach nur dreisten Menschen. Sicher, man konnte hier sehr reich werden, aber wie konnte Yatepas Bruder Nurov nur freiwillig hierher ziehen? Hoffentlich sind die Menschen in der Bibliothek etwas zivilisierter.
Endlich erreichte sie das Ende der schmalen Gasse und fand sich in dem großen Hinterhof wieder, der anscheinend extra für die Reittiere der Besucher umzäunt worden war. Yudra öffnete das Gatter, das direkt an die Wände der umstehenden Gebäude grenzte, und drehte sich zu Cabricho und Kanesso um. Geduldig blieben beide Hengste stehen, bis sie ihre Decken über das Gatter gehängt hatte. Schließlich ließ die Dryade sie an sich vorbei. Cabricho trabte sofort auf einen kleinen, grauen Esel zu und knabberte an dessen abstehender Mähne. Die großen Ohren des Esels wackelten. Ansonsten zeigte er keine Regung. Während der braune Hengst Bekanntschaft mit seinem neuen Freund machte, wälzte Kanesso sich auf dem staubigen Boden. Seine Hufe wirbelten wild durch die Luft und als er wieder hoch kam, war sein Fell eher braun als schwarz.
Yudra lächelte unwillkürlich. Bis auf den Esel befand sich nur noch ein weiteres Tier im Hinterhof. Eine helle Stute mit schneeweißer, langer Mähne und einem anmutig geschwungenem Schweif. Erstaunlicherweise hatte sie keine Druckspuren von einem Zaumzeug oder einem Sattel und trank unbekümmert aus der Tränke. Dabei stampfte sie einmal kurz mit dem Hinterhuf auf und peitschte mit dem Schweif. Ein schönes Tier, dachte die Erdfee. Und sie hat einen ungewöhnlichen Besitzer.
Das Dritte, was sie in Zowuza nicht ausstehen konnte, war nämlich die Art, wie man hier mit Tieren umging. Yudra sah immer noch den Tanzbären vor Augen, der von herzlosen Menschen dazu gezwungen worden war, Kunststücke vorzuführen. Den Zuschauern hatte es gefallen. Wusste denn keiner, was diese Tiere durchgemacht hatten? Das gleiche schien überall in Alarchia zu passieren. Die Geschöpfe, die in der Arena des Schneevolks umgebracht wurden. Die Doronen, die nur aus Angeberei und Stolz Tiere ermordeten. Sogar die Menschen aus dem Perlenwald, die eigentlich als sehr naturverbunden galten, töteten Bären und Wölfe, um daraus Kleidung herzustellen. Selbst vor Vakhiren machten sie keinen Halt. Tara sollte bloß nicht denken, sie hätte nicht erkannt, aus welchem Material ihre Kleidung zum größten Teil bestand! Überwältigt von ihrer Trauer kletterte sie über das Gatter und trat auf die weiße Stute zu, die sofort den Kopf hob. Ihre Augen waren hellblau wie der Himmel.
Plötzlich packten grobe Hände sie an ihren Hüften und zogen sie zu sich ran. Yudra schrie überrascht auf und schlug wild um sich. Wütend rammte sie ihrem Angreifer den Ellenbogen in den Oberkörper. Sie hörte ein unterdrücktes Stöhnen, doch der Griff lockerte sich nicht. Frustriert stieß sie einen Schrei aus und holte mit ihrer rechten Hand nach hinten aus. Mitten im Schlag griff jedoch jemand nach ihrem Handgelenk und hielt es fest.
»Lass das«, knurrte eine tiefe Stimme. »Oder alle Pferde und der Esel sterben. Du bist doch so tierlieb, oder nicht?« Eine starke Hand zwang sie dazu, ihre eigene zu senken. Dann trat ein stämmiger Mann in ihr Gesichtsfeld. Es war einer der Soldaten, die den Eingang der Bibliothek bewacht hatten. Erst jetzt bemerkte Yudra die Kette mit dem siebenzackigen Stern um seinen Hals. Anscheinend hatte er ihn vorher unter seinem Brustpanzer versteckt. Der Mann, der sie festhielt, war vermutlich der andere Soldat.
»Was wollt ihr?«, zischte die Dryade gereizt und zwang sich dazu, sich zu entspannen, als ihr Angreifer ihre Hände mit einem Seil fesselte und ihr dann eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht strich. Sie presste ihre Lippen trotzig zusammen.
»Wir bringen dich zu unserem Auftraggeber«, antwortete der Soldat vor ihr grinsend. »Zu Hadamar. Dem Mann mit der blauen Tunika. Du kennst ihn.«
Yudras Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Was?« Sie versuchte, ihre Fesseln zu lockern, doch der zweite Soldat hielt sie an ihren Schultern fest, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte.
»Du hast richtig gehört«, antwortete der Mann vor ihr. Seine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen glänzten gierig. »Du wirst eine Hure. Vielleicht die berühmteste in ganz Zowuza. Deine Ausstrahlung ist wirklich... einzigartig.« Er streckte seine Hand vor und strich ihr über die Wange. »So eine zarte Haut. So schön...«
»Samues, Hadamar wird nicht begeistert sein, wenn du sie dir zuerst ins Bett holst«, mischte sich der Soldat hinter ihr ein. »Er ist der Sirius. Der Sirius geht immer vor und das weißt du.«
»Sie ist nur eine Hure. Jetzt jedenfalls. Sie wird ihm viele Kunden einbringen. Besonders, weil sie noch bei keinem Mann lag.« Samues grinste, beugte sich vor und wollte sie küssen, doch sie zog schnell ihren Kopf weg. »Du bist wirklich sehr störrisch. Seumas, bring sie weg und nimm die Decken mit. Ich komme gleich nach.«
Die Dryade wurde fortgezerrt. Wütend schlug sie um sich und stemmte dann ihre Beine in den Boden und gegen den Soldaten, Seumas, hinter ihr. Der lachte. Sie hörte, wie ein Schwert gezogen wurde. Bevor sie reagieren konnte, schlug er ihr den Knauf gegen die Schläfe. Die Beine gaben unter ihr nach und ihr schwanden die Sinne.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top