Im Fieberwahn

»Scharfe Klauen wie Schwertklingen

Werden dem Land Unheil bringen.

Der Drache Ximou ist erwacht,

Steigt nun auf in die schwarze Nacht.

Krieger schleifen gold'ne Waffen.

Wollen Sieg über ihn schaffen.

Wolfs- und Bärenleute scheitern.

Es folgen Adler mit Reitern.«

FÜNFTE UND SECHSTE STROPHE DES GEDICHTS

»KÖNIG ZEFALO, HERZOG DER LÜFTE«

»Habt ihr das gesehen?« Beria folgte Yatepas Blick und meinte, zwei Gestalten zu erahnen, die direkt über der Landzunge auf den Wald zuzufallen schienen. Trotz ihrer geschärften Sinne konnte sie jedoch nicht erkennen, wer dort vom Himmel stürzte.

»Das ist ein Adler mit eingeknickten Flügeln«, stellte Cor fest, der sein braunes Pferd wendete und dabei darauf achtete, dass Tara nicht herunterfiel. Die junge Frau war immer noch in einer Art Trance. Zwar war noch nicht so viel Zeit vergangen, dass sie sich Sorgen machen mussten, doch ihr Fieber wollte einfach nicht sinken. Der Heiler hatte ihr in Wasser getränkte Fellfetzen auf die Stirn gelegt. Aus dem Rest des dunkelgrauen Wolfspelzes hatte er einen provisorischen Überwurf für die Erdfee gemacht, wofür sie ihm zutiefst dankbar war. So war ihr wärmer und sie musste sich keine Sorgen darüber machen, dass Yatepa ihr seltsame Blicke zuwarf, obwohl er sich erstaunlich gut hielt. Besser als die Männer aus Jami.

Menschen sind so kompliziert. Sie haben so viele verschiedene Namen, verschiedene Sprachen, Bräuche und Götter. Seit sie zu viert losgezogen waren, hatte der Wolkenleser ihr gesagt, sie solle jeden beim Namen nennen, sonst würde er sich ein weiteres Duell mit ihr liefern. Das konnte sie nicht zulassen. Ihre Magie war vollkommen aufgebraucht. Sie hatte versucht, das Quay-Tattoo mit nasser Erde nachzuzeichnen, um so die Verbindung zu ihrer Inneren Magie wieder herzustellen. Vergeblich.

»Ein Adler?«, fragte Yatepa verwirrt. »So große Adler gibt es doch gar nicht. Der größte, den ich mal an der Küste auf der Landzunge gesehen habe, hatte eine Flügelspannweite von zwei Schritt.«

Cor schmunzelte und auch Beria musste lächeln. »Es gibt solche großen Adler nur an drei Orten in der Goldenen Welt. Und alle drei befinden sich in Alarchia«, erklärte der Wolkenleser und sah erneut zu der Stelle, an der die zwei Gestalten eben noch zu sehen waren. Vermutlich hatten sie den Sturz nicht überlebt. »Diese riesigen Vögel heißen Rußadler und sind so groß, dass zwei ausgewachsene Männer mit ausgebreiteten Armen auf ihrem Rücken stehen könnten, ohne sich zu berühren. Ihre größte Kolonie ist im Gion-Gebirge.« Beria hob interessiert den Kopf. »Sie nisten dort in der Nähe der Drachenhöhle. Keiner weiß, warum sie von dort nicht vertrieben werden, schließlich wollen Drachen nicht gestört werden. Doch eine Legende besagt, dass sich ihr Gefieder vom Atem des Drachen so grau verfärbt hat und er sie nur deswegen duldet, weil sie ihm so ähnlich sind.«

»Du redest immer nur von einem Drachen«, stellte Yatepa fest, während Cor seinen Hengst erneut wendete und im Schritt weiter am Waldrand entlang ging. Beria warf noch einen Blick in Richtung der Landzunge und tat es ihm dann nach. Als sie wieder gleichauf mit dem Heiler waren, fuhr der Menschenmann fort: »Der Drache ist doch Ximou, oder nicht?«

»Ximou ist nur einer von insgesamt sieben Drachen, die in der Drachenhöhle lebten«, sagte der Wolkenleser. Die Dryade spürte, wie Yatepa hinter ihr kurz zusammenzuckte.

»Es gab noch mehr?«, fragte er fassungslos.

»Natürlich. Aber ihre Existenz verteilt sich auf mehrere Jahrhunderte. Der letzte ihrer Art ist Ximou. In Alarchia jedenfalls. Ich weiß nicht, ob es in den anderen Ländern der Goldenen Welt ebenfalls noch Drachen gibt. Meistens sind sie friedlich und leben zurückgezogen in ihrer Höhle, solange man sie nicht stört. Ximou ist eine Ausnahme. Allerdings ist es auch verständlich, warum er auf Rache aus ist. Die Drachenjäger der Wolfs-, Bären- und Luchsleute haben seine Brut getötet, bevor sie schlüpfen konnte. Und das ist gerade mal zwölf Jahre her.« Er sah Yatepa auf eine Weise an, die ihr nicht gefiel.

