Klares Wasser und dunkle Gestalten

»›Komm zu mir, mein Geliebter!‹

›Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen.‹

›Ich bin das Wasser selbst.

Ich bin nur ein Tropfen unter vielen.‹

›Du bist also eine Fee?‹

›So ist es, mein Geliebter.‹

›Unsere Liebe ist unmöglich. Es ist verboten...‹

›Ist es verboten, ein Bad im Meer zu nehmen?‹«

AUS DEM MÄRCHEN

»DER MEERESKRIEGER«

Ihre Fingernägel kratzten über den robusten Stein und hinterließen tiefe Rillen darin. Ein einsamer Parak schwamm in ihre Höhle, leuchtete erschrocken auf und nahm sofort Reißaus, bevor der Wasserstrudel ihn gegen die Wand geschleudert hätte. Cimx bleckte ihre spitz gefeilten Zähne und schrie. Im selben Moment erloschen alle Paraks, die in den Glasbehältern gefangen waren, um Licht zu spenden. Tiefe Dunkelheit umfing sie und sie wirbelte herum. Brennender Schmerz machte sich in ihrer Flosse breit, als sie eines der zersplitterten Gläser streifte. Der Geschmack von Blut mischte sich nun unter das Wasser, das sie atmete und sie schüttelte unwillig den Kopf.

»Macht das Licht an!«, fuhr sie die leuchtenden Fische in ihrer Höhle an, die sofort wieder aufflackerten. Cimx' Blick wanderte über das Chaos, das sie angerichtet hatte. Überall lagen Scherben verstreut und verschiedene Flüssigkeiten trübten das Wasser, über dem nun ein leicht rötlicher Schimmer lag. Sie fluchte. Der Wasserstrudel hatte die meisten Regale mit den Proben von Meereslebewesen zerstört und einige Paraks aus ihren Gefängnissen befreit. Es würde Stunden dauern, sie wieder einzufangen. Alleine. Ohne ihre Schwester.

Wieder ergriff die Wut sie und die Nixe zerdrückte eine Muschel, in der eine Perle herangewachsen war, an der Steinwand. Das Perlmutt glänzte in ihrer Handfläche und reflektierte ihr Antlitz. Sie erschrak. Schwarze Augen ohne erkennbare Pupille starrten ihr entgegen. Allmählich wurde das Schwarz zu einem hellen Bernsteinton und sie entspannte sich. Langsam schloss Cimx die Augen und verzog gequält das Gesicht. Wieder sah sie, wie ihre Schwester von dem Dachs an den Strand gezerrt und grausam ermordet wurde. Arou hatte nicht geschrien. Ihre blauen Augen hatten ihr nur traurig entgegen geblickt und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie eine Nixe weinen sehen. Es gab keine Schicksalsschwestern mehr. Ihr Blut war schon lange vom Strand fortgeschwemmt worden. Cimx schrie auf und funkelte die Paraks warnend an.

Die Nadgore waren eine undurchdringliche Wand für sie gewesen. Sie hatte Arou nicht mehr helfen können. Ihre eigenen Schreie waren es gewesen, die den Tod ihrer Schwester begleitet hatten. Voller Verzweiflung hatte sie ihren Körper auf den Strand gewuchtet, nur, um ihre Haut an den scharfen Sandkörnern aufzuschneiden und einige Schuppen zu verlieren. Sie hatte versucht, in ihre wahre Gestalt zu wechseln, um den Dachs aufzuhalten. Sie hatte wirklich versucht, Blutmagie zu wirken, doch alle ihre Versuche waren vergeblich gewesen. Seit ihrer Verbannung aus dem Nixenteich hatte sie diese Macht verloren.

Cimx riss ihre Augen auf und hielt sich mit der rechten Hand an der scharfen Kante ihrer Geburtsmuschel fest. Ihre Finger krallten sich in die Schale. Der Schmerz tat gut. Die Wasserfee fauchte, enttäuscht von sich selbst, und zog die Hand weg. Sofort verheilte der Schnitt und nur eine weiße Narbe blieb, die in einem Monat ganz verschwinden würde. Nicht so wie die Narben der Nesselstiche überall auf ihrer Haut. Sie schrie auf. Ich muss meine Gefühle unter Kontrolle bringen!

Die Nixe ballte ihre Hände zu Fäusten und befahl dem Wasserstrudel, sich aufzulösen. Kleine Luftblasen stiegen zu der Decke der Höhle und arbeiteten sich stetig weiter, bis sie letztendlich an die Wasseroberfläche kommen würden. Eine Muräne steckte ihren Kopf aus einem Loch im Stein und zog sich bei dem Anblick der zornigen Wasserfee wieder zurück. Cimx lächelte. Sie war immer schon furchteinflößender als ihre Schwester gewesen. Und grausamer.

Auf einmal spürte sie eine leichte Welle von Magie, die sie erreichte. Es war ganz in ihrer Nähe. Genau über ihr. Wer ist so lebensmüde und wagt es, in mein Gebiet einzudringen?

Cimx fauchte und schnellte vor. In geübten Schwimmzügen bewegte sie sich durch das Labyrinth aus Tunneln, bis sie ihr Zuhause verlassen hatte. Die Sonne schien durch die Wasseroberfläche und das Licht brach sich in den anrollenden Wellen. Sie wartete auf den Neuankömmling, doch da war niemand. Hatte sie sich geirrt? Die Wasserfee horchte in ihre Umgebung und spürte die Magie um sich herum. Da! Sie tat einen kräftigen Flossenschlag, bleckte die Zähne und fauchte. Ihre Augen färbten sich rot und ihre Pupillen wurden zu Schlitzen. Nun musste sie wie ein richtiges Meeresungeheuer aussehen.

»Was suchst du hier?«, schleuderte Cimx der Nixe vor ihr entgegen. Es war eine der jüngeren Schwestern aus dem Teich, die ihre Geburtsmuschel erst vor wenigen Jahren verlassen hatte. Sie starrte die Rothaarige mit weit aufgerissenen Augen an und knetete unruhig ihre Hände. Allmählich wurde Cimx ungeduldig. Sie peitschte mit ihrer Schwanzflosse das Wasser hinter ihr auf. Das schien sie aus ihrer Starre zu reißen.

»Ich bin gekommen, um dir zu helfen.«

»Was?« Cimx schob ihren Unterkiefer vor. »Ich brauche deine Hilfe nicht! Sag Arif, sie soll ihre Spielchen lassen oder selber herkommen!«

Die Wasserfee schluckte. Ihre dunkelblauen, fast schwarzen Haare wirbelten um sie herum wie ein Schleier und verdeckten ihr rundes Gesicht, bis sie sie wegstrich. »Ich weiß, was mit deiner Schwester passiert ist. Ich habe es gespürt. Alle im Nixenteich haben es gespürt.«

Cimx spürte, wie ihr ganzer Körper sich unter der angestauten Wut versteifte. Ihre Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. »Ihr habt es gespürt und nicht geholfen«, zischte sie und schrie: »Das werde ich euch nie verzeihen!«

»Schwester, bitte...«

»Wir sind keine Schwestern! Meine einzige Schwester ist tot! Sie wurde ermordet! Jetzt gibt es nur noch mich! Und ich schwöre auf Rache! Vielleicht sollte ich mit dir anfangen!« Cimx schoss vor, um ihre spitzen Zähne im Fleisch der anderen Wasserfee zu vergraben, doch diese stieß einen schrillen Schrei aus und hob abwehrend die Hände.

»Bitte! Hör mich an! Ich weiß, wo der Dachs ist, der deine Schwester ermordet hat!«

Die Nixe hielt inne und schwamm etwas zurück, um Abstand zwischen sich und diese lebensmüde Wasserfee zu bekommen. Sie weiß es. Sie weiß, wo der Mörder ist. Warum sagt sie es mir?  Misstrauisch kniff sie die immer noch roten Augen zusammen. Ist es ein weiterer Trick von Arif, um auch mich loszuwerden? Hat sie vielleicht dafür gesorgt, dass Arou gestorben ist? War das alles geplant?  Sie fauchte und schlug mit einer Hand nach der Nixe, fuhr jedoch nur durch ihre dunklen Haare.

»Beweise mir, dass du die Wahrheit sagst!«, forderte Cimx.

Die andere Wasserfee starrte sie nur ängstlich an, die Arme immer noch schützend vor sich erhoben. »Ich... Ich kann es nicht beweisen. Aber... Die Tochter der See...« Sie verstummte, als Cimx warnend die spitzen Zähne zeigte und berichtigte sich schnell: »Arif hat ihn dazu gebracht, den Silberwald zu verlassen und in den Perlenwald zu gehen. Da ist ein Elf, nach dem er sucht.«

»Ein Elf?« Sie horchte auf. Im Perlenwald gab es eigentlich keine Elfen. Sie wohnten alle in den Städten am See der Leidenschaft oder auf den Schwebenden Inseln. Unwichtig, schalt sie sich. Doch für einen kurzen Moment meinte sie die leise Stimme ihrer Schwester zu hören, die etwas murmelte. Von Blut, Krieg und Tod. Von einem Helden, der all dies verhindern könnte. Von einer unsterblichen Liebe, die bis über die Grenzen des Unmöglichen hinausging. Arou? Was möchtest du mir sagen, Schwester? Was möchtest du mir sagen? Verzweiflung stieg in ihr auf. Oh Arou, es tut mir so leid!

»Du... Du könntest in deine wahre Gestalt wechseln, den Dachs aufsuchen und deine Rache vollziehen«, sagte die andere Nixe zögerlich. Offenbar hatte sie begriffen, dass Cimx keine Gefahr mehr für sie darstellte. Vorerst nicht.

»Warum tust du das?«, presste die Schicksalsschwester hervor. »Warum hilfst du mir, obwohl ich eine Verstoßene bin? Was kümmern dich meine Probleme?«

»Ich... Ich...«, stotterte die Wasserfee. »Ich habe Mitleid mit dir.«

»Mitleid?« Die Wut kam wieder in ihr hoch. Sie wusste, dass ihre Augen sich nun feuerrot wie ihre Haare verfärbten, denn die Nixe wich erschrocken vor ihr zurück. »Mitleid? Wo war dein Mitleid, als ich in den Schwarm von Feuerquallen getrieben wurde? Wo war dein Mitleid, als ich zu einem Leben in dieser Grotte verdammt wurde? Es gibt kein Mitleid in der Welt der Feen!« Sie krümmte sich und kreischte auf. »Es gibt kein Mitleid, keine Gerechtigkeit, keine Freiheit! Nur Schmerz!« Sie spürte ihn in sich, den Schmerz. Und auf einmal war da die Magie. So viel Magie. Sie sammelte sich in ihrer Mitte. In ihrem Zentrum. Es gab nur noch die Magie und sie selber. Eine Kugel aus hellem Licht.

Plötzlich explodierte alles vor ihren Augen. Cimx schrie auf. Die Magie zog sie zu sich. Nahm sie in ihren Bann, bis sie nichts mehr spürte. Da war nichts mehr. Kein Körper, kein Schmerz, gar kein Gefühl. Sie konnte weder sehen noch hören und doch war da etwas. Ein Netz aus weißen Nebelfetzen, das sich vor ihr ausbreitete. Voller Erstaunen verstand sie: Sie hatte in ihre wahre Gestalt zurückgefunden. Sie war das Wasser. Und Wasser war ihr Element. Ganz in ihrer Nähe fühlte sie die Präsenz der anderen Nixe. Ihre Überraschung und Verwirrung. Offenbar verbot Arif ihren Schwestern immer noch, in ihre wahre Gestalt zu wechseln. Diese Hexe!

Cimx schoss vor. Es war leicht, so leicht! Die Kühle um sie herum entspannte sie wie nie zuvor. All ihre Sorgen waren vergessen. Der weiße Nebel verdichtete sich zu einer vollkommen flachen Ebene. Die Welt der Magie. Die Nixe hielt an und sah sich um. Schrecken legte sich um ihr Herz. Im Norden Alarchias erstreckte sich eine schwarze Fläche, die jeden Moment weiter anwuchs. Dunkle Flecken hatten sich über das ganze Land verteilt. Doch alles hatte einen Ursprung. Wie im Huyu Yatto, dem Turm des Schreckens in Leôria, waren auch hier dunkle Mächte am Werk. Schwarze Magie und Nadgore. Schatten wanderten durch das Land. Tiergeister, die versuchten, ihrer Herrin zu gefallen. Der Dachs. Er gehörte auch dazu.

Sie bemerkte eine schwarze Gestalt inmitten des Weiß, die von mehreren dunklen Schwaden umringt war. Im Perlenwald. Der Dachs. Die Nixe hatte also nicht gelogen. Nun würde sie ihre Rache bekommen. Sie war nur ein Wassertropfen unter vielen. Sie kannte den Weg durch die Erde, den Weg durch die Luft, den Weg durch die Magie. Niemand konnte sie aufhalten. Denn auch in Blut war Wasser. Und Wasser war ihr Element. Doch da war noch etwas. Cimx sah den Elfen im Perlenwald. Erkannte ihn. Erkannte die Gefahr, in der er schwebte. Wieder hörte sie die Stimme ihrer Schwester so klar, als wäre sie direkt neben ihr. Ich werde ihm helfen, Arou. Aber du kannst mich nicht daran hindern, Rache für deinen Tod zu nehmen!

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