Kleine Seherin

»Lege deinen Umhang ab,

Stehle von deinen Freunden,

Verbünde dich mit dem Feind,

Verletze die Regeln der Jagd,

Verletze die Heiligen Regeln der Wälder und Tiere,

Brich deinen  Schwur,

und dein Platz ist nicht mehr hier.«

NIJAQ, ZUO UND BHOW,

DIE ERSTEN ANFÜHRER

DER WOLFS-, BÄREN- UND LUCHSLEUTE

Das letzte Birkenblatt fand Tara auf dem festen Stein, der einmal den unteren Teil des Ofens ausgemacht hatte. Doch der graue Fels sah nun eher aus wie das zerflossene Wachs einer brennenden Kerze. Schnell blinzelte sie die Tränen weg und zerrieb das einzige Grün in all dem Grau und Schwarz zwischen ihren Fingern. Wer ist hier? Wer wollte, dass ich hierher komme? Und wer weiß, dass ich sofort an diesen Ort denken werde, wenn ich Birken sehe?

Die Jägerin richtete sich auf und sah sich um. Ximou war dieses Mal noch zerstörerischer gewesen. Nicht mal das Kaninchen, das nun zitternd die Nase aus seinem Bau unter den Wurzeln eines verbrannten Baumes herausstreckte, war von seinem Feuer verschont worden. Das sonst braune Fell des kleinen Tieres hatte sich Schwarz verfärbt. Ob von der Asche oder weil es verkohlt war, wusste Tara nicht. Mit angstgeweiteten Augen starrte das Kaninchen sie an und verkroch sich dann schnell wieder in seinem Bau. Wie können Drachen nur so grausam sein?

Ihr fiel ein, dass sie nicht mal wusste, wie viele von den fliegenden Echsen es eigentlich in Alarchia, geschweige denn in der ganzen Goldenen Welt, noch gab. Nur Ximou? Oder vielleicht viel mehr? Hundert? Wie viel Zerstörung könnten sie anrichten, wenn sie sich verbündeten? Die Jägerin schüttelte den Kopf. Gar nicht erst daran denken.

Das verräterische Knacken eines Zweiges unter schweren Schritten ließ sie aufhorchen. Sofort legte sie ihre Hand auf eines der Wurfmesser an ihrem Gürtel. Obwohl sie wusste, dass es derjenige sein könnte, der sie treffen wollte, konnte sie nicht vorsichtig genug sein. Mit geübten Fingerbewegungen öffnete sie die Schnalle, die das Messer hielt, umfasste es fest und horchte. Erneut knackte es.

Tara wirbelte herum und schleuderte ihre Waffe auf den Fremden zu. Doch der duckte sich überraschend schnell und das Messer schlug knapp über seinem Kopf in die Rinde einer Birke ein. Sofort löste die Jägerin eine weitere Klinge von ihrem Gürtel, hielt dann jedoch inne.

»Yatepa?«, fragte sie ungläubig und starrte den Boten der Bärenleute an. Seine teilweise abgeschorenen, braunen Haare waren unverkennbar. Der Mann erhob sich langsam und hob die Hände, um zu zeigen, dass er nicht bewaffnet war. Wieder bemerkte sie die feinen, weißen Narben der Peitsche. Es geht mich nichts an, womit er sie verdient hat. Yatepa trug seinen Umhang aus Tierfell auch nicht mehr und seine Kleidung war, genauso wie ihre, an einigen Stellen verbrannt.

»Hallo, Narbengesicht«, begrüßte er sie schnippisch und grinste. Dabei griff er mit einer Hand hinter sich und zog das Wurfmesser aus der Rinde. Die scharfe Klinge hatte einen sauberen Schnitt im weißen Holz hinterlassen.

»Nenn mich nicht Narbengesicht«, erwiderte Tara und zügelte ihre Wut, obwohl sie wusste, dass er keine Ahnung hatte, was für schreckliche Erinnerungen sie an dieses Wort hatte. Es war genauso wie bei ihrer ersten Begegnung. Genau an diesem Ort hier war er zwischen den Birken hervorgetreten und hatte sie genau so genannt.

»Wie soll ich dich dann nennen? Ich kenne ja nicht mal deinen Namen.« Yatepa ging auf sie zu. Die Jägerin bemerkte, dass er humpelte, auch wenn er es zu verbergen versuchte. Sein rechtes Bein war kurz oberhalb des Knies verbunden und die Wunde darunter schien ziemlich zu schmerzen.

»Mein Name ist Tara«, sagte sie und nahm ihm das Wurfmesser aus der Hand, als er bei ihr angekommen war. »Was ist mit deinem Bein? Und warum lebst du überhaupt noch? Ich dachte, alle, die im Verbotenen Tal waren, wären gestorben!«

Yatepa winkte ab. »Das Bein ist nichts Schlimmes. Das verheilt schon wieder. Und das mit dem Verbotenen Tal ist eine längere Geschichte. Möchtest du dich setzen?« Er deutete mit einer einladenden Handbewegung auf den verkohlten Baumstamm hinter ihr.

Die Jägerin nickte und ließ sich auf dem Stamm nieder. Die Asche, die darauf lag, färbte ihre Fingerkuppen schwarz. Wie ihre Kleidung wohl aussehen würde, wenn sie wieder aufstand? Aber das sollte eigentlich keinen Unterschied machen. Vakhirleder war schon so schwarz. Auch der Bote setzte sich und für einen kurzen Moment konnte sie Schmerz in seinen Augen sehen. Die Verletzung an seinem Bein war wohl doch nicht so leicht, wie er behauptet hatte. Dennoch fasste Yatepa sich ziemlich schnell.

»Du weißt ja, dass ich mit einigen älteren Kriegern Limac gefolgt bin, um ihm zu sagen, dass er sich schnell aus dem Staub machen soll«, hob der Mann mit seiner Erzählung an. »Nun denn, Nebar stellte mir insgesamt fünf Männer zur Verfügung. Wir ritten los. Doch als wir dort ankamen, war es bereits zu spät. Limac war zu weit in das Verbotene Tal eingedrungen. Ich konnte den schwefligen Atem des Drachen riechen und seine roten Schuppen zwischen den Bäumen sehen. Schon der erste Flammenstoß tötete euren Anführer. Es tut mir leid. Ich konnte nur fliehen, weil ich sofort reagiert habe und mein Pferd wenden konnte.« In seinen Augen stand ehrliches Bedauern. »Zwei meiner Krieger konnten ebenfalls flüchten, bevor das Drachenfeuer sie verbrannte. Doch unsere Pferde drehten durch und warfen uns ab. Einer der Männer kam in dem Brand um. Was mit dem anderen passiert ist, weiß ich nicht. Ich konnte ihn nicht mehr sehen, weil ein brennender Baum genau zwischen uns auf den Boden fiel und mir die Sicht zu ihm versperrte. Nachdem das passiert war, rannte ich sofort los. Dann sah ich dich auf der anderen Seite der Flammenwand und opferte meinen Umhang, um dich dort wegzuholen. Alle anderen, die Krieger, die mit Limac losgezogen waren, sie sind tot. Ausnahmslos.«

Tara schaute dem Boten tief in die Augen. Seine Iris war grün wie die Smaragde, die sie manchmal an den Waffen von älteren Bärenleuten gesehen hatte. Dennoch war etwas seltsam.

»Und wie kam es, dass du dich am Bein verletzt hast?«, fragte die Jägerin und deutete auf den Verband. »Mit dieser Wunde hättest du mich unmöglich bis zum Lager schleppen können.«

Yatepa schüttelte leicht den Kopf. »Die Wunde war am Anfang nur ein kleiner Schnitt. Nachdem ich dich vor der Hütte eures Heilers abgelegt hatte, bin ich sofort zu meinem Lager aufgebrochen. Doch angesichts der verbrannten Bäume auf dem Weg dorthin, verließ mich alle Hoffnung und ich kehrte um.«

»Das heißt...«

»Ja«, sagte der Bote. »Es gibt keine Bärenleute mehr. Ich bin der einzige Überlebende. Es ist ein Wunder, dass die Wolfsleute noch leben. Hätte es in der Nacht nicht geregnet, wer weiß, wie weit sich das Feuer dann noch ausgebreitet hätte.«

Tara senkte ihren Blick. »Das tut mir schrecklich leid.«

Yatepa lächelte. Jedenfalls vermutete sie das, weil seine Stimme sich weicher anhörte und ein Hauch von Aufmunterung darin mitschwang. »Ist schon in Ordnung. Meine Eltern sind letzten Sommer an dem Schwarzen Tod gestorben und mein Bruder hat vor zwei Monaten das Lager verlassen, um sein Glück in Zowuza zu suchen.«

Zowuza, die Stadt wo Arme reich werden und Reiche arm. Die Stadt der Möglichkeiten, wie sie auch genannt wurde. Schon tausend Mal hatte Semal davon geschwärmt, dorthin zu reisen, wenn er die Gewissheit haben konnte, dass seine Familie im Wald gut aufgehoben war. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken, als sie daran dachte, dass er fortgehen könnte und sie dann alleine mit den anderen Wolfsleuten zurücklassen würde. Außer ihm hatte sie praktisch keine Freunde. Eigentlich konnten nur er, Cor und Nebar halbwegs gut mit ihr auskommen.

Yatepas Stimme holte Tara wieder zurück in die Wirklichkeit. »Die Wunde holte ich mir, als mich etwas angegriffen hat.«

Die Jägerin schaute den Mann verwundert an. Normalerweise drückten sich alle Menschen des Perlenwaldes sehr klar aus. Jeder kannte jeden und auch alle Tiere, die hier lebten. Oder gelebt haben. Nach diesem Brand war ungefähr so viel Leben im Wald geblieben wie in dem Körper eines Ertrunkenen. »Etwas?«, fragte sie deshalb.

»Etwas.« Der Bote strich mit der Hand über die Rinde des Baumstamms und zerrieb den Aschestaub zwischen seinen Fingern. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Plötzlich war es so kalt. Und da sah ich einen Schatten mitten in den verbrannten Ruinen der Bäume. Eine formlose, schwarze Gestalt. Sie sah mich an. Es war, als sähe sie direkt in meine Seele und griff nach meinen Gedanken. Einen kurzen Augenblick lang war ich völlig orientierungslos. Dann spürte ich einen stechenden Schmerz an meinem Oberschenkel. Eine silberne Klinge blitzte auf und ich fiel zu Boden. Als ich aufstand war die Gestalt wieder verschwunden. Aber eine undurchdringliche Kälte blieb zurück. Danach bin ich zu der Hütte eures Heilers zurückgekehrt und habe dir die Spur aus Birkenblättern gelegt. Ich wusste, das du ihr folgen würdest.«

Tara fing Yatepas Blick ein und sie starrten sich eine Weile an, bis die Jägerin schließlich das Wort ergriff: »Diese Gestalt, die du beschrieben hast... Es könnte sich um einen Zauber handeln.«

»Einen Zauber? Magie? Du meinst, eine Fee wollte mich umbringen?« Der Mann erhob sich und klopfte seine Hose aus. Die Betonung der Worte ließ sie aufhorchen. Er klang nachdenklich. Verheimlichte er ihr etwas? »Warum sollte eine Fee so etwas tun? Sie sind doch die Hüterinnen der Elemente. Und die Menschen des Perlenwaldes halten sich an die Heiligen Regeln des Waldes und der Tiere!«

In Taras Kopf drehte sich alles. Dieser Schatten... Irgendwo habe ich ihn schonmal gesehen! Etwas, das ich verwirrend fand... Etwas...

Doch egal, wie sehr sie versuchte, sich daran zu erinnern, sie wusste es nicht. Schließlich stand auch sie auf und ging ein paar Schritte auf den Rand der Lichtung zu. »Feen sind hinterlistig. Man weiß nie, was sie denken und ob sie lügen oder nicht«, erklärte sie, während sie über die Kerbe im Birkenholz strich, die ihr Wurfmesser hinterlassen hatte. »Man weiß nie, ob sie dir helfen oder schaden wollen.«

Yatepa trat hinter sie und blieb etwa zwei Schritte von ihr entfernt stehen. Tara drehte sich um. Die Schleifspuren seines rechten Beines waren noch auf dem mit Asche bedeckten Boden zu sehen. Der Geruch von verbranntem Holz hing in der Luft.

»Cor hat mir erzählt, dass jede Fee einem Bereich zugeordnet ist, über den sie wachen soll. Sollte wirklich eine Hüterin der Elemente diesen dunklen Zauber heraufbeschworen haben, müssen wir einfach nur herausfinden, welche Fee über den Perlenwald wacht.«

»Also brauchen wir eine Bibliothek«, schlussfolgerte der Mann und humpelte einen Schritt auf sie zu. Nun versuchte er nicht mehr, seine Verletzung zu verbergen und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Besorgt sah die junge Frau zu seinem Bein. Als Yatepa ihren Blick bemerkte, winkte er sofort ab. »Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

»Aber die Wunde...«

»Ist nicht schlimm. Was denkst du denn, wie ich hierher gekommen bin.« Sobald er das gesagt hatte, trat ein Pferd aus den Schatten des verbrannten Waldes hervor. Tara erkannte es sofort. Es war der uneingerittene Hengst, auf dem sie versucht hatte, Limac und Yatepa einzuholen. Es war dasselbe schwarze Fell und dieselben klugen Augen. Doch irgendwie schien der Rappe verändert. Nicht mehr so unsicher und ängstlich, wie er war, als sie auf ihm durch den Wald geritten war.

»Du... Wo hast du ihn her?«, stotterte Tara fassungslos und trat respektvoll einige Schritte zurück.

Der Bote schaute sie verwundert an. »Du kennst ihn?«

»Ja, das ist der Hengst, der mich abgeworfen hat, als ich dir hinterher geritten bin. Er ist nicht eingeritten. Wie hast du es geschafft...« Sie stockte kurz. »Hat er etwa keinen Sattel und kein Zaumzeug?«

Yatepa zuckte nur mit den Schultern, trat zu dem Rappen und strich ihm sanft über den Hals. »Also mir hat er gleich gefallen. Nicht wahr, Kanesso?«

Der Hengst schnaubte.

»Kanesso?« Tara war zu überrumpelt, um klar denken zu können. Yatepa hat dieses Pferd von den Wolfsleuten gestohlen! Man wird uns suchen und bestrafen! Was hat er sich dabei gedacht? Jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als von hier zu fliehen, wenn wir nicht verbannt werden wollen. Wobei Yatepa wahrscheinlich eher zu Sklavenarbeit verurteilt wird, wie ich Theresa kenne. Man darf seinen Umhang nicht ablegen.

Theresa war Limacs Gattin und im Lager kursierten Gerüchte, dass sie Sklaven in ihrem Keller versteckte, die nachts für sie arbeiteten. Als mächtigste Frau der Wolfsleute bestrafte sie jedoch jeden, der sie des Sklavenhandels beschuldigte.

»Kanesso«, meinte Yatepa schlicht. »Gefällt dir der Name? Ich fand ihn ziemlich passend. Aus dem Vahisischen übersetzt heißt es so etwas wie ›Schneller Blitz‹.«

»Du kennst die Sprache der Elfen?«, fragte Tara verwundert und ging langsam auf den Rappen zu. Der Hengst war ihr immer noch nicht geheuer. Besonders, weil er sie nun direkt ansah und mit seinen Hufen den Boden aufwühlte.

»Meine Mutter aus einer der Städte am See der Leidenschaft. Aus welcher genau, hat sie mir nie erzählt. Tatsache ist jedoch, dass sie dort eine Elfe als Lehrerin hatte, die ihr ihre Sprache beigebracht hat.« Der Mann verschränkte seine Finger ineinander und hielt sie als Aufsteigehilfe auf der Höhe von Kanessos Bauch. »Komm, steig auf.«

Die junge Frau umrundete den Rappen in einem weiten Bogen und wuchtete sich dann mit Yatepas Hilfe auf den Rücken des Hengstes. Dieser trat einen Schritt vor, woraufhin sie runtergefallen wäre, hätte sie sich nicht an seiner Mähne festgekrallt. Es war ungewohnt für sie, ohne Sattel auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen.

Der Bote war schlauer und stellte sich zum Aufsteigen auf einen umgefallenen Baumstamm. Tara merkte, dass er einen Schmerzenslaut unterdrückte, als er sein verletztes Bein rüber schwang. Schließlich atmete er tief durch.

»Halte dich am besten an seiner Mähne oder dem Halsring fest«, erklärte Yatepa und lehnte sich leicht nach vorne, bis seine Brust ihren Rücken berührte. Dann streckte er seine Arme nach vorne, um ihren Bauch zu umfassen, stockte jedoch kurz. Als sie nicht protestierte hielt er sich an ihr fest und murmelte etwas, woraufhin Kanesso sich langsam in Bewegung setzte.

»Wohin reiten wir?«, fragte Tara leise und drehte ihren Kopf etwas zur Seite, damit er sie hören konnte. Eine sanfte Windbö wehte ihre schwarzen Haare nach hinten in sein Gesicht.

»Nach Zowuza. Mein Bruder wollte dort in der Bibliothek arbeiten. Er wird uns sicher weiterhelfen.« Yatepa lächelte sie leicht an. »Sein Name ist Nurov.«

»Seltsamer Name für einen Krieger der Bärenleute«, meinte die Jägerin.

»Den Namen hat sich meine Mutter ausgesucht. Er bedeutet in der Sprache der Elfen ›Pfeilschnitzer‹. Er war unser bester Bogenschütze, verstand es aber auch gut, Schläge im Nahkampf auszuteilen.«

Pfeilschnitzer. An irgendwas erinnert mich das...

Plötzlich beschleunigte Kanesso seine Schritte und galoppierte los. Je weiter sie kamen, desto lebendiger wurde die Landschaft. Zwar lag auch hier überall Asche und Ruß haftete an den noch stehenden Bäumen, doch ab und zu erhaschte Tara einen Blick auf eine grüne Pflanze oder eine kleine graue Maus, die im Schatten eines umgefallenen Stamms an einer Nuss knabberte.

Allmählich wurde auch die Luft frischer. Es roch nach Harz und dem Moschusgeruch von Wild. Mit einem eleganten Sprung setzte Kanesso über einen Dornenbusch über und kam wohlbehalten auf der anderen Seite wieder auf. Einen kurzen Augenblick blitzte ein roter Busch in Taras Sichtfeld auf und plötzlich erinnerte sie sich.

Die Gestalt, dieser Schatten, den Yatepa gesehen hat. Ich habe ihn auch gesehen. In der Nähe von Unars Leiche! Das war kurz bevor Ximou den Waldbrand entfesselt hat!

Die junge Frau klammerte sich fest in die schwarze Mähne des Hengstes.

Wenn Unar mit Limac losgezogen war, müsste Yatepa ihn eigentlich erwähnen. Doch das hat er nicht, also müsste... Eine dunkle Ahnung überfiel die Jägerin. Das ganze Blut. Die Kälte. Yatepas Verletzung. Er muss mit Unar gegen den Schatten gekämpft haben und Unar muss dabei gestorben sein. Aber warum hat er mir das nicht gesagt?

Die Frage wurde ihr beantwortet, als der Bote blitzschnell eines der Wurfmesser aus ihrem Gürtel zog und es an ihren Hals hielt, während Kanesso immer noch weiter galoppierte. Erschrocken ließ Tara die Mähne los und wurde sofort von Yatepa runtergerissen. Beide kamen mit voller Wucht auf dem Waldboden auf, doch der Mann der Bärenleute schien keinerlei Schmerz zu spüren. Ohne mit der Wimper zu zucken richtete er sich auf und kam auf sie zu. Das Wurfmesser blitzte gefährlich in seiner Hand auf.

Die junge Frau tastete hastig nach ihrem Waffengürtel, doch ihre Finger zitterten zu sehr. Bevor sie eines der Messer zu packen bekam, war Yatepa schon über ihr und schloss seine Hand um ihre Kehle. Mit unglaublicher Kraft zog er sie hoch, bis ihre Füße den Boden nicht mehr berührten. Tara schnappte nach Luft. Hilflos hielten ihre Finger seine Hand umklammert und versuchten, seinen Griff zu lösen. Vergeblich. Er hat nicht mit Unar gekämpft, sondern gegen ihn!

»Du wirst nie herausfinden, was passiert ist, was gerade passiert oder was passieren wird«, knurrte eine Stimme. Es waren die Lippen des Boten, die sich bewegten, doch es war nicht er, der sprach. »Hier ist dein Ende, kleine Seherin.«

Sein Griff wurde fester und das Wurfmesser blitzte im Licht Sonne auf, das ungehindert auf den Waldboden schien. Langsam verließen Tara ihre Kräfte. Mit letzter Kraft versuchte sie, nach dem Mann zu treten, doch ihr Tritt ging ins Leere. Ihr wurde schwarz vor Augen. Immer weniger nahm sie wahr. Das letzte, was sie hörte, war das Zwitschern eines Vogels weit, weit entfernt. Als würde es aus einer anderen Welt kommen. Und sie würde in eine andere Welt gehen.

Plötzlich ertönte jedoch noch ein weiteres Geräusch. Ein Schrei, dann ein dumpfer Laut wie von einer Faust, die gegen einen Baum schlug. Auf einmal bekam sie wieder Luft, die ihr jedoch sogleich wieder aus den Lungen gepresst wurde, als sie auf dem harten Boden aufkam. Gierig sog sie die Luft ein und hustete. Dann drehte sie sich auf den Rücken und versuchte, ihre Lungen mit so viel Sauerstoff wie möglich zu füllen.

Langsam öffnete sie die Augen. Auf einmal leuchteten ihr grelle Farben entgegen. Wie Blitze brannten sie sich in ihre Netzhaut, sodass sie nichts anderes mehr wahrnehmen konnte. Sofort kniff Tara die Augen wieder zusammen. Was passiert mit mir?

In ihrer Nähe kämpfte jemand. Das konnte sie an den Kampfschreien und dem Keuchen hören, das nach einem Schlag gegen die Brust oder in die Magengrube folgte. Nach einer Weile fiel jemand zu Boden und der Lärm erstarb. Das Schnauben zweier Pferde ertönte. Eine Hand packte sie bei der Schulter und drehte sie zur Seite.

»Tara! Tara, öffne deine Augen!« Die Stimme kam ihr so bekannt vor. So bekannt...

Die Jägerin wurde hochgehoben und auf den Rücken eines Pferdes gelegt. Weiches Fell strich über ihre Wange. Die Stimme sagte wieder etwas zu ihr, doch sie konnte es nicht verstehen. Langsam öffnete sie wieder die Augen. Erneut blendeten sie die Farben. Diese Farben... Zu hell. Ich brauche Luft!

Jemand legte eine Decke über sie. Sie duftete nach Kräutern und Baldriantee. Das Pferd setzte sich in Bewegung. Wieder diese Stimme. Aber was sagte sie? Tara konnte nur ihren Namen heraushören. Langsam schloss sie ihre Augen und sie tauchte ein in eine tiefe Dunkelheit. Was hatte die Stimme aus Yatepas Mund gesagt? Kleine Seherin...

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