Erinnerungen am Feuer
»Hohe Berge, grau wie Stein,
Blendend Weiß ist der Schneeschein.
Hoch die Berge, tief das Tal.
Felsen immer blass und kahl.
[...]
Löwenbestien fliegen dort.
Nicht von hier, von ganz weit fort.
Eine einst sehr dunkle Macht
Hat sie zu uns her gebracht.«
ERSTE UND ZWEITE STROPHE DES LIEDES
»KLAGELIED AN DIE GÖTTER«
GESUNGEN VON NALA AUS DEM ADLERVOLK
Pochender Schmerz in ihren Schultern war das erste, was sie wahrnahm. Beria stöhnte gequält und drehte ihren Körper auf den Rücken, um ihre Wunden zu entlasten. Langsam kehrten die Erinnerungen zurück. Die Dorona, das Gion-Gebirge, der Sturz. Wann genau hatte sie das Bewusstsein verloren? Die Dryade öffnete die Augen. Ich müsste eigentlich tot sein. Wie kann es sein, dass ich trotzdem noch lebe?
Sie atmete einmal tief ein und aus und setzte sich dann auf. Ihr war etwas schwindelig und für einen kurzen Augenblick wurde ihr Schwarz vor Augen. Als ihr Blick sich wieder klärte, erhaschte die Erdfee einen Blick auf die steilen Felswände um sie herum und die kleinen und großen Steine, die hier überall auf dem Boden lagen, bedeckt von einer feinen Schneeschicht. Sie befand sich in einem flachen Tal. Über ihr erstreckten sich die Gipfel der Berge bis zu den Wolken. Zwei Adler zogen am Himmel ihre Kreise. Oder Doronen?
Beria keuchte vor Schmerz leicht auf, als sie sich hastig mit Armen und Beinen vom schneebedeckten Boden abstoßend näher zu der nächsten Felswand bewegte. Sie wollte nicht riskieren, nochmal von irgendwelchen Doronen entführt zu werden. Es war schon so schlimm genug, dass sie verletzt und nur mit leichter Wüstenkleidung am Tal eines kalten Gebirges hockte, wo es vor gefährlichen Wesen bestimmt nur so wimmelte. Ohne Waffen, wie ihr einfiel. Schließlich hatte sie ihren Dolch verloren, als sie die Dorona attackiert hatte.
Die Dryade beschloss, diesen Gedanken vorerst beiseite zu schieben, um sich erst auf die Versorgung ihrer Wunden zu konzentrieren. Sie betrachtete besorgt ihre Schultern. Das Blut hatte ihre Kleidung vollkommen durchtränkt und war dann gefroren. Besonders am Rand der roten Fläche konnte man die kleinen, weißen Eiskristalle erkennen. Sie hatte viel Blut verloren.
Hoffentlich ist die Wunde nicht allzu tief, dachte Beria, ließ aber alle Hoffnung fahren, als sie sich an die langen gebogenen Krallen der Dorona erinnerte. Es war ein Wunder, dass sie nicht verblutet war, denn eine der Wunden lag bedrohlich nah an ihrem Herz. Zum Glück hatte die Kälte den Blutfluss gestoppt.
Trotzdem fürchtete Beria sich. Denn sobald sie wieder in einer wärmeren Gegend wäre, würde die Verletzung wieder anfangen zu bluten, verbunden mit unerträglichen Schmerzen. Hinzu kam das Problem mit ihrem leichten Leinenhemd. Irgendwie musste sie es schließlich von dem gefrorenen Blut lösen.
Die Dryade strich sanft über ihre Schulter. Sie zuckte nicht zusammen. Auch das schmerzhafte Pochen war verschwunden. Kein gutes Zeichen. Sie würde erfrieren, wenn sie nicht bald etwas Warmes finden würde. Sie brauchte ein Feuer. Zurück in die Wüste würde die Fee es nicht mehr rechtzeitig schaffen.
Plötzlich fiel Beria ein, was sie bisher vernachlässigt hatte: Ihre Magie. Wenn sie ein paar getrocknete Äste finden würde, könnte sie sie mit einem kleinen Blitz entzünden. Suchend sah die Dryade sich um, wobei ihr Blick immer wieder zum Himmel huschte, wo die zwei geflügelten Gestalten stetig ihre Kreise zogen. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob es Adler oder Doronen waren, aber sie wollte lieber kein Risiko eingehen.
Nicht weit von der Felswand entfernt, an der Beria Schutz gesucht hatte, entdeckte die Erdfee auf einmal ein braunes Etwas, das sich wie ein knorriger Ast aus der Schneedecke erhob. Darauf bedacht, mit ihren Schultern nirgendwo gegen zu kommen, sodass die Wunde vielleicht wieder aufreißen könnte, bewegte die Dryade sich langsam auf den Gegenstand zu.
Es hatte wieder angefangen zu schneien – Beria hatte nicht genau mitbekommen, wann – und der Schnee, der sich auf dem Boden niederließ, wurde immer dicker und drückte die unteren Schichten zu einer festen weißen Masse zusammen.
