»Sag mir, was du siehst!«

»Jeovi schuf uns Menschen,

um uns zu lehren, friedlich zu sein.

Doch dann schuf Rizout die Doronen,

um ihr zu zeigen, dass es unmöglich war.«

WORTE EINES UNBEKANNTEN GESCHICHTENERZÄHLERS,

997 DGW

Wir sind bald da, krächzte die Stimme der Dorona in dem Kopf der Erdfee und riss sie aus ihrem unruhigen Dämmerzustand. Kurz darauf stieß das seltsame Geschöpf einen spitzen Schrei aus, der als Echo von den grauen Bergflanken abprallte. Die Dryade schaute neugierig nach unten, während sie sich die Hände rieb. Es war furchtbar kalt so weit oben in der Luft und der Wind, der durch die schmalen Täler des Gion-Gebirges pfiff, machte es auch nicht besser. Hinzu kam noch ihre leichte Kleidung, die eigentlich nur für die Hitze der Wüste gedacht war.

Am Grund der Schlucht über die sie gerade flogen, entdeckte sie seltsame Säcke, die an langen Seilen von Steinzacken hingen. Erst dachte die Fee, dass es Vorratskammern für die Doronen waren, doch dann fiel ihr der blutrot gefärbte Stein unter den vermeintlichen Säcken auf. Sie musste würgen. Anscheinend hatte die Dorona das bemerkt, denn sie fiel in einen leichten Sinkflug und kreiste direkt über den toten Geschöpfen, die dort hingen. Die Erdfee sah weg.

Du brauchst die Augen nicht zu schließen. Schau ganz genau hin! Die Stimme der Dorona klang drohend und schmeichlerisch zugleich. Ich kann dir auch beschreiben, was du dort sehen würdest.

Die Dryade schüttelte unwillig den Kopf. Bitte, lass uns weiterfliegen. Sie hatte eine Nacht in den Krallen der Bestie ausgehalten und wollte keine weitere dort verbringen. Sie brauchte Schlaf. Ein kräftiger Ruck ließ sie kurz aufschreien. Die Dorona hatte sie losgelassen und kurz darauf wieder mit ihren Tatzen an den Schultern gepackt und den langen Löwenschwanz um ihre Taille gewickelt. Sie hörte wie eine Kralle zischend ausgefahren und an die Seite von ihrem Hals gehalten wurde. Die Dorona flog nun auf einer Stelle in der Luft. Langsam drehte sie sich in Richtung der Leichen.

Sag mir, was du siehst!, befahl die krächzende Stimme. Ihr Tonfall duldete keinen Wiederspruch.

Die Dryade drehte ihren Kopf weg. Ich will das nicht sehen. Wenn du unbedingt möchtest, dass ich leide, dann lass mich doch einfach fallen!

Die Dorona drückte ihre Kralle nun fester an die zarte Haut der Fee. Sie spürte, wie ein kleines Rinnsal aus warmem Blut ihr den Hals herabfloss. Die Erdfee wagte es nicht, zu atmen, weil sie befürchtete, ihre Peinigerin könnte sie noch mehr verletzen. Eine Träne lief ihr über die Wange.

Beschreibe mir, was du siehst, Beria, Hüterin der Erde!

Die Dryade blinzelte mit den Augen. Sie hatte aufgegeben. Es würde sowieso nichts nützen, sich einem so mächtigen Geschöpf zu widersetzen.

Ich sehe einen Golem. Jemand hat ihm die Brust aufgeschlitzt und sein Herz herausgerissen, das ihm sein Leben geschenkt hat. Nur vollkommen herzlose Geschöpfe mit so wenig Mitleid wie ein Kopfgeldjäger könnten es wagen, so ein Verbrechen zu begehen!

Bei ihren letzten Worten hatte die Dorona den Druck ihrer Kralle verstärkt, die nun schon tiefer in die Haut der Dryade schnitt.

Sprich weiter, forderte die fliegende Jägerin. Die Stimme war bedrohlich leise geworden.

Hinter dem Golem hängt ein Wüstenrenner. Sein ganzes Fell ist blutrot und hängt in Fetzten an ihm herab. Es ist ein Weibchen, was man an dem langen Schweif erkennt, der vollkommen zerfetzt herunterhängt. Wahrscheinlich hatte sie eine Familie. Einen glücklichen Gefährten mit vielleicht vier oder fünf Kindern. Ihr ging es gut, bis jemand kam und sie tötete. Vermutlich um zu beweisen, dass man es mit einem Wüstenrenner aufnehmen kann, oder?

