Nur zehn Arc

»Geh nie mit einem Sklaven,

der einen Löwen getötet hat.«

UNBEKANNTE HEXE

511 DGW

Ohne die Miene zu verziehen starrte Nebar den Mann an, der ihn von oben bis unten musterte. Zwar konnte er sich, selbst wenn er wollte, nicht bewegen, doch er wusste, dass ein Blick manchmal mehr sagen konnte als jede Handlung, als jedes Wort. Viele Male hatte er bereits gesehen, wie Krieger der Wolfsleute zusammengezuckt waren, wenn Citah sie erbost angefunkelt hatte, nachdem er bei den Kämpfen am Anfang jedes Monats wieder gegen Nebar verloren hatte. Deswegen war auf jedes dieser Duelle nie Applaus oder Jubel gefolgt, sondern nur Totenstille.

»Was soll ich mit dem?«, fragte der Mann, der vor Nebar stand. Er musste um die fünfzig Jahre alt sein. Die Falten auf seiner Stirn deuteten an, dass er schnell und oft zornig wurde. Auch jetzt funkelten seine Augen wütend, als er sich zu dem grauhaarigen Plünderer drehte, der Nebar hierher gebracht hatte. Sie hatten vier Tage gebraucht, um den Perlenwald zu verlassen, den Stillen Fluss über eine halb zusammengefallene Brücke zu überqueren und dann durch unterirdische Tunnel zu diesem Ort zu kommen. Zu einem Tal, in dem Hütten an Hütten standen. In der Mitte erhob sich eine große Felsnadel gen Himmel.

Nachdem der Plünderer mit seinen Söhnen den Großteil der gestohlenen Sachen vor einem heruntergekommenen Steinhaus abgeladen hatte, hatte er den Karren in Richtung einer Halle gelenkt, die in eine der Bergflanken gehauen worden war. Der Eingang war unscheinbar und klein gewesen, doch im Inneren erhoben sich die Wände und mehrere Säulen so hoch, dass die Decke irgendwo in der Dunkelheit verschwand. Fackeln und Laternen, in denen Kerzen brannten, erhellten nur einen Teil der Halle. Von irgendwo her erklang ein gedämpftes Brüllen und Knurren wie von Tieren.

»Ghamoy, lieber Ghamoy«, hob der grauhaarige Plünderer an. Seine Worte waren so schmeichelnd und seine Stimme so weich, dass Nebar im ersten Moment bezweifelte, dass wirklich er es war, der gesprochen hatte. »Das ist einer dieser Waldmenschen aus dem Perlenwald! Hab ihn eigenhändig gefunden, auf meinen Karren gepackt und hierher geschleppt.« Dass seine Söhne ihm dabei geholfen hatten, erwähnte er nicht. »Die Waldmenschen können kämpfen! Das weiß jeder!«

»Versuchst du mir gerade einen Krüppel als Krieger zu verkaufen?«, blaffte der Mann, Ghamoy. Er deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Nebars rechtes Bein, das immer noch von den Ästen geschient wurde.

Zum Glück spüre ich die Schmerzen nicht, dachte Nebar. Die Glutmohnsamen leisten ganze Arbeit. Trotzdem sorgte er sich um seine Verletzungen. Die gebrochene Nase war mehr oder weniger abgeschwollen – auch wenn sie nie wieder so gerade wie zuvor sein würde – und die restlichen Wunden, die der Bär ihm verpasst hatte, hatten sich ebenfalls geschlossen, aber gebrochene Knochen... Er hatte zunächst gedacht, dass der Plünderer ihn zu sich nach Hause nehmen würde, um ihn zu versorgen, so wie er es ursprünglich auch angedeutet hatte. Während der Reise schien er sich jedoch umentschieden zu haben.

»Krüppel hin oder her«, wandte der Plünderer mit einem schiefen Grinsen ein. »Meintest du nicht, alle deine Krieger wären zu gut und du bräuchtest Kandidaten, die sterben können?«

»Ich bräuchte welche, wenn Wynter nicht verboten hätte, dass die Krieger in der Arena sich gegenseitig töten. Also kann ich mit diesem Krüppel absolut gar nichts anfangen! Tu nicht so, als wüsstest du das nicht, Terrence!«

»Angenommen, du würdest sein Bein versorgen«, sagte der Plünderer, der offenbar Terrence hieß, mit gespielt nachdenklicher Stimme. »Bestimmt würde er dann zu einem deiner besten Krieger werden. Wie gesagt, er ist einer dieser Waldmenschen.«

Ghamoys Stirn legte sich in tiefe Falten. »Wen willst du hier verarschen? Denkst du wirklich, ich würde Geld für jemanden ausgeben, der vielleicht, eventuell, möglicherweise, irgendwann kämpfen könnte? Wo sind deine Beweise?«

»Beweise? Dieser ›Krüppel‹, wie du ihn nennst, hat einen verdammten Bären getötet!« Terrence klang jetzt wieder so, wie Nebar ihn in Erinnerung hatte. Er langte mit einer Hand in die Tasche, die er sich umgehängt hatte, und holte ein Stück Eisen raus, mit dem er in der Luft herum fuchtelte. »Mit diesem rostigen Ding hat er ihn getötet! Aufgeschlitzt von vorne bis hinten, obwohl er selbst kaum bei Bewusstsein war! Ich hab's mit eigenen Augen gesehen!«

Lügner, dachte Nebar nur und hätte den Kopf geschüttelt, doch sein Körper war immer noch betäubt von der Wirkung der Glutmohnsamen. So konnte er der Bewegung des Eisenstabes nur mit den Augen folgen. Der Diamant am Knauf fehlte. Terrence hatte ihn gleich am ersten Tag abgebrochen und in seine Tasche gesteckt. Trotzdem war Nebar sich ziemlich sicher, dieses Stück Eisen zu kennen. Es war früher ein Schwert gewesen. Das Schwert seines Mentors und besten Freundes. Jenedayas Schwert. Viele sagten, es wäre von Vica, der Göttin des Krieges und der Gerechtigkeit, gesegnet und vielleicht war das auch so, aber das war im Moment unwichtig. Wichtig war die eigentlich unmögliche Tatsache, dass es nach zehn Jahren und nachdem es mit seinem Besitzer mitten im Drachenfeuer gefallen war, nicht zu einem formlosen Klumpen geschmolzen oder wenigstens stumpf geworden war. Stattdessen war die Kante immer noch scharf, obwohl rötlicher Rost das Metall überzog. Frostsänger, blitzte der Name in Nebars Kopf auf.

»Mit dem Teil?« Ghamoy lachte auf und wollte den Eisenstab, mit dem Terrence immer noch rumfuchtelte, wegschlagen, doch plötzlich stieß er einen gepressten Fluch aus und zuckte zurück. Quer über seine Handfläche zog sich ein roter Schlitz, aus dem einige Tropfen Blut quollen. Verärgert zog er die Augenbrauen zusammen, während sich auf dem Gesicht von Terrence ein triumphierendes Grinsen ausbreitete.

»Gut, oder? Ich geb dir das Stück Eisen kostenlos dazu, wenn du den Krieger abkaufst«, sagte er. »Zweihundert Arc.«

»Zweihundert Arc?«, schrie Ghamoy erbost und warf die Hände in die Luft. »Für diesen Krüppel, nur, damit ich diesen rostigen Klumpen bekomme? Ich kaufe dir beide für zehn ab.«

Terrence schnalzte mit der Zunge und schüttelte gespielt enttäuscht den Kopf. »Zehn Arc? Dann behalte ich sie lieber und biete sie den Löwenbestien an.«

Er machte gerade Anstalten, Nebar wieder auf den Karren zu heben, auf dem nur noch einige Truhen herumstanden, als Ghamoy erheitert auflachte.

»Welches Spiel versuchst du hier zu spielen, Terrence? Ich weiß ganz genau, dass du dich nicht trauen würdest, zu den Löwenbestien zu reisen. Denkst du, du könntest mich so dazu bringen, dir zweihundert Arc zu geben? Jetzt drehe ich den Spieß mal um! Zehn Arc oder ich erzähle allen, wohin du in Wirklichkeit gehst, wenn du deiner Frau sagst, du wärst in meiner Arena!«

Terrence erbleichte sofort. »Das würdest du nicht tun!«

Ghamoy lachte erneut. »Willst du es darauf ankommen lassen? Ich gebe dir zehn Arc für den Krüppel und diesen Eisenstab. Mehr nicht.«

Der Plünderer stieß zischend Luft aus, die Zähne fest zusammengepresst. »Du bist ein Hurensohn, Ghamoy. Vorhin hast du noch gesagt, du könntest nichts mit dem Waldmenschen anfangen.«

»Ich weiß.« Der Mann streckte die Hand aus. »Also, her mit dem Eisenstab!«

»Erst das Geld!«, forderte Terrence und hielt das Schwert außerhalb seiner Reichweite.

»Meinetwegen«, grollte der andere. Er steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen kurzen Pfiff aus, woraufhin zwei bullige Männer aus einem der Seitengänge auftauchten. »Bringt den Krüppel zu den anderen!«, rief er ihnen zu.

Während Terrence und Ghamoy in einem der Seitengänge verschwanden, wurde Nebar von den zwei Wachmännern hochgehoben. Zum Glück waren sie größer als er, sonst würden seine Füße über den Boden schleifen. Obwohl er keine Schmerzen spürte, wusste er, dass das nicht gut enden würde. Jeder Blick auf sein gebrochenes Bein war eine Qual für ihn. Unuma, was würdest du von mir denken, wenn du mich jetzt sehen würdest, dachte er, wobei seine Brust sich schmerzhaft zusammenzog. Ich wollte nur das Beste für dich und unser Kind, für uns. Und jetzt? Was haben die Wolfsleute mit dir gemacht? Eine einsame Träne tropfte von seinen Wimpern und fiel auf den Boden, wo sie einen dunklen, schimmernden Fleck hinterließ. Ich verspreche dir, ich werde zu dir zurück kommen! Ich werde alles tun, alles, um dich wieder in meinen Armen zu halten!

Die zwei Männer redeten nicht. Weder miteinander noch mit den anderen, die vor einigen Türen und an Kreuzungen standen, wo die Gänge sich aufzweigten. Der Weg führte immer tiefer in den Berg hinein, bis Nebar glaubte, die Luft müsste vollkommen still stehen und stickig sein, was sie jedoch nicht war. Er war noch nie so weit unter der Erde gewesen. Die Enge und Dunkelheit waren bedrückend. Der Gang hatte mittlerweile eine leichte Neigung, wurde dann von einer langen Treppe abgelöst. Es ging immer weiter nach unten, noch tiefer, noch bedrückender, noch enger. Das Knurren von Tieren, das er zuvor schon gehört hatte, war ein Stück lauter, aber immer noch gedämpft. Stattdessen hörte er die Geräusche von unruhig umher gehenden Fußschritten, manchmal ein schweres Seufzen, dann wieder ein unterdrücktes Fluchen. Irgendwo klirrte Metall gegen Metall. Unwillkürlich musste Nebar an die Gerüchte über Theresa denken. Dass sie Sklaven im Keller ihres Hauses hielt. Und er begriff allmählich, welches Leben nun auf ihn warten würde.

Terrence hat mich als Sklaven verkauft. Als Kampfsklaven. Ghamoy hat erwähnt, dass er eine Arena besitzt. Werde ich dort kämpfen müssen? Für wie lange? Wie komme ich nur hier raus? Eine unbändige Verzweiflung kam in ihm auf. Er wollte die Beine gegen den Boden stemmen, egal, wie sehr es weh tun würde, und sich weigern, weiterzugehen, aber die Wirkung der Glutmohnsamen hielt immer noch an. Er spürte weder Schmerzen noch konnte er sich bewegen.

Als sie den nächsten Flur betraten, erstreckten sich links und rechts an den Wänden mehrere Gittertüren. Hinter einigen standen Männer in dunkler Kleidung oder leichten Lederrüstungen, doch sie hatten keine Waffen bei sich. Sie starrten durch die Gitterstäbe auf den Gang oder unterhielten sich mit anderen Männern auf der gegenüber liegenden Seite. Am auffälligsten war jedoch das Brandzeichen, das jeder von ihnen unter dem rechten Auge auf der Wange hatte. Ein vernarbtes ›S‹.

Vor einer der Gittertüren blieben die Wächter, die Nebar trugen, stehen. Einer von ihnen holte einen Schlüssel raus und öffnete die Tür. Nebar wurde hinein geschleppt und gegen die nächstbeste Wand gelehnt, von wo aus er den Raum betrachten konnte, in den er gebracht worden war. Er war größer als er gedacht hatte, was vermutlich aber auch daran lag, dass er nicht für eine Person, sondern für fünf ausgelegt war. Gegenüber von ihm hockten vier weitere Männer am Boden, die alle den Kopf gesenkt hatten, sodass er ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Einer der Wächter eilte aus dem Raum heraus, während der andere drinnen blieb und anscheinend darauf wartete, dass sein Kumpane zurück kam. Dabei ließ er die vier Männer an der Wand nicht aus den Augen, Hand immer am Schwert.

Was wird jetzt passieren?, dachte Nebar. Sein Blick wanderte zwischen den vier Männern, dem Wächter und der offenen Tür hin und her. Warum fliehen sie nicht einfach? Sie sind in der Überzahl. Oder trauen sie sich nicht? Vielleicht fürchten sie aber auch, den Weg nach draußen nicht zu finden. Wir sind so tief unter der Erde...

Ihm fiel auf, dass die Männer, obwohl sie Sklaven waren, gut genährt aussahen. Einer von ihnen trug ein kurzärmliges Hemd, sodass die starken Armmuskeln klar und deutlich zu sehen waren. Auch die restlichen wirkten keineswegs schwach oder krank. Wenigstens scheint Ghamoy sich gut um sie zu kümmern...

Im selben Moment kehrte der Wächter mit einem weiteren Mann zurück. Er war fast einen ganzen Kopf größer als sein Begleiter, doch seine Schultern waren zusammengesackt, sein Rücken gekrümmt und sein Kopf leicht gesenkt. Dunkelbraune Haare fielen ihm ins Gesicht und offenbarten so die spitzen Elfenohren. Als der Wächter ihn an am Unterarm packte und nach vorne stieß, stolperte er fast, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig fangen. Mit einem vor Wut verzerrten Gesicht fuhr der Elf zu ihm herum.

»Kein Grund, so mit mir umzugehen!«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Seine Stimme war ungewöhnlich tief, aber trotzdem melodisch. Er sprach fast ohne Akzent.

»Mach das, wozu ich dich hergebracht habe«, entgegnete der Wächter kühl und deutete auf Nebar. »Der da hat ein gebrochenes Bein. Bis morgen soll das geheilt sein.«

Der Elf riss seinen Blick von dem Mann los und schaute zu Nebar. »Ihr habt ihm Glutmohnsamen gegeben?«

»Nicht wir, sondern der, der ihn Ghamoy verkauft hat. Jetzt mach schon.« Der Wächter gab ihm einen weiteren Stoß. »Ghamoy möchte morgen sehen, was er drauf hat.«

Nebar blinzelte überrascht, als der Elf sich gehorsam neben ihm nieder ließ und seine Beine untersuchte. Mit flinken, geübten Bewegungen entfernte er die Schiene und zerriss den Stoff seiner Hose, um einen besseren Blick auf die Wunde zu haben. Dann legte er seine Hände auf das geschundene Fleisch, atmete tief durch und schloss die Augen. Erst spürte Nebar nichts, doch allmählich machte sich ein heißes Brennen in seinem rechten Unterschenkel breit. Etwas verschob sich, etwas knackte, eine rote Flüssigkeit tränkte den kläglichen Rest seines Hosenbeins. Die Arme des Elfen, die zuvor ruhig und entspannt waren, fingen an zu zittern und er hatte die Lippen wie unter Schmerzen fest zusammengepresst. Nebar hatte bisher nur gehört, dass einige Elfen Magie benutzen, um andere zu heilen, und dabei die Schmerzen des Verletzten auf sich nahmen, aber es jetzt mit eigenen Augen zu sehen, war etwas völlig anderes. Mit der Zeit ließ das Brennen nach und zu seiner Überraschung konnte er sogar seine Finger wieder bewegen. Vielleicht auch den Rest des Körpers? Vorsichtig drehte er den Kopf zur Seite. Keine Schmerzen.

Schließlich zog der Elf seine Hände zurück und wollte aufstehen, doch als er sein Gewicht auf einen Fuß verlagerte, knickte er um. Schnell beugte Nebar sich vor, um seinen Sturz abzufangen, doch sobald er ihn berührte, riss der Elf sich von ihm los und zischte etwas auf seiner Sprache, Vahisisch.

»Hör auf zu fluchen«, bemerkte einer der Wächter trocken, packte den Elfen am Oberarm und zog ihn zurück auf die Beine, wo er schwankend stehen blieb. »Deine Arbeit ist getan. Jetzt gehen wir zurück in deine Zelle.« Mit einem weiteren Stoß drängte er den Elfen aus dem Raum. Der zweite Wächter folgte ihnen und schloss die Tür hinter sich zu.

»Willkommen im Reich des Dunklen«, ertönte gleich darauf die Stimme eines Mannes. Nebar schaute hinüber zu den vier Kriegern an der gegenüberliegenden Wand. Als die zwei Wächter und der Elf gegangen waren, hatten sie sich sofort entspannt und die Köpfe gehoben. Der, der gesprochen hatte, war der mit den starken Armmuskeln. Er trug eine dunkle Lederrüstung über dem Hemd, auf der vorne eine hellere Schramme zu sehen war. Sein linkes Auge war unter einer schwarzen Augenklappe verborgen.

»Das Reich des Dunklen stelle ich mir schrecklicher vor«, erwiderte Nebar. »Immerhin hat der Elf mich vorhin geheilt.«

Der Mann lachte polternd. »Er wird dich noch viele Male heilen, Rabenhaar! Keiner von uns kehrt ohne Verletzungen aus einem Kampf zurück. Wynter hat zwar verboten, dass wir uns gegenseitig umbringen, aber von Wunden hat er nie was gesagt.«

»Wer ist Wynter?«, fragte Nebar. »Was ist das hier überhaupt für ein Ort? Zu welchem der Bergvölker gehört er?«

»Du bist im Gion-Gebirge, im Tal des Adlervolks«, antwortete der Mann. »Wynter ist der Seher dieser Menschen, sowas wie ein Anführer.« Er spuckte aus. »Toller Anführer, der zu viel Schiss hat, um Ghamoy mal zu sagen, dass er die Arena ganz schließen soll.«

»Wenigstens ist er besser als sein Vater«, warf ein anderer ein. Er schien älter zu sein. Graue Strähnen zogen sich durch seine Haare und seinen Bart, in den er einige Zöpfe geflochten hatte.

»Wenigstens das«, bestätigte der Mann mit der Augenklappe und wandte sich wieder an Nebar. »Deinem Akzent entnehme ich, dass du von den Stämmen des Perlenwalds kommst. Den Waldbrand hast du anscheinend ziemlich gut überstanden, aber wie bist du dann hier gelandet?«

Nebar seufzte und schüttelte den Kopf. »Unwichtig. Ich muss dorthin zurück. Wie...?«

»Wir alle wollen dorthin zurück, wo wir herkommen«, unterbrach der Mann ihn. »Aber wir sind Sklaven. Ob direkt von Ghamoys Leuten gefangen, an ihn verkauft oder als Strafe hierher geschickt, ist egal. Wir kommen hier nicht einfach so raus.«

»Morgen wird Ghamoy dich gegen einen von uns kämpfen lassen, um zu sehen, wie gut du bist«, sagte der Mann, der ganz links saß, mit bitterer Stimme. Er war jung, jünger als Nebar. Das ›S‹ auf seiner Wange war noch frisch, also war er anscheinend noch nicht lange hier. Das steht mir auch noch bevor. »Er wird dir auch sagen, wie viele Kämpfe du gewinnen musst, um dir die Freiheit zu verdienen.«

»Wie viele Kämpfe werden das sein?« Für einen kurzen Moment schöpfte er Hoffnung, doch dann kamen die erschütternden Antworten.

»Dreihundert für mich«, sagte der mit der Augenklappe. »Bisher habe ich nur achtundneunzig hinter mir.«

»Einhundertzwölf«, meinte der ältere Mann. »Mir fehlt noch mehr als die Hälfte.«

»Achtundneunzig«, lautete die Antwort des Jünglings.

»Vierundachtzig.«

Bei der letzten Stimme horchte Nebar auf. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Er richtete seinen Blick auf die Gestalt ganz rechts, die ihren Kopf als einzige immer noch gesenkt hatte. Der Mann trug langärmlige Kleidung und hatte sich zusätzlich noch eine Kapuze aufgesetzt, sodass es unmöglich war, sein Gesicht zu erkennen. Der Krieger mit der Augenklappe schien seinen Blick zu bemerken, denn er lachte kurz auf.

»Stimmt ja, er kommt auch aus dem Perlenwald.«

Nebar riss vor Überraschung und Entsetzen die Augen auf, erhob sich auf die Beine, die ihn trugen, als wäre eines von ihnen nie gebrochen gewesen, und trat zu der Gestalt ganz rechts. Mit einem Ruck riss er die Kapuze weg. Darunter kam eine bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Haut zum Vorschein. Kein einziges Haar wuchs auf dem Kopf des jungen Mannes. Seine blassblauen Augen waren mit Tränen gefüllt, als er aufsah.

»Hattac?«, keuchte Nebar fassungslos und musste mehrmals blinzeln, um in dem entstellten Gesicht den jungen Jäger der Wolfsleute zu erkennen. »Ich dachte... Ich dachte, du wärst tot!«

»Ich wünschte, ich wäre tot«, entgegnete Hattac mit krächzender Stimme. »Ich wünschte, ich wäre nie gefunden worden und vollständig in Ximous Feuer verbrannt.«

Nebar fiel vor ihm auf die Knie und wusste nicht, was er sagen sollte. Er ist nach der Jagd vor dem Waldbrand nicht zurückgekehrt. Angeblich hat er einen Wolf in Richtung des Verbotenen Tals verfolgt. Wie kann er noch leben? Bald danach ist Ximou dort gelandet! Selbst Limac und seine älteren Krieger haben das nicht überlebt!

»Ich bin in eine Grube gefallen«, sagte Hattac als hätte er seine Gedanken gelesen. »Wahrscheinlich eine lange vergessene Tierfalle. Ximous Feuer ist größtenteils über mich hinweg gefegt, aber dann wurden die ersten Bäume entwurzelt.« Er holte tief Luft. »Ich habe mich durch die Flammen hoch gekämpft und bin gerannt, bis ich am Stillen Fluss ankam und dort zusammenbrach. Man fand mich und brachte mich hierher.« Er krallte seine Finger in den Stoff seiner Kleidung. »Ich habe meinen Umhang abgelegt. In den Kämpfen der Arena habe ich die Heiligen Regeln der Wälder und Tiere verletzt. Ich gehöre nicht mehr zu den Wolfsleuten.«

Nebars Herz zog sich schmerzhaft zusammen und er legte dem Jäger eine Hand auf die Schulter. »Du bist nicht alleine.«

Hattac sah zu ihm auf, fragte jedoch nicht weiter nach. Stattdessen nickte er nur und wischte sich die Tränen weg. »Meine Familie...« Seine Stimme zitterte so sehr, dass er nicht mehr weitersprechen konnte.

»Sie haben den Brand überlebt«, beruhigte Nebar ihn. »Die meisten, die im Lager geblieben sind, haben das.«

Der Jäger nickte wieder. »Danke.«

Gleich darauf ertönte ein schweres Seufzen. Der Mann mit der Augenklappe hatte ein Bein aufgestellt und stützte sich nun mit einem Arm darauf ab, schaute zu ihnen hinüber. »Betet, dass ihr den Tod des jeweils anderen nicht miterleben müsst«, sagte er.

Nebar runzelte verwirrt die Stirn. »Ich dachte, Wynter hat verboten, dass wir uns gegenseitig töten.«

»Das schon«, gab der andere zu. »Aber denkst du wirklich, vor dir gab es keinen anderen? Weißt du, was mit ihm passiert ist?«

Er schüttelte den Kopf. Unsicher, ob er die Antwort wirklich wissen wollte.

»Er hat sich selbst umgebracht. Hat mitten in der Arena, vor allen Leuten, das Schwert gegen sich selbst gerichtet und es sich tief in den Bauch gestoßen. Sogar Yatur mit seiner Magie konnte ihn nicht mehr retten.«

»Dabei hatte er nur noch fünf Kämpfe vor sich«, fügte der ältere Mann hinzu.

Ein kalter Schauer fuhr Nebar über den Rücken. »Warum hat er das getan?«

Der Mann mit der Augenklappe zuckte mit den Schultern. »Verzweiflung. Vielleicht auch Hass auf sich selbst. Wer weiß das schon.«

Nebar ließ sich wortlos neben Hattac zu Boden sinken, der sich wieder die Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Trotz allem, was er soeben erfahren hatte, weigerte er sich, den Mut zu verlieren. Ich werde hier raus kommen und zu Unuma zurückkehren! Das schwöre ich bei... bei Conar. Die restlichen Götter haben mich offenbar verlassen. Er warf den vier Männern neben sich einen Seitenblick zu. Und, wenn es in meinen Möglichkeiten ist, werde ich auch für eure Freiheit kämpfen.

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