Als die Fee bei dem knorrigen Ast ankam, spürte sie ihre Arme kaum noch. Ihre Zähne klapperten und jedes Mal, wenn sie ausatmete, bildeten sich vor ihrem Mund weiße Atemwolken. Mit zitternden Händen schaufelte Beria den Schnee um ihren Fund herum beiseite und schloss die Augen.
Sie konzentrierte all ihre Gedankenkraft auf die Magie, die in ihr schlummerte und leitete einen kleinen Teil davon in ihre Fingerspitzen. Ein warmes Kribbeln machte sich in ihren Händen breit, das mit jedem Augenblick, den sie zögerte, immer heißer wurde. Dann entlud der Blitz sich, schlug in den Ast ein und setzte ihn sofort in Brand.
Warme Flammenzungen leckten an dem Holz und die ersten Funken stoben davon. Allmählich schmolz auch der Schnee um das Feuer herum und einige Zeit später fand Beria sich in einer Wasserpfütze wieder. Sofort stand sie auf.
Wasser war in diesem Gebirge noch gefährlicher als die Kälte. Fror es erstmal an der Kleidung fest, war man ein Gefangener des Eises und würde noch schneller erfrieren, als wenn man einfach so in der Eiseskälte dasaß. Die einzige Möglichkeit wäre, die Kleidung auszuziehen. Was einige vielleicht als dumm bezeichnen würden, war für Beria einmal eine lebensrettende Handlung gewesen. Damals war sie mit ihrer Lehrerin auch hier im Gion-Gebirge gewesen. Eigentlich wollten sie nur Silberdotter finden, eine Heilpflanze, die wahre Wunder bei einer Entzündung bewirkte. Doch die Erdfee war in ein Wasserloch gefallen, das unter dem Schnee verborgen lag. Die Idee ihrer Lehrerin hatte ihr das Leben gerettet.
»Rassou«, flüsterte die Dryade. Nun, da sie gestorben war, konnte Beria den Namen ihrer Lehrerin aussprechen. Es war eine Seltenheit, dass Feen anderen Geschöpfen ihren wahren Namen anvertrauten. Und falls doch, so war es ein Zeichen von vollkommenem Vertrauen zueinander. Auch Rassou kannte den wahren Namen ihrer Schülerin. Und es war weder Beria, noch alle anderen Namen, mit denen die Erdfee sich in ihren zahlreichen Missionen vorgestellt hatte. Nein, dieser Name würde für immer geheim bleiben.
Das Feuer war mittlerweile gewachsen. Sie musste sich beeilen, wenn sie ihre Wunde noch versorgen wollte. Beria atmete tief durch. Mit ihrem Oberkörper beugte sie sich langsam vor, sorgsam darauf bedacht, weder ihre Haare noch sonst irgendetwas anderes den wild leckenden Flammen auszusetzen.
Der Schmerz kam unerwartet. Es war, als würde sie den Moment nochmal erleben, in dem die Dorona ihre Löwenkrallen in ihre Schulter gebohrt hatte. Aufgefrorenes, rotes Blut tropfte in die Glut des Feuers und verdampfte zischend auf dem aufgeheizten Stein an seinem Grund. Beria biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu schreien. Bloß nicht die Doronen oder Adler oder was auch immer das am Himmel war, auf sich aufmerksam machen! Tränen schossen ihr in die Augen und sie sah die Welt um sich herum nur noch durch einen verschwommenen Schleier.
Als Beria es nicht mehr aushalten konnte, taumelte sie zurück. Der Schmerz in ihren Schultern wurde beinahe unerträglich. Dennoch musste sie ihre Wunde weiter versorgen. Mit zitternden Fingern löste sie den blutdurchtränkten Stoff von ihrer Haut. Zerschundenes Fleisch kam zum Vorschein. Die Dorona hatte sich alle Mühe gegeben, eine so tiefe Wunde wie nur möglich bei ihr zu hinterlassen. Wahrscheinlich, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich starb.
Doch die Dryade war nicht gestorben. Warum? Wie kann das sein? Hier sind doch überall Felsen und Steine. Es lag nicht mal richtiger Schnee, der meinen Fall vielleicht etwas gebremst hätte.
Eine weiße Schneeflocke landete in Berias Wunde an ihrer linken Schulter und färbte sich sofort rot, bevor sie schmolz. Immer noch quoll neues Blut aus der Verletzung. Sie musste sie verbinden.
Die Erdfee beugte sich vor, damit der Leinen sich nicht wieder an die Wunde klebte, und zog ihr Hemd vorsichtig aus. Schmerz durchzuckte wie ein Blitz ihren Körper, als sie aus Versehen an ihre linke Schulter kam. Wieder biss Beria die Zähne zusammen und streifte ihr Oberteil dann vollends ab. Darunter trug sie nur einen robusten Lederfetzen, der ihre Brüste vor lüsternen Blicken verbarg.