Die Dorona antwortete nicht, aber die Erdfee erkannte an ihrem schnelleren Flügelschlag, dass ihr sichtlich unwohl in ihrer Haut war.

Dahinter ist ein Elf. Sein Mund ist immer noch zu einem Schrei geöffnet und seine Augen weit aufgerissen. In einer Hand hält er ein Schwert, dessen Griff man ihm mit einem Seil fest um das Handgelenk gebunden hat. Ich vermute mal er wurde getötet, weil er mutiger war als der, gegen den er einst gekämpft hat. Deshalb auch das Schwert, das wie bei einem Mörder noch im Grabe an seiner Seite liegt.

Plötzlich drehte die Dorona sie in eine andere Richtung. Weg von dem Golem und den anderen toten Geschöpfen. Erst dachte die Erdfee, dass die Jägerin genug gehört hätte, doch dann verstand sie, warum die Dorona auf einmal abgedreht hatte. Direkt vor ihr, als allererste der hängenden Leichen, sah sie jemanden, von dem sie dachte, dass sie denjenigen nie wiedersehen würde.

Die Dryade öffnete den Mund, um zu schreien, doch es kam kein Laut heraus. Auch den Kopf konnte sie nicht wegdrehen, weil die Dorona immer noch ihre Kralle an die Seite ihres Halses hielt.

Sag mir, was du siehst, krächzte die Jägerin voller Hohn in der Stimme.

Es kostete der Fee viel Überwindung, die Dorona nicht sofort anzuschreien, doch schließlich gab sie auf.

Ich sehe eine Dryade, eine Hüterin der Erde. Ihre einst feuerroten Haare sind fast vollkommen abgerissen. Auch die schwarze Strähne, die sie sich einmal mit Kohle gefärbt hatte, ist fort. Ihre blauen Augen sind vor Angst weit aufgerissen. Sie trägt immer noch ihre Kleidung, die sie früher hatte. Eine langärmlige, sandfarbene Bluse mit der dazugehörigen Hose. Man hat sie mit ihrem eigenen Wanderstab getötet, der Spuren einer Verbrennung an ihrem Bauch hinterlassen hat. Blitzmagie, die sie früher mir beigebracht hat.

Sag mir, Beria, Hüterin der Erde, wer ist das bloß?

Die Dryade wischte sich vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht und griff unauffällig nach ihrem Dolch, als sie die Hand wieder senkte. Sie zwang ihren Körper dazu, sich zu entspannen; die Dorona durfte auf keinen Fall merken, was sie vorhatte.

Das ist Rassou, meine einstige Lehrerin. Und ihr habt sie umgebracht!

Bei dem letzten Wort, hob die Dryade die Hand und stieß den Dolch tief in die Löwenpfoten der Dorona. Diese kreischte vor Schmerz laut auf, ließ die Fee mit dem Schwanz los und fuhr gleichzeitig die Krallen aus, die sich in ihre Schultern bohrten. Die Dryade ignorierte den Schmerz, der sich wie eine Flamme in ihrem Körper ausbreitete. Mit der rechten Hand langte sie nach dem Dolch, der immer noch in der Pfote steckte, doch die Dorona schlug wild mit ihren Flügeln auf und ab und wackelte zu sehr, als dass sie ihn am Griff packen und rausziehen konnte.

Das fliegende Geschöpf kreischte noch einmal laut auf, bevor sie die Krallen einzog, ohne dessen Halt die Erdfee in die Tiefe stürzte. Die Dorona warf ihren Kopf herum, packte den Dolch mit dem Schnabel und zog ihn aus der Pfote heraus. Dann ließ sie ihn los und er verschwand in den Höhlen und Spalten des Gebirges, während die Dorona selbst mit wütend peitschendem Schwanz davonflog.

Beria fiel. Sie nahm nichts mehr wahr. Nicht die Berge um sie herum, nicht die aufgewirbelte Wolke aus Schnee, die sich am Grund der Schlucht auf sie zubewegte und nicht den großen Adler, der sich daraus formte und majestätisch seine Schwingen ausbreitete. Da war nur der Schmerz in ihren Schultern und das Blut, das ihre Kleidung rot färbte. Sie schloss die Augen und glitt hinüber in die Dunkelheit.

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