Pfeile im Fell

»Innere Ruhe, äußere Anspannung.

Töte nie den Führer eines Rudels oder einer Herde.

Nimm kein unnötiges Leben.

Bedanke dich bei den Göttern für dein erlegtes Fleisch.«

DIE REGELN DER JAGD

VON DEN STÄMMEN DES PERLENWALDES

Innere Ruhe, äußere Anspannung. Die erste Regel der Jagd, die Nebar ihr gleich zu Beginn der Lehrzeit eingeschärft hatte. Tara atmete tief ein und aus, bevor sie einen Pfeil aus ihrem Köcher nahm und ihn auf die Bogensehne legte. Die grauen Adlerfedern kitzelten ihre Fingerkuppen, als sie leicht darüber strich. Jeden dieser Pfeile hatte sie selbst angefertigt. Tag um Tag, Monat um Monat. Sie hatte sorgsam darauf geachtet, dass alle gerade waren und jede Feder exakt an der richtigen Position war. Für heute, ihren großen Tag. Dem Tag der Wolfsjagd.

Dieser Tag war sowohl für die Wolf- als auch für die Bärenleute das wichtigste Ereignis in ihren Leben. Genau an diesem Tag wurden junge Menschen zu Erwachsenen. Sie durften sich einen Lebensgefährten suchen und an den großen Jagden und Kämpfen teilnehmen, die jeden Monatsanfang stattfanden.

Die älteren Krieger waren schon losgezogen. Nur einige waren geblieben, um die Welpen, wie die Menschen genannt wurden, die ihren großen Tag noch nicht erlebt hatten, zu beobachten. Sie saßen irgendwo hoch oben in den Bäumen um die Lichtung herum. Nebar war jedoch nicht gekommen. Ihr Mentor wollte sich wieder in einem Duell mit Citah messen. Beide waren unglaublich gut im Kampf, doch jeder versuchte den anderen in irgendetwas zu übertreffen, und sei es nur im Kochen von Krautbrühe.

Tara schielte zur Seite. Im Schatten einer Eiche hatte ein zierliches Mädchen mit dunklem Gewand und dunkelbraunen Haaren bereits ihren Bogen erhoben. Es war Tamina, die stumme Tochter von Limac, dem Anführer der Wolfsleute. Sie hatte es anscheinend auf den dunkelgrauen Wolf abgesehen, der gerade nach einer jüngeren Wölfin schnappte.

Eine gute Wahl, dachte Tara. Eigentlich wollte sie diesen Wolf erlegen. Er war stark und hatte einen relativ hohen Rang im Rudel. Nebar hatte ihr erklärt, dass nur der Führer und seine Familie das Recht hatten, andere Wölfe zu schikanieren, so wie der dunkelgraue Wolf es tat.

Töte nie den Führer eines Rudels oder einer Herde. Die zweite Regel der Jagd. Ohne einen Führer würde es keine Rudel und Herden geben.

Tara ließ ihren Blick über das Wolfsrudel schweifen, das sich auf der Lichtung vor ihr zum Ausruhen niedergelassen hatte. Sie hatte immer noch kein Ziel gefunden, das ihren Ansprüchen entsprach. Schließlich blieb ihr Blick an einem vollkommen schwarzen Wolf hängen. Sie hatte ihn erst gar nicht bemerkt, da er etwas Abseits seines Rudels in den Schatten lag. Doch nun hatten sich die Wolken vor dem am höchsten stehenden roten Mond vollkommen verzogen und helles Licht fiel auf sein Fell.

Jetzt konnte Tara auch die kräftigen Muskeln sehen, die sich unter seinem Pelz abzeichneten. Einem sehr schönen Pelz ohne jegliche Narben oder nicht verheilte Verletzungen. Er würde sich gut als Umhang eignen. Jeder der Erwachsenen besaß einen solchen, der aus dem Fell des ersten erlegten Wolfes bestand. Bei den Bärenleuten war es natürlich ein Bärenfell.

Tara lächelte leicht, kontrollierte nochmal ihren Pfeil und spannte dann den Bogen. Das rechte Auge zugekniffen zielte sie auf die Brust des schwarzen Wolfes. Er lag immer noch unbewegt im Gras. Keiner seiner Rudelgefährten machte Anstalten, zu ihm zu gehen. Aber das war auch gut so. Sie würde ihre Position nicht verändern müssen.

Bisher war alles ruhig. Die älteren Krieger warteten, bis alle Welpen ihr Ziel gefunden hatten. Erst dann würde einer von ihnen den Ruf einer Eule ausstoßen. Sobald der letzte Ton verklungen wäre, würden alle Welpen gleichzeitig schießen. So wurde verhindert, dass die Wölfe in Panik geraten und fliehen oder, noch schlimmer, angreifen. Es war schon vorgekommen, dass einige Welpen bei ihrer ersten Wolfsjagd von den grauen Raubtieren in der Luft zerfetzt wurden, weil sie nicht rechtzeitig auf einen Baum geklettert waren. Gerade deshalb hatte Tara sich für ein Versteck in der Nähe einer Kiefer entschieden. Ihre Äste begannen schon weit unten und es wäre ein leichtes für sie, sich an ihnen hoch zu hangeln.

Das Mädchen wartete. Innere Ruhe, äußere Anspannung. Noch einmal überprüfte Tara ihre Haltung. Alles passte. Ich habe nur diese eine Chance. Ich muss einfach treffen, sonst muss ich noch einen Monat warten.

Dann ertönte plötzlich der Ruf einer Eule. Das Signal. Drei Mal das sanfte »Schuhu«. Sie erkannte eindeutig Benreds Stimme. Er war Taminas Mentor und schmierte sich, wie sie, Schmutz ins Gesicht, um besser mit den Schatten zu verschmelzen. In Gedanken wünschte sie dem stummen Mädchen in ihrer Nähe Glück. Sie war eine der wenigen, die sie nach dem Tod ihrer Eltern nicht schikaniert hatten. Nicht ablenken lassen! Das »Schuhu« lag noch eine Weile in der kalten Luft der Nacht. Dann verklang auch der letzte Laut.

Tara ließ mit der rechten Hand den Pfeil los, der mit einem leisen Surren davon zischte. Schmerzvolles Jaulen erfüllte die Lichtung vor ihr. Schnell versicherte sie sich, dass ihr Pfeil sein Ziel gefunden hatte, dann schnallte sie sich den Bogen wieder auf den Rücken, griff nach einem robusten Ast über ihr und zog sich daran hoch. Durch das harte Training hatte sie starke Armmuskeln bekommen.

Gerade war Tara am Stamm der Kiefer angekommen, als auch schon die ersten Wölfe von der Lichtung flüchteten. Unter ihren Füßen floss ein Meer aus grauen, braunen und rötlichen Wölfen vorbei. Alle hatten die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen und jaulten laut. Tara blieb fast das Herz stehen, als ein hellgrauer Wolf ihr direkt in die Augen blickte und gierig hechelnd hochsprang. Seine Zähne bohrten sich knapp neben ihren Füßen in die weiche Rinde, die sofort absplitterte. Doch schließlich wurde der Wolf von seinem Rudel weitergedrängt.

Tara sah nach oben, wo die Äste der Kiefer sich zu einem Dach aufspannten. Ich bin zu niedrig. Der nächste Wolf könnte mich erwischen.

Die junge Frau klammerte sich mit beiden Händen an einem dicken Zweig fest, stieß sich mit den Füßen vom Baumstamm ab und schwang sich hoch. Tara landete elegant auf dem Ast über ihr. Sie atmete tief durch. Zwischen den Ästen und Nadeln hindurch konnte sie die letzten Wölfe erkennen, die ihrem Führer durch den Wald weg von der Lichtung folgten, wo sie im Schatten der Tannen einige der älteren Jäger erwarten würden. Darunter war auch der dunkelgraue Wolf, den Tamina sich ausgesucht hatte. Er humpelte stark und in seinem Hinterbein steckte die abgebrochene Spitze eines Pfeils.

Tara überlegte kurz, ob sie dem Wolf den Rest geben sollte, entschied sich aber dagegen. Jeder muss seine Beute selber erlegen. Ich bin nicht für sie verantwortlich.

Das Mädchen wandte den Blick von den Nachzüglern ab und schaute stattdessen zu der Lücke in dem Geäst, durch die sie direkt auf die Lichtung blicken konnte. Sie balancierte auf dem dicken Ast entlang darauf zu. Dabei streckte Tara die Arme zur Seite aus, um das Gleichgewicht zu halten. Bei der Lücke angekommen ließ sie ihren Blick über die Lichtung gleiten.

Dort lagen insgesamt vier Wölfe. Doch einer von ihnen – eine cremebraune Wölfin – atmete noch. Sie wand sich leise wimmernd am Boden und leckte sich mit der Zunge über die Schnauze als würde sie sich selbst trösten. Aus einer Wunde an ihrem Hals sickerte Blut, das ihr schönes Fell leuchtend rot färbte. Zufrieden stellte Tara fest, dass ihr schwarzer Wolf tot auf der Seite lag und sich nicht mehr rührte. Doch ihre Freude ließ nach, als sie eine graue Wölfin entdeckte, die von der anderen Seite der Lichtung auf den toten Wolf zukam und sich neben ihm hinhockte.

Verflucht!, ärgerte sie sich. Das ist bestimmt seine Mutter oder seine Gefährtin. Wie soll ich die jetzt von ihm wegbekommen?

Tara dachte angestrengt nach, doch ihr fiel nichts ein. Immer stand ihr die dritte Regel der Jagd im Weg: Nimm kein unnötiges Leben.

Seufzend kletterte sie die Kiefer runter und sprang dann auf den Boden. Das Mädchen ging um den Busch herum, hinter dem sie sich versteckt hatte und trat auf die Lichtung. Die Wolken zogen wieder vor den rot leuchtenden Keo, doch der silberne Mond war immer noch unverdeckt, sodass sie sehen konnte, wo der schwarze Wolf lag.

Insgesamt sechs Gestalten befanden sich mit ihr auf der Lichtung. Ihr am nächsten waren Tamina und Semal. Erstere starrte fassungslos auf die vier Wölfe, während der Junge zu der cremebraunen, noch lebenden Wölfin ging und sich neben ihr niederließ. Ein Dolch blitzte kurz im Mondlicht auf, bevor Semal ihn in die Brust der Wölfin stieß. Schlagartig verstummte das Wimmern.

Tara wandte den Blick ab und ging in großen Schritten über die Lichtung zu dem Wolf, den sie erlegt hatte. Sie wollte die graue Wölfin an seiner Seite einfach nur erschrecken, damit sie weglief, doch sobald sie einen Schritt auf den Toten zu gemacht hatte, sprang die Wölfin auf. Sie knurrte bedrohlich und ihre kleinen, schwarzen Augen glitzerten wütend.

»Ist ja gut«, redete Tara der Wölfin leise zu. Nebar hatte ihr erzählt, dass die Wölfe ihre Sprache zwar nicht verstanden, doch an ihrem Tonfall hören konnten, was man von ihnen wollte. »Du kannst ihm nicht mehr helfen. Er ist tot.«

Die Wölfin knurrte weiter, fletschte die Zähne und legte nun auch noch die Ohren an. Eine Tara nur allzu bekannte Drohgebärde. Sie wich langsam zurück. Mit solchen aggressiven Tieren sollte man nicht spaßen. Während die junge Frau einen Schritt nach dem anderen zurücktrat, sah sie, wie tief der Bauch der Wölfin hing. Sie musste wohl Welpen erwarten.

Also ist sie die Gefährtin des toten Wolfes. Warum musste ich mir eigentlich ausgerechnet ihn aussuchen? Es gab doch genug andere Wölfe. Ohne Gefährtinnen.

Sie erinnerte sich an den hellgrauen Wolf, der zu ihr hochgesprungen war, als sie noch auf dem Baum gehockt hatte. Sein Fell war auch schön gewesen. Wenn sie ihn erschossen hätte, würde sie jetzt keine Probleme haben. Dann könnte die Wölfin hier ihren Gefährten auch begraben.

Plötzlich vernahm Tara ein leises Surren hinter sich. Gerade noch rechtzeitig sprang sie beiseite und entdeckte einen Pfeil, der auf die graue Wölfin zuflog. Die Spitze bohrte sich tief in ihr Fell an der Brust. Die junge Frau schaute in die Richtung aus der der Pfeil gekommen war. Dort stand Blak, den Bogen noch erhoben, und blickte zufrieden auf die sterbende Wölfin.

»Bist du noch bei Trost?«, schrie Tara den stämmigen Jungen an, während sie die Hände in die Seiten gestemmt auf ihn zuging. »Das kannst du doch nicht machen! Die Jagd ist schon lange vorbei! Diese Wölfin war nicht dein Ziel! Warum hast du sie dann erschossen?«

Blak grinste frech. »Und wenn sie doch mein Ziel war?« Er klemmte sich seinen Bogen hinter den Pfeilköcher, verschränkte die Arme vor der Brust und trat hoch erhobenen Hauptes auf sie zu. Genau vor ihr blieb er stehen.

Blak war größer als sie. Sein blondes Haar umrahmte sein Gesicht wie das eines Elfen. Würde Tara ihn nicht kennen, hätte sie ihn auch für einen gehalten, doch sein ganzer Charakter sprach eindeutig dagegen.

»Wenn diese Wölfin dein Ziel war bleibt immer noch die Frage, warum du geschossen hast. Ich stand genau in der Flugbahn! Hätte ich den Pfeil nicht gehört, wäre ich jetzt tot!«

»Aber du hast ihn doch gehört, Narbengesicht« Der Junge legte den Kopf schief, als wolle er sie bemitleiden, doch seine Augen sagten etwas völlig Anderes. Er wollte sie dazu bringen, ihn zu schlagen, damit die älteren Krieger ihre Beute als ungültig abtaten.

Doch Tara züngelte ihre Wut indem sie ihren Kiefer ganz fest zusammenpresste und ihre Hände zu Fäusten ballte. Ich werde dir diesen Gefallen nicht tun!, dachte sie stumm und schaute Blak herausfordernd an. Eine Weile blieben sie so stehen und maßen sich mit Blicken. Schließlich senkte der Junge den Kopf.

»Dann werde ich mal meine Beute holen, die ich erlegt habe«, sagte er so laut, dass Semal sich verwirrt nach ihnen umschaute, und ging an Tara vorbei auf die tote Wölfin zu.

Die junge Frau schnaubte wütend, ging dann aber hinter Blak her zu ihrem Wolf. Der Blonde hatte die Wölfin schon von dem schwarzen Wolf runter gezerrt und legte sie gerade auf den Rücken, um ihre Beine mit einem Seil zusammenzubinden.

Tara beachtete ihn nicht weiter und wandte sich stattdessen ihrer Beute zu. Mit der rechten Hand fuhr sie über sein samtiges, schwarzes Fell. Es war anders als bei dem Pelz der Umhänge von den älteren Kriegern. Dieses Fell war noch ganz weich. Ohne jeglichen Makel. Tara zog ihren Pfeil vorsichtig aus dem Fleisch an der Flanke. Er war noch ganz. Wenn sie ihn säuberte, könnte sie ihn ruhig nochmal benutzen.

»Du brauchst ihn nicht zu streicheln«, meckerte Blak sie an. Seine Wölfin hatte er sich grob über die Schulter geworfen. Ihre Gliedmaßen standen grotesk verdreht ab. »Der ist sowieso tot. Der spürt nichts.« Dann wandte er sich um und ging über die Lichtung davon.

Wie respektlos kann man nur sein. Tara strich dem schwarzen Wolf trotzig über die Schnauze. Es ist auch nur ein Lebewesen. Gewesen.

Nachdem sie dem Wolf die Augen geschlossen und die Beine zusammengebunden hatte, warf sie ihn sich über die Schulter. Er war fast zu schwer für sie und die junge Frau musste sich breitbeinig hinstellen, damit sie nicht sofort nach hinten kippte. Ächzend trat sie einen Schritt vor, wartete bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte und ging so hinter ihren Mitstreitern her.

Tamina stand immer noch in der Mitte der Lichtung. Als Tara an ihr vorbei kam sah sie, dass die Augen der erfolglosen Jägerin mit Tränen gefüllt waren. Ein kleiner Wassertropfen lief an ihrer Wange hinab und hinterließ eine saubere Spur auf der Schlammkruste, mit der sie ihr Gesicht getarnt hatte.

Tara sah weg. Wahrscheinlich brauchte sie jetzt etwas Zeit für sich. Als einzige, die ohne Wolf ins Lager zurückkehren würde.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top