Nach kurzem Zögern riss die Dryade das Leinenhemd in mehrere Teile, was sich als schwieriger erwies, als erwartet. Es hatte sie ganze fünf Urur gekostet, die sie vorher einem Jaminer abgenommen hatte, der sich auf dem Rückweg zu seiner Heimatstadt verlaufen hatte und dann verdurstet war. Der Händler in der Karawanenstadt am Rand der Ohawa-Wüste hatte behauptet, es wäre aus dem robustesten Leinen Alarchias genäht worden. Jetzt wusste sie wenigstens, dass das stimmte.
Beria benutzte das Hemd nun als Verband für ihre Schultern. Nachdem sie die Wunden mit etwas Schmelzwasser vom Blut gesäubert hatte, wickelte sie die Stoffstreifen vorsichtig darum, was sich als sehr kompliziert herausstellte, da sie die Knoten auf ihrem Rücken machen musste. Die Fee fluchte kurz, als sie sich ein paar ihrer Haare raus rupfte, nickte dann aber zufrieden, nachdem sie es geschafft hatte, den Fetzen festzubinden. Es fühlte sich zwar unbequem an und sie würde die Arme etwas vom Körper abspreizen müssen, aber es war besser als gar nichts.
Beria schaute zu den Flammen, die gierig über das verbliebene Holz leckten. Ruß hatte sich auf dem Fels unter dem Feuer niedergelassen. Die schwarze Färbung erinnerte sie etwas an die gefärbte Strähne, die ihre Lehrerin immer in ihrem feuerroten Haar getragen hatte. Rassou hatte ihrer Schülerin nie erklärt, warum sie genau diese Strähne immer und immer wieder neu gefärbt hatte. Doch jetzt verstand die Dryade. Es war ein Stück Erinnerung. Ihre Lehrerin wollte sich bis an ihr Lebensende an etwas erinnern. Oder an jemanden. War sie verliebt gewesen? Beria wusste zwar, dass es allen Feen streng untersagt war, jemanden zu lieben, doch könnte es vielleicht sein... Nein, das war zu absurd.
»An wen auch immer du dich erinnern wolltest, Rassou, mit dieser schwarzen Strähne werde ich mich an dich erinnern. Bis an mein Lebensende.« Mit diesen Worten streckte die Erdfee ihre Hand nach dem Ruß aus und fuhr mit ihren Fingern durch das schwarze Pulver. Mit der anderen Hand tröpfelte sie etwas Wasser drauf. Dann zupfte sie sich eine Strähne aus ihrem festen Zopf raus und strich die schwarze Farbe über das blonde Haar.
Noch ein paar Mal wiederholte Beria die Prozedur, bis die ganze Strähne vollkommen Schwarz war. Jetzt habe ich etwas, das mich für immer an dich erinnern wird, dachte die Dryade bei sich und blickte dann in die Flammen. Sie würde sich noch etwas wärmen, bevor sie das Feuer verlassen würde, um sich wieder auf den Weg in die Wüste zu machen. Nachts wahrscheinlich, wenn die meisten Tiere schliefen und sie mit den Schatten der Felswände verschmelzen könnte.
Die Fee sah zum Himmel. Die zwei Gestalten waren verschwunden. Ob das gut oder schlecht war, wusste sie nicht. Es konnte natürlich auch sein, dass es Doronen waren, die sie entdeckt hatten und nun nach Verstärkung schickten. Sie waren feige, die Doronen. Alleine würden sie nicht kämpfen. Sie brauchten immer jemanden, vor dem sie mit ihrem Kampfgeschick angeben konnten.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Gespräch mit der Dorona. Das Geschöpf mit dem Adlerkopf hatte von einer gewissen Schwester Goldpfeil gesprochen. War das ihre Anführerin? Wurden diese Bestien von einem Weibchen angeführt? Bisher hatte die Fee nur von einem männlichen König gehört. War er gestorben? Egal, sie würde es nie erfahren, wenn sie Glück hatte. Nie wieder würde sie ins Gion-Gebirge gehen. Nicht mal, um Silberdotter zu finden.
Beria setzte sich und blickte wieder ins Feuer. Die leuchtenden Farben beruhigten sie. Gelb, Orange, Rot. Wie die Haare von Rassou. Feuerrot waren sie. Noch eine Erinnerung, die ihr von ihrer Lehrerin bleiben würde. Doch sie war nicht nur das gewesen. In ihr hatte die Dryade das gefunden, was sie sonst in keinem nach ihr gefunden hatte: eine Freundin.
Langsam wurde das Feuer kleiner und die Flammen wurden ruhiger. Der Funkenregen war nun vollkommen versiegt. Ohne, dass Beria es eigentlich wollte, schloss sie die Augen und lehnte sich nach hinten, wo sie gegen eine stabile Wand aus Schnee stieß. Sie wollte eigentlich nur für einen kurzen Moment der Realität entfliehen, doch langsam glitt sie hinüber in die Traumwelt.
Die Glut des Feuers glühte nur noch leicht, als sich der Schatten der Nacht über das Tal legte. Der Schneefall wurde dichter und einzelne Flocken legten sich sanft über die Dryade. Wie ein Leichentuch. Leuchtende Augen blitzen überall in der Dunