Glutmohnsamen
»Sie nahmen ihm die Freiheit
wie man einem kleinen Kind
das Spielzeug wegnimmt.
Kettengeklimper war sein Nachtlied
und harter Stein sein Schlafplatz.«
AUS DEM ROMAN
»SCHWERE KETTEN«
Alle seine Sinne waren gedämpft. Er hörte die Stimmen undeutlich und wie durch den dicken Stoff eines schweren Vorhangs. Nebar wusste, dass ihm eigentlich sein gesamter Körper weh tun müsste, doch er spürte nur eine leichte Hitze und Benommenheit. Träge öffnete er die Augen und versuchte, eine Hand zu heben, doch es gelang ihm nicht. Er wollte fragen, wer da war, aber seine Zunge war so schwer als hätte er einen über den Durst getrunken.
»Vater!« Die Stimme hallte dumpf in seinem Schädel wieder. Es folgten einige Worte, die der Kämpfer nicht verstand. Umrahmt von verkohlten Ästen und blauem Himmel erschien das Gesicht eines Mannes über ihm. Seine struppigen Haare waren ergraut und einige Strähnen hingen ihm in die dunklen Augen. Ein selbstgefälliges Grinsen lag auf seinem Mund, der zwischen dem buschigen Bart kaum zu sehen war. Obwohl Nebar sich sicher war, dass der Fremde ihn untersuchte, spürte er keine einzige der Berührungen. Nicht mal dann, als der Mann ihn ziemlich offensichtlich am Hals abtastete.
Der Grauhaarige beendete seine Untersuchung und winkte jemandem mit der Hand zu, woraufhin ein zweiter Mann an seine Seite trat. Beide diskutierten eine Weile so leise, dass der Krieger kein Wort verstand. Der andere, ein etwas jüngerer Bursche mit kantigen Gesichtszügen, schüttelte mehrmals den Kopf und deutete immer wieder dorthin, wo Nebars Beine sich befanden. Was ist los? Der Kämpfer wurde allmählich unruhig. Er öffnete den Mund, doch es kam nur ein Lallen heraus. Daraufhin hielten beide Männer inne. Der, der ihn untersucht hatte, kniete sich neben ihm hin.
»Du bist einer von den Waldmenschen hier, hab ich recht?«, fragte der Grauhaarige, der wahrscheinlich der Vater des anderen war. »Kannst du kämpfen?«
»Was für eine dumme Frage!«, mischte der andere sich in das Gespräch ein. »Natürlich kann er kämpfen! Aber nicht in diesem Zustand! Er wird uns in den nächsten zwei, drei Tagen sowieso langsam wegsterben. Ich verstehe immer noch nicht, warum du ihn mitgenommen hast!«
»Wir haben noch vor unserem Aufbruch abgemacht, dass wir alles mitnehmen, was wir finden können, Rhondur!«, fuhr der Vater seinen Sohn an. »Handel ist Handel und Geld ist Geld! Dann verschachern wir ihn halt an die Löwenbestien, bei Eugen und Ozai!«
»Fang ruhig an zu fluchen, ich weiß, dass der Kerl vergeudete Zeit ist.« Wütend stampfte Rhondur mit dem Fuß auf und verschwand aus Nebars Sichtfeld.
Der ältere Mann hingegen beugte sich wieder über den Kämpfer. »Mach dir keine Sorgen, wir kriegen dein Bein wieder hin. Mein Jüngerer, Cai, hat es geschient und verbunden. Mal gucken, was unsere Frauen noch machen können. Und jetzt bleib liegen und genieße deine letzten Momente in Freiheit. Ein neues Leben beim Adlervolk erwartet dich!«
Der Fremde sagte das so fröhlich, dass Nebar erst nicht verstand, warum er sich dennoch so elend fühlte. Als ihn die Erkenntnis traf, traf sie ihn mit voller Wucht. Nein! Das kann nicht sein! Die Plünderer aus dem Gion-Gebirge wagen sich schon lange nicht mehr in unsere Territorien! Er könnte sich selbst ohrfeigen. Aber natürlich, der Waldbrand... Schon vor zehn Jahren waren diese schwarzen Seelen aus den Bergen in den zerstörten Perlenwald gekommen, um alle möglichen Wertgegenstände aus dem verlassenen Lager der Luchsleute mitgehen zu lassen und sie zu einem möglichst hohen Preis zu verkaufen. Auch einige Kinder und Welpen hatten sie entführen wollen, aber zum Glück war meistens jemand gerade noch rechtzeitig zur Stelle gewesen, um die gewissenlosen Geier, wie die Plünderer bei den Wolfsleuten genannt wurden, zu vertreiben. Nun war er ihnen offenbar selbst zum Opfer gefallen. Und er konnte sich nicht einmal verteidigen oder fliehen. Auf Hilfe brauchte er erst gar nicht zu hoffen.
Der Plünderer war anscheinend überrascht von seiner Reaktion. »Das hast du aber schnell hingenommen«, meinte er. »Normalerweise betteln alle noch darum, wieder freigelassen zu werden oder rufen nach ihrer Mutter. Ach«, er schlug sich gespielt enttäuscht von sich selbst gegen die Stirn, »stimmt ja. Die Glutmohnsamen. Einer betäubt die Schmerzen, zwei entspannen dich so weit, dass du praktisch nichts mehr machen kannst und drei sind tödlich. Leider musste ich dir zwei geben, damit ich mir das ganze Gewinsel nicht anhören muss.« Er zuckte die Schultern. »So ist das Leben.«
»Vater!«, ertönte wieder Rhondurs Stimme.
Der Gerufene schloss genervt die Augen. »Seid ihr mittlerweile schon so verblödet, dass ihr nichts mehr ohne mich hinbekommt oder was? Ich habe euch mitgenommen, damit ihr mir helft und nicht andersrum!«
»Wir kriegen den Bär nicht auf den Karren geladen!« Diese Stimme gehörte jemand Anderem und hörte sich erheblich jünger an. Wahrscheinlich war es diesmal Cai, der nach seinem Vater verlangte.
»Meine Fresse«, murmelte der grauhaarige Plünderer nur, stand auf und entfernte sich meckernd und fluchend von Nebar.
Der Kämpfer versuchte, irgendwelche Sätze oder wenigstens Worte aufzuschnappen, die ihm helfen würden zu verstehen, was mit ihm passieren würde. Er hatte noch nie von den ›Löwenbestien‹ gehört, die der Mann erwähnt hatte. Und was hatte er mit ›letzten Momenten in Freiheit‹ gemeint? Was würde mit ihm passieren?
Oh Unuma, wie konnte ich auch nur annehmen, dass Theresa uns gehen lassen würde. Es brach ihm schier das Herz. Heiß rann eine einzelne Träne seine Wange hinunter, die er nicht mal wegwischen konnte. Reglos lag er da. Ein Windstoß, den er kaum fühlte, ließ die verkohlten Äste erzittern. Ximou hat ganze Arbeit geleistet, dachte er bitter. Für einen Augenblick wünschte er sich, einfach tot zu sein. Im Sternenpalast würden Jenedaya und Tara auf ihn warten. Und seine Eltern. Sein Vater war ein Drachenjäger gewesen wie so viele zu der damaligen Zeit. Nachdem seine Mutter kurz nach der Geburt seiner Schwester, die nur ein Jahr gelebt hatte, gestorben war, hatte sein Vater sich sehr von ihm distanziert. Nebar vermutete, dass er seiner Mutter zu ähnlich sah und sein Vater das nicht hatte ertragen können.
Ein plötzlicher Ruck riss ihn aus seinen Gedanken. Jemand hatte ihn unter den Schultern gepackt und aufgesetzt. Ohne die Betäubung hätte er sofort weggeguckt, um sein gebrochenes Bein nicht anschauen zu müssen, aber so war ihm das verwehrt. Unfreiwillig starrte er auf zwei Äste, die mit länglichen Halmen fest umwickelt waren. Dennoch war es unmöglich, das zerfetzte Fleisch darunter zu übersehen. Der Plünderer hinter ihm begann an dem Kämpfer zu zerren, um ihn über den Boden zu schleifen. Ein unangenehmes Pochen am rechten Unterschenkel setzte ein und Nebar war mehr als erleichtert, als der grauhaarige Vater auftauchte.
»Bist du völlig von Sinnen?«, schrie er denjenigen an, der den Kämpfer geschleppt hatte. »Möchtest du, dass seine Knochen falsch zusammenwachsen oder was?«
»Wie möchtest du ihn sonst auf den Karren kriegen? Mit Magie?«, motzte Rhondur seinen Vater an.
»Sprich hier bloß nicht von Magie!«, warnte der Ältere seinen Sohn und zeigte drohend mit dem Finger auf ihn. »Die hat uns schon genug Unglück gebracht!«
»Vater!«, rief diesmal Cai. »Schau mal!« Wie aus dem Nichts tauchte der jüngere Sohn des Plünderers in Nebars Sichtfeld auf und fuchtelte wild mit einem Eisenstab herum. Erst nach dem zweiten Hinsehen erkannte der Kämpfer, dass es sich dabei um das rostige Schwert handelte, mit dem er den Bären getötet hatte.
»Lass das!«, befahl der Grauhaarige verärgert und schlug dem Jüngling das Metallstück aus der Hand. »So ein Zeug ist wertlos. Unser Eisen ist besser als das der Waldmenschen.«
»Aber schau!« Cai gab nicht auf, sondern hob das Schwert auf. Der Diamant funkelte im Licht eines hellen Sonnenstrahls kurz auf. »Da ist ein Edelstein drin!«
»Gib schon her!« Der Vater riss seinem Sohn den Metallstab aus der Hand und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Vorsichtig kratzte er mit den Fingernägeln daran herum, hielt ihn abwechselnd ins Licht und in die Schatten und leckte schließlich sogar einmal darüber, was bei Cai ein angeekeltes Grinsen hervorrief.
»Und?«
»Tatsache«, erklärte der Plünderer. »Das ist ein Diamant. Ein ziemlich wertvoller noch dazu.« Seine dunklen Augen streiften Nebar. In wenigen Schritten war er bei ihm und hielt ihm das rostige Schwert ins Gesicht. »Mit diesem Teil hast du also den Bären getötet, ja?«
»Red keinen Stuss!«, murrte Rhondur, der mittlerweile die Schultern des Kämpfers losgelassen hatte und ihn stattdessen an seine Beine gelehnt hatte. »Das taugt doch nicht mal zum Butter schneiden!«
»Trottel!«, schalt der Vater seinen Sohn. »Der Waldmensch hatte keine anderen Waffen bei sich und hier ist Blut dran! Wie soll er den Bären sonst aufgeschlitzt haben? Mit seinen überaus spitzen Fingernägeln?« Der Plünderer packte grob Nebars Hand und schüttelte sie in der Luft herum. »Das glaubst du doch wohl selber nicht!«
»Es ist unmöglich, dass ein Schwert nach so langer Zeit immer noch scharf ist!«, widersprach Rhondur heftig und trat wütend mit dem Fuß auf, sodass der Kämpfer sein Knie in den Rücken bekam. Wenigstens blieb der Schmerz aus.
»Sagt der, der mit fünfzehn Jahren sein erstes Kind bekommen hat!«, konterte der Andere. Mit einer schwungvollen Bewegung drückte er das rostige Schwert in Cais Hand, stand auf und rief noch beim Weggehen: »Verladet alles auf den Karren. Vorsichtig!«
Nebar hörte einen leisen Fluch hinter sich und hätte am liebsten geschrien, als Rhondur zurücktrat und er so hart mit dem Kopf auf dem Boden aufkam, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde. Eine Weile passierte nichts. Dann wurde er von der Seite her hochgehoben, sodass seine Beine frei in der Luft hingen. »Wehe du erzählst meiner Frau, dass ich einen Mann so getragen habe«, zischte Rhondur ihm ins Ohr.
Beim Näherkommen erkannte der Kämpfer, dass auf dem Wagen schon allerlei Gerümpel verstaut war. Unter halb verkohlten Holzhockern standen Kisten, die wahrscheinlich mit Münzen oder Schmuck gefüllt waren. Eine steinerne Statue der Göttin Femi diente als Stütze für einen Metallschild, auf dem Nebar die Umrisse eines Bärenkopfes ausmachte, der das Maul weit aufgerissen hatte. Cai machte sich gerade daran, ein schweres Fass auf den Karren zu hieven. Der grauhaarige Plünderer hingegen stand bei den zwei vorne eingespannten Pferden, die unruhig den Kopf hin und her warfen und mit den Hufen aufstampften. Trotz der Scheukappen rochen sie den muffigen Pelz des Bären, dessen Körper beinahe die gesamte linke Hälfte der Ladefläche für sich beanspruchte.
Rhondur wuchtete Nebar nun ebenfalls auf den Wagen hinauf und lehnte ihn mit einem fiesen Grinsen im Gesicht an das leblose Tier. Der Gestank von totem Fleisch hing ihm sofort in der Nase und er spürte, wie die nassen Gedärme an seinem Rücken entlang glitten. Der Plünderer stemmte die Arme in die Hüften und betrachtete ihn als wäre er ein Kunstwerk. Dann trat er nochmal an ihn ran, nahm die Hand des Verbannten und legte sie in das Maul des Bären.
»Nur falls er doch nicht tot ist«, erklärte Rhondur mit einem schiefen Lächeln. »Dein Schrei wird uns rechtzeitig warnen.«
»Er kann doch nicht schreien!«, ließ sich die Stimme des Jüngeren vernehmen. »Vater hat ihm Glutmohnsamen gegeben!«
»Halt die Klappe!«, fuhr sein älterer Bruder ihn an. »Du solltest dich um die Fässer kümmern! Hast du das gemacht?«
»Ja!«, lautete die hitzige Antwort von Cai. »Obwohl ich nicht mal weiß, was da drin ist!«
»Ich weiß auch nicht, warum Vater diesen Halbtoten mitnehmen wollte! Wahrscheinlich ist das seine neue Masche«, sagte er im Flüsterton. »Wer weiß, was er uns noch verheimlicht.«
»Ist alles aufgeladen?«, erkundigte sich in dem Moment der Anführer der Bande. Nebar hörte stampfende Schritte, bei denen der gesamte Wagen leicht hin und her schaukelte.
»Ja!«, rief Rhondur seinem Vater zu und sprang von der Ladefläche, um vorne aufzusteigen. Cai wollte ihm gerade folgen, da schubste der ältere ihn unsanft zurück, sodass der Junge auf dem Hosenboden landete.
»Was soll das denn?«, beschwerte er sich, kam zurück auf die Beine und funkelte seinen Bruder zornig an.
»Du bleibst hier und bewachst die Ladung«, ein kleiner Lederbeutel wurde geworfen, den Cai mit Leichtigkeit auffing, »Gib dem Halbtoten einen Glutmohnsamen, wenn er anfängt, sich zu bewegen oder zu reden.«
Der Junge zog einen Schmollmund und verschränkte beleidigt die Arme, setzte sich aber gegenüber von Nebar auf einen der Holzhocker. Seine dunklen Augen starrten den Krieger vorwurfsvoll an, als wäre er an allem Schuld. Kurze Zeit später setzte der Karren sich ruckelnd in Bewegung.
»Ich hoffe, du hast dich von der Freiheit verabschiedet, Waldmensch!«, kam es fröhlich lachend von vorne. »Denn bei Eugen und Ozai, so schnell wirst du sie nicht wiederbekommen!«
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