Erlingur
»›Nenne deinen ganzen Namen.‹
›Königin Amina je Samon geborene lai Zano von Alarchia.‹
›Bekennst du dich des Mordes an
König Gacco je Samon von Alarchia schuldig?‹
›Ja.‹
›Dann möge König Vonyo je Samon von Alarchia
sein gerechtes Urteil verkünden.‹
AUS DER SAMMLUNG
»DIE HINRICHTUNGEN DER MÖRDER«
Die Schneeeule schritt in immer enger werdenden Kreisen durch ihr Zimmer, bis sie in der Mitte stehen blieb, die Richtung wechselte und nun in größer werdenden Kreisen umherging. Die Sonne musste bereits mit ihrem feurigen Rand den Horizont berühren. Damit blieb ihr noch höchstens eine Stunde, in der sie fliehen musste, bevor jemand auf die Idee kam, sie hätte etwas mit dem Verschwinden des Prinzen zu tun. Nachts zu flüchten war keine Option, denn wenn man sie ertappte, würden nur noch mehr Fragen aufkommen. Und am nächsten Tag würde sie nicht mehr fliehen können, weil Zefalo dann höchstwahrscheinlich allen verbieten würde, den Palast zu verlassen, solange sein Sohn nicht gefunden wurde.
Erlingur würde nicht lange warten, wenn er die Gelegenheit bekam, sich beim König beliebt zu machen. Er war der einzige, der wusste, dass sie letzte Nacht zu Mirap wollte. Weil sie durch die Geheimtür geflohen war, würde er auch denken, dass sie die ganze Nacht über beim Prinzen war, was natürlich nicht stimmte. Wenigstens hatte sie gerade noch rechtzeitig den Dolch vom Torflügel entfernt und in die Schwebewasser geworfen. Selbst wenn Erlingur sie verraten würde, gäbe es keinen Beweis dafür, dass sie an Miraps Verschwinden Schuld war. Trotzdem würden alle ihr die Schuld zuschieben. Man beschaffte sich einen Schuldigen, wenn man ihn nicht finden konnte. Sie stellte sich ihren schlimmsten Albtraum schon seit heute Morgen vor, als Yanna an ihre Tür geklopft und sie darüber informiert hatte, dass der Prinz, der General und mindestens zwanzig der Adlerreiter und Himmelskrieger über Nacht verschwunden waren. Keiner hatte etwas gesehen oder gehört. Keiner wusste etwas und das machte allen Angst.
Der Gedanke an die Anschuldigungen, die sicher bald kommen würden, machte sie verrückt. Egal wie sehr sie über einen möglichen Fluchtweg nachdachte – nicht eine einzige vernünftige Idee kam ihr in den Sinn. Natürlich könnte sie ihre tierische Gestalt annehmen und wegfliegen, aber dann würde sie für ihre Herrin unbrauchbar werden. Sobald sie wieder in ihre menschliche Gestalt gewechselt hatte, würde jeder erkennen, dass sie ein Tiergeist war. Doch nicht nur das beunruhigte sie. Die Schneeeule galt als perfekte Meuchlerin. Wenn sie bei diesem Auftrag versagte, wäre ihr Ruf dahin und damit auch das Vertrauen ihrer Herrin in sie. Selbst Der Dachs hätte dann bessere Chancen, an der Seite der neuen Königin von Alarchia zu stehen, wenn der Kampf gewonnen war. Und sie? Sie würde in irgendeiner Gasse mit lüsternen Männern verrotten oder in der Dunkelheit irgendeines Waldes vor sich hin vegetieren, bis ein Wolf sie zerfetzen würde.
Verzweifelt hielt sie in der Mitte des Zimmers an und trat zu der Glasvitrine, in der sich alle Schmuckstücke aneinander reihten. Mit einem leisen Klacken öffnete sie den Verschluss und tastete mit den Fingern über alle Kostbarkeiten. Broschen, Ketten, Armbänder, Ringe, Ohrstecker, Haarnadeln und -kämme... Dabei hatte sie bisher nur die Kette mit dem Diamanten angelegt, die sie schon bei ihrer Ankunft im Goldenen Palast getragen hatte. Daher galt sie auch als besonders bescheiden. So war sie auch in Wirklichkeit. Das war der einzige Makel, der ihrer Berufung als Meuchlerin anhaftete. Sie sollte sich als das Gegenteil von dem ausgeben, der sie in Wirklichkeit war und wenn sie ihre Bescheidenheit beibehielt, war das ein Risiko, das schon so manchen Söldner das Leben gekostet hatte. Wenn sie erst geflohen war, sollte sie sich mit so viel Schmuck behängen, dass keiner die zierliche und bescheidene Lydja unter dieser Gestalt vermuten würde.
Plötzlich ertönten laute Schritte vor der Tür. Schwere Stiefel hämmerten auf goldenen Boden. Jemand kommt, um mich zu holen. Die Schneeeule atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Ohne Hast schloss sie die Vitrine und machte einige große Schritte auf den Tisch mit dem Spiegel zu. Dort schminkte sie sich normalerweise, obwohl die einzige Farbe, die sie benutzte, das Rot war, um ihre Wangen etwas rosiger zu machen und weniger unheimlich auszusehen. Es war nur logisch, dass eine Hure sich zu dieser Tageszeit vor einem Spiegel befand, um sich für die kommende Nacht vorzubereiten.
Die Schritte verklangen. War es doch ein früher Besucher von Kaya, der stillen Konkubine im gegenüberliegenden Zimmer? Das laute Klopfen an ihrer Tür belehrte sie eines Besseren. Die Schneeeule ließ sich Zeit beim Öffnen, bis ihr einfiel, dass sie etwas vergessen hatte, was jede unschuldige Person tun würde, wenn jemand Eintritt verlangte. »Wer ist da?« Ihre Stimme klang höher als sonst. Hoffentlich hört man das durch die Tür nicht.
»Erlingur.«
Sie seufzte. Man hatte also den Glücklichen selbst geschickt, um sie zu ihrer Anhörung zu führen. Aber sie hatte keine Wahl... Die Schneeeule öffnete ihm und ließ den furchteinflößenden Krieger eintreten, der die Tür sogleich hinter sich schloss. Dann wandte er sich zu ihr um. Die wolfsähnliche Fratze auf seinem kahlen Kopf wirkte im flackernden Schein der drei brennenden Kerzen lebendig und die Brandnarben an seinem offen liegenden Hals schienen erneut in Flammen aufzugehen. Lydja zwang sich ein freundliches Lächeln ab.
»Ich habe dich nicht erwartet«, sagte sie mit rauchiger Stimme. »Deswegen muss ich dich leider enttäuschen. Ich könnte dich erst in zwei Tagen empfangen.«
»In zwei Tagen bist du entweder tot oder verrottest im Kerker«, knurrte Erlingur zurück. »Du weißt, dass ich dich sogar noch schneller dem König ausliefern könnte, wenn ich will.«
»Und? Willst du?«, fragte die Hure. »Der Prinz kann immer noch zurückkehren und wird dich sofort von der höchsten Railess werfen lassen, wenn er erfährt, welchen Vorwurf du mir gemacht hast.«
Ein Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Himmelskriegers breit. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass Prinz Mirap eine Schlampe wie dich über seinen eigenen Ruf stellt, der ohnehin schon so gut wie ruiniert ist? Nein... Ich weiß zwar nicht, wie du ihn verschwinden lassen hast, doch dass du es getan hast, ist mir absolut klar.«
»Ich war es nicht.« Lydja stürzte auf Erlingur zu, klammerte sich an ihm fest und fing an zu weinen. Warme Tränen liefen ihre Wangen hinab und ihr Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. »Ich weiß nicht, was in der Nacht passiert ist! Ich... Ich kam nicht mal bis in sein Gemach, um ihn...« Die Schneeeule ohrfeigte sich selbst, während Lydja hoffnungsvoll zu dem Elfen aufsah. »Bitte, du hast mir versprochen, mich nicht zu verraten. Dann brich dieses Versprechen auch nicht.«
»Wenn du dein Versprechen hältst.«
Die Hure blinzelte verwundert. »Welches...?« Bevor sie die Frage aussprechen konnte, packte Erlingur sie an der Taille und drückte sie an sich. Ein erschrockenes Keuchen drang aus ihrer Kehle und sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er war zu stark. Die pechschwarzen Federn seiner Flügel umfingen sie wie die tödliche Umarmung zweier Wellen. Seine Hände tasteten über ihren schlanken Hals, über ihre Schultern und erreichten schließlich die Naht ihres Kleides. Mit einem Ruck riss er den dünnen Stoff durch, der lautlos zu Boden fiel. Noch nie hatte Die Schneeeule sich so nackt gefühlt wie jetzt.
»Nein, bitte, bald kommt mein erster Kunde für diese Nacht...«
»Was interessiert mich das?«, schnaufte Erlingur ihr ins Ohr, während er sich an seiner eigenen Kleidung zu schaffen machte. Die Rüstung hatte er wohl zuvor abgelegt. »Halte du dein Versprechen und ich halte meins.«
Für Gasoka, dachte Die Schneeeule und half ihm mit geschickten Händen aus den verschwitzten Sachen. Ohne den Schutz eines Stoffes lagen die unzähligen Brandnarben offen, die seinen gesamten Körper bedeckten. Abstehende Wülste gingen in vollkommen flache Haut über, die sich um dicke Muskelstränge spannte. In den Augen des Elfen schimmerte das Verlangen nach ihr. Seine Rechte fuhr über ihre Brust, bis die Knospen sich aufstellten. Ein leises Stöhnen drang aus Lydjas Kehle. Sie nahm seine Hand und führte ihn zum Bett.
Erlingur stieß sie grob auf das weiche Lager und fing an, ihren Hals zu küssen, wobei seine Zähne sich in ihrer Haut verbissen. Sie unterdrückte einen Schrei, als er immer wilder wurde und ihr eine blutende Wunde zufügte. Bittend strich Lydja ihm über den Rücken, während Die Schneeeule sich immer weiter zurückzog.
Plötzlich packte der Elf Lydja an der Kehle. Röchelnd versuchte sie, seinen festen Griff zu lösen, aber ein drohendes Knurren ließ sie mitten in der Bewegung inne halten. Erlingur drückte ihren Kopf tief in das Kissen. Seine pechschwarzen Flügel ragten wie bedrohliche Schatten über ihr auf und sein Gesicht war nur noch die Fratze des tätowierten Wolfes. Ihre ganze Welt verwandelte sich in tiefe Finsternis und puren Schmerz, während der Himmelskrieger sie als Instrument seiner Befriedigung missbrauchte. Irgendwann verlor sie das Bewusstsein und als sie wieder zu sich kam, wusste Die Schneeeule zwei Sachen:
Erlingur musste sterben.
Sie musste fliehen.
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