»Mehr Drachen hätten nur noch mehr Probleme gebracht«, versuchte er seine Stammesmitglieder zu verteidigen, doch Cor hatte den Blick schon abgewandt.

»Was ist mit seiner Gefährtin passiert?«, fragte Beria vorsichtig. »Sein Weibchen, er muss doch eines gehabt haben. Und wo war sie, als die Drachenjäger seine Brut zerstörten?«

Der Wolkenleser kniff die Lippen zusammen. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn. »Keiner weiß, wer sie ist oder wo sie war. Nur Gerüchte...« Er hielt sein Pferd an. Der braune Hengst warf empört seinen Kopf zurück, als der Heiler abstieg und vorausdeutete. »Ich würde euch auch empfehlen, abzusteigen. Dort vorne ist der Stille Fluss. Wir können ihn nur zu Fuß überqueren.«

Yatepa seufzte, ließ sich dann aber von Kanessos Rücken gleiten. Beria hingegen sah Cor entgeistert an. »Du meinst, wir werden demjenigen, der mit dem Adler abgestürzt ist, nicht helfen?«

Der Wolkenleser war bereits knöcheltief im seichten Wasser und schüttelte entschieden den Kopf. »Wer auch immer dort abgestürzt ist... Es musste wohl so sein. Seht ihr, da, die Schatten in der großen Wolke?« Beide nickten. »Das sind Adlerreiter. Im Adlerturm, auf der einer der Schwebenden Inseln im Osten, werden auch Rußadler gehalten. Jedes Jahr zur Zeit der Mildmonde wandern Elfenkrieger ins Gion-Gebirge und holen sich von dort ein Ei. Sie ziehen das Küken auf und bilden es aus, bis es nur noch ihnen oder einer anderen ausgewählten Person gehorcht. Meistens sind es nur Elfen, die dann Adlerreiter genannt werden. Sie ziehen nur dann in so großen Scharen aus, wenn es gilt, jemanden gezielt zu töten. Mit denen sollte man sich besser nicht anlegen. Und jetzt kommt.«

Immer noch unzufrieden stieg Beria nun auch von Kanesso ab und folgte Cor und Yatepa durch den Fluss. Wegen seiner Verletzung musste der Menschenmann humpeln und sein provisorischer Verband sog sich mit Wasser voll. Ein leicht roter Schatten legte sich über den Strom. Als der Wolkenleser das andere Ufer erreicht hatte, drehte er sich zu ihnen um und riss entsetzt seine Augen auf.

»Yatepa! Komm sofort aus dem Wasser raus! Das Blut lockt Böses an.« Er reichte ihm eine Hand und zog ihn schnell aus dem Fluss hinaus. Auch die Dryade beeilte sich. Das kühle Nass war erfrischend. Am anderen Ufer schöpfte sie etwas Wasser aus dem Fluss und tröpfelte es sich auf die Stirn. Dann wusch sie ihr Gesicht und ihre Arme. Ihr Blick fiel erneut auf die rote Schramme, die ihr Quay-Tattoo am Unterarm in zwei Hälften teilte. Wenn sie nicht bald eine Lösung dafür fand, würde sie nicht lange in dieser Welt voller Magie überleben. Andererseits tat Yatepa es ja auch. Das muss ein sehr bedrückendes Gefühl sein. Ein Wunder, dass er noch lebt.

Die Erdfee sah auf und beobachtete aus dem Augenwinkel ihre beiden Begleiter, die den Pferden aus dem Wasser halfen. Kanesso schnaubte kurz erleichtert und senkte dann den Kopf, um zu grasen. Dem braunen Hengst war anzusehen, dass er es ebenfalls wollte, doch noch immer ruhte Tara auf seinem Rücken. Der Fellfetzen war von ihrer Stirn gerutscht und lag nun auf dem grünen Gras.

Beria stand auf und hob ihn auf. Er war trocken. Hastig tränkte sie ihn mit Wasser und drückte ihn erneut auf die Stirn der jungen Frau. Ihre schwarzen Haare waren schweißverklebt und ihre Haut glühte förmlich. Sanft strich die Dryade ihr mit den Finger über die Brandnarbe auf ihrer rechten Wange. Zu ihrem Erstaunen war es die einzige Stelle, die nicht erhitzt war. Taras Lider flatterten und plötzlich bewegte ihr Mund sich. Beria trat näher an sie heran.

»Yatepa«, flüsterte sie so leise, dass die Erdfee sie beinahe überhört hätte. Ein eiskalter Schauer fuhr ihr den Rücken hinunter. »Wehr dich.«

Beria taumelte zurück. Gegen wen soll er sich denn wehren? Ihr Blick streifte ihre beiden Begleiter. Der Wolkenleser hatte sich über den Menschenmann gebeugt, der mit schmerzverzerrtem Gesicht im Gras lag, und behandelte seine Verletzungen.

Sie ging zu ihnen hinüber. »Ich glaube, Tara hat einen Fieberwahn«, sagte sie schlicht und hoffte, dass nur Cor zu ihr gehen würde. Der Heiler sah sie mit seinen unheimlichen Augen an und nickte leicht.

»Ich komme.« Er erhob sich und folgte der Erdfee zu dem braunen Hengst, der unruhig von einem Bein auf das andere trat. Der Wolkenleser legte ihm beruhigend die Hand auf den Hals und beugte sich über Tara. Beria konnte die Veränderung förmlich spüren, die mit dem Heiler vorging. Seine Mundwinkel senkten sich abrupt und er schloss die Augen. Eine Anspannung lag in der Luft, die die Dryade mit ihren Händen hätte greifen können.

»Was ist los?«

Cor schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Yatepa wird von einem Schatten beherrscht. Einem düsteren Geschöpf, mehr Geist als Körper. Es ist pure Schwarze Magie, die durch einen Schatten fließt. Jemand muss ihn lenken.« Er stockte kurz. »Jedenfalls müsste das so sein, wenn für die Schatten dieselben Regeln gelten wie für die Schwarze Magie. Das würde heißen, dass Yatepa ein Werkzeug in den Händen eines mächtigen Magiers ist.«

Der Wolkenleser schaute besorgt zu Yatepa. Der Menschenmann hatte sich aufgesetzt und strich dem grasenden Kanesso nachdenklich über die Stirn. Dieses friedliche Bild wollte so gar nicht zu dem passen, was Cor Beria erzählte.

»Das wird wohl auch der Grund sein, warum er sich nicht an den Angriff auf Tara erinnern kann. In dieser Zeit hatte der Schatten die Kontrolle über ihn.« Er wandte sich Beria zu. »Kannst du deine Magie wieder benutzen?«

»Nein. Ich brauche Quay, um mein Tattoo zu vervollständigen. Erst dann habe ich meine Verbindung zu der Inneren Magie wieder.«

Wie schon bei ihrer ersten Begegnung sah der Heiler sie fassungslos an. »Warum kannst du keine so mächtigen Zauber wirken wie all die anderen Hüterinnen der Elemente, die ich kenne?« Die Frage hatte er mehr sich selbst als ihr gestellt. Sein Blick hatte sich auf einen Punkt hinter ihr gerichtet und er murmelte nachdenklich etwas vor sich hin. Vermutlich in einer anderen Sprache, doch sie hatte keine Magie mehr, um einen Zauber zu wirken, mit dem sie sie verstehen könnte. Schließlich richtete sich Cors Blick erneut auf die Erdfee.

»Der Schatten wird mächtig genug sein, um zu wissen, dass wir versuchen werden, ihn dazu zu zwingen, Yatepas Körper zu verlassen. Sobald wir angreifen, wird er es jedoch schon wissen und uns zuvorkommen. Ich weiß nicht, ob Yatepas Geist das aushalten wird. Wir müssen einen anderen Weg finden. Bis dahin: Nimm dich vor ihm in Acht und zeige keinerlei Feindseligkeit ihm gegenüber. Du weißt nichts vom Schatten und ich auch nicht.«

Mit diesen Worten ging der Heiler an ihr vorbei zurück zu den Pferden. Die Dryade sah zum Horizont. Die Adlerreiter waren in der Zwischenzeit schon verschwunden und es gab kein Lebenszeichen von dem Adler und seinem Reiter, die abgestürzt waren. Wie auch? Ich bin zu weit entfernt, um etwas zu sehen.

Hinter ihr ertönte Cors Stimme: »Wir rasten hier. Bis zum Abend ist uns noch etwas Zeit geblieben, aber es ist besser, wenn wir jetzt schlafen und im Dunklen weitergehen. Denn ich glaube nicht, dass einer von uns noch die Kraft hat, nachts Wache zu halten.«

Beria nickte leicht. Ihr Blick fiel auf Tara. Die junge Frau lag nun wieder vollkommen still auf dem Rücken des braunen Pferdes als hätte sie nichts gesagt. Was wohl in ihrem Inneren vor sich ging? Es sah so aus, als würde sie tief und friedlich schlafen.

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