Raureif
»›Wir werden hier rasten.
Otequ ist eine schöne Stadt.
Klein und bescheiden.
Niemand wird vermuten,
dass wir uns hier verstecken.‹«
AUS DEM ROMAN
»DIE KALTE JAGD«
Alles in ihm sträubte sich gegen den Befehl seiner Herrin. Er sollte den Elfen nicht weiter verfolgen, sondern nach Norden ziehen, um vor die Augen der dunklen Königin zu treten. Gebrochen und gedemütigt. Sie würde ihn töten, da war er sich sicher. Die Frage war nur, wie. Angesichts der Tatsache, dass er nicht einen der ihm anvertrauten Aufträge ausgeführt hatte, würde sie ihm keinen schnellen und barmherzigen Tod gewähren. Als sie erneut in seinen Gedanken gesprochen hatte, hatte der Zorn ihn so sehr überwältigt, dass er laut aufgeschrien hatte. Mittlerweile war er der festen Überzeugung, die Nadgore ernährten sich nicht mehr von der Angst der Waldtiere, sondern von seiner.
»Nizh arthu razga Braduc zahir«, zischte der Schatten, sein ewiger Begleiter, seine ewige Plage. Seit Der Dachs die Begegnung mit den zwei Feen überlebt hatte, war das Wesen noch gehässiger geworden. In den Nächten glaubte er, seine verfluchte Klinge am Hals zu spüren, doch sobald er die Augen öffnete, verschwand dieses Gefühl.
»Ich weiß, dass sie kein Mitleid haben wird«, antwortete er dem Wesen der Schwarzen Magie widerwillig.
»Zaho duur Munzec?«
»Nein.« Der Dachs warf den Nadgore einen schnellen Blick zu, doch sie straften seiner Worte Lügen. Natürlich hatte er Angst. Wie konnte er so blöd sein und glauben, dass seine kleineren Diener ihn nicht verraten würden. Sie waren nichts als konzentrierte Schwarze Magie, zum Leben erweckt von der Herrin. Genauso wie der Schatten. Doch dieses Wesen schien ein Bewusstsein zu haben und war nicht nur instinktgeleitet. Es konnte denken, sprechen, bestimmt auch fühlen.
»Duur zaho Munzec.« Diesmal war es keine Frage mehr, sondern eine Feststellung. Die Worte schmerzten in seinen Ohren. Er biss die Zähne zusammen. Ich darf keine Schwäche zeigen.
»Arth duur hezduul?«
Fliehen? Der Gedanke biss sich hartnäckig in seinem Kopf fest. Werde ich fliehen? Es war verlockend. Eine Flucht, die Flucht vor der Strafe und vor dem Tod. Aber wo sollte er ein neues Zuhause finden? Niemand vertraute den Tiergeistern. Erst recht nicht seit Der Wolf Prinz Rhince, den Thronfolger, ermordet hatte. Er würde nicht nur den Zorn seiner Herrin auf sich laden, sondern auch das Misstrauen eines jeden, der seinem Weg kreuzte. Zu fliehen war kein Ausweg, sondern ein Pfad in das Reich des Dunklen.
»Nein.« Das Wort zischte wie ein abgeschossener Pfeil durch die Luft. Es war nun endgültig. Er würde sich der Strafe seiner Herrin stellen, wie auch immer diese aussehen würde.
»Duuv.«
Erstaunlich, dass es überhaupt so ein Wort wie ›gut‹ in der dunklen Sprache gab. Und dass ausgerechnet so ein verdorbenes Wesen wie sein düsterer Begleiter es von sich gab, war mehr als verwunderlich. Doch es bewies wieder mal, wie unvorhersehbar die Schatten handeln konnten. Der Tiergeist erwartete weitere unangenehme Fragen aus den umher wirbelnden Schwaden der Schwarzen Magie, aber das Wesen schwieg. Nur das leise Knarzen der verkohlten Äste im Wind und das dumpfe Geräusch seiner eigenen Schritte durchbrachen die Stille. Ab und zu trällerte ein Vogel, den Der Dachs am liebsten umgebracht hätte.
Insgeheim hoffte er, dass auch Die Schneeeule bei ihrem Auftrag versagt hatte. So hätte er wenigstens die Gewissheit, seine Herrin nicht als Einziger enttäuscht zu haben. Der Dachs schnaubte, verärgert über sich selbst. Ich darf das nicht denken. Das ist Verrat an der Herrin. Jeder ihrer Aufträge muss mit größter Präzision ausgeführt werden. Unabhängig davon, ob er mir gefällt oder nicht. Für einen kurzen Augenblick drohten seine Gedanken in eine völlig andere Richtung zu wandern. Schnell unterdrückte er diesen Drang.
»Keluc Chrondihr me thaar.«
Der Dachs erschrak bei den Worten so sehr, dass die Nadgore gierig näher kamen. Ihre körperlosen Klauen strichen kalt über seinen Körper, zupften ihn am Pelz und versuchten, in seine Ohren und sein Maul zu kriechen. Verbittert presste er die Zähne aufeinander. Als der nächste Nadgore ihn mit der Schwarzen Magie umschmeichelte, fuhr er mit den Krallen durch die dunkle Masse. Ein einstimmiges, hohes Zischen setzte ein als würden die Wesen sich vor Schmerzen winden. Allmählich wichen die Nadgore zurück und stellten den vorherigen Abstand wieder her. Ihr Tuscheln war zwischen dem grausigen Lachen des Schattens kaum zu hören.
Kochend vor Wut drehte Der Dachs sich zu ihm um. »Sag das nie wieder!«
Der Schatten verstummte, doch zwischen den Schwaden der Schwarzen Magie blitzte kurz das Metall der verfluchten Klinge auf.
»Wage es ja nicht, mir wieder zu drohen!«
»Keluc Chrondihr me thaar!«, schleuderte das Wesen ihm entgegen. Mit einem Mal war die Klinge gezückt. Sofort schienen die Schatten des Waldes um sie herum zu wachsen. Vorher grüne Schösslinge, gerade zwischen der Asche zum Leben erwacht, sanken in sich zusammen, die kleinen Blätter von Raureif bedeckt. Ein toter Vogel fiel vor ihm auf den Boden, die Flügel noch wie im Flug weit ausgebreitet. Die Nadgore beobachteten das Geschehen aus der Dunkelheit heraus.
Knurrend funkelte Der Dachs den Schatten an. »Du wirst mich nicht angreifen. Die Herrin wird dich zurück in die Grotte stoßen, aus der du gekrochen bist!«
Immer noch hing die verfluchte Klinge in der Luft, umwabert von dunklen Magiefetzen. Plötzlich neigte sie sich leicht. Ihre Spitze deutete zwischen zwei Bäumen hindurch. »Keluc Chrondihr los Nash«, zischte der Schatten.
Purer Zorn kochte in Dem Dachs auf. Er meinte, dass das Ende des Waldes nah ist und nicht meins! Knurrend leckte er sich mit der Zunge über die Lefzen, um seine scharfen Zähne wieder zu spüren. Zu schade, dass der Schatten nicht aus Fleisch und Blut bestand. Sonst hätte er ihm etwas abreißen und ihn so bestrafen können. Stattdessen blieb ihm nichts anderes übrig als jede Bewegung der verfluchten Klinge mit den Augen zu verfolgen und zu hoffen, dass das dunkle Wesen sich nicht eines Tages gegen ihn wenden würde.
Viele Male hatte er sich schon gefragt, woher seine Herrin die Schatten und die Nadgore hatte. Es waren Gestalten der Schwarzen Magie, keine Frage. Ob sie sie inmitten von Kreidekreisen beschwor wie die Hexen und Hexenmeister es manchmal taten? Oder mischte sie, wie die Alchimisten, flüssiges Blei und Vulkanasche zusammen? Der Schatten schien wesentlich komplexer zu sein. Ein eiskalter Schauer fuhr ihm den Rücken hinunter, sodass sein gesamtes Fell sich sträubte. Oder war er ein wiedererweckter Dämon aus der Zeit des Schwesterkrieges?
Der Dachs war noch nie einem dieser Monster begegnet, weil es sie ganz einfach nicht mehr gab. Aber in den ersten vierhundert Jahren der Goldenen Welt, da kämpften Tausende von ihnen an der Seite der sechsten Pixie. Einige von ihnen, die Generäle, waren angeblich von so schrecklichem Aussehen, dass jeder bei ihrem Angesicht vor Furcht erstarrte. Andere hatten eine wunderschöne Gestalt und sollten Wesen verschiedenster Völker verführt haben, damit sie auf die Seite der sechsten Pixie wechselten. Die Beschreibungen der Dämonen in den Chroniken des Lebens waren bei Weitem nicht so ausführlich, dass man mit ihrer Hilfe den Schatten als solchen identifizieren konnte.
Zitternd vor Wut setzte der Tiergeist seinen Weg in den Norden fort. Seine Ohren zuckten bei jedem kleinsten Geräusch wachsam hin und her. Er vermutete, dass im Perlenwald wieder Plünderer unterwegs waren, denen er auf keinen Fall begegnen wollte. Zwar wäre es eine Leichtigkeit für ihn, sie zu überwältigen und zu töten, aber die blutigen Leichen würden nur Fragen bei den anderen aufwerfen, die er nun wirklich nicht nötig hatte. Man würde seine Spuren als die eines übergroßen Dachses erkennen und womöglich Jagd auf ihn machen. Je weniger Menschen er begegnete, desto besser war es für ihn – und seine Herrin. Sicher würde eine noch härtere Strafe auf ihn warten, wenn sie erführe, dass er Aufmerksamkeit erregt hatte.
Bald schon rückte der Waldrand in Sicht, wie der Schatten angekündigt hatte. Eigentlich hätte Der Dachs es wegen den dürren Baumskeletten schon viel früher bemerken müssen, aber es gab hier einfach zu viele Unebenheiten am Boden. Sie mussten sich mittlerweile in der Nähe des Verbotenen Tals aufhalten. Ein Blick nach links zeigte ihm, dass die Erde leicht anstieg. Auch die verrußten Steinplatten, die hier und da herausschauten, bestätigten seine Vermutung.
Neben dem allerletzten verkohlten Baum – oder eher Baumstumpf – hielt Der Dachs an. Bis jetzt hatte er sich gut verstecken können, doch nun erstreckte sich vor ihm eine weite Fläche aus Getreide- und Gemüsefeldern. Halb verfallene Holzhütten mit schief sitzenden Strohdächern hockten in unregelmäßigen Abständen in der Landschaft. Es war kurz vor der Stunde der Händler, sodass die meisten Bauern sich in ihre Häuser zurückgezogen hatten, um der prallen Sonne zu entgehen. Doch selbst wenn er sich beeilte, würde er hier an einem Tag nicht durchkommen. Wie er die Route über das westliche Ufer des Nebelsees hasste...
»Hrot Nadgore narhoon shar z'nish zeh unor«, zischte auf einmal der Schatten, als Der Dachs Anstalten machte, aus der Dunkelheit des Waldes zu treten.
Der Tiergeist fuhr erbost herum und schnaubte. Seine Klauen bohrten sich tief in den steinigen Boden bis es schmerzte. »Was soll das heißen?«, fuhr er die Nadgore an, die sich um die gespreizten Wurzeln eines ausgerissenen Baumes tummelten. Bei seiner Stimme wichen sie ein Stück zurück, zischelten leise und waren verschwunden. Außer sich vor Wut brüllte Der Dachs seine Frustration in den Perlenwald hinaus. Jetzt haben mich auch noch die restlichen Nadgore verlassen! Die Herrin wird mich umbringen! Einfach nur umbringen!
»Gabuc nash nar dsho bush rahl unosh.« Die Schwarze Magie des Schattens schien anzuschwellen. Verärgert beobachtete der Tiergeist, wie das Getreide in ihrer Nähe vertrocknete, grau wurde und dann zu Staub zerfiel. Eine Schicht aus weißem Raureif legte sich über die Reste der Pflanzen und eine Pfütze im Schlamm gefror zu schimmerndem Eis. Kalter Wind wehte über sein schwarz-weißes Fell.
»Ja, nun sind nur noch wir beide übrig«, antwortete Der Dachs grimmig. Trotzig kämpfte er die Besorgnis nieder und wartete, bis der Schatten fertig mit seiner Machtdemonstration war. Erst, als er sich sicher war, dass die frische Böe vom Nebelsee und nicht vom Schatten kam, wagte er den ersten Schritt hinter dem Baumstumpf hervor. Unter seinen Pranken knirschte es als würde er über frisch gefallenen Schnee gehen. In seinem Rücken spürte er den brennenden Blick des dunklen Wesens und hoffte, dass es die verfluchte Klinge bei sich behalten würde, bis sie in Ilasnar angekommen waren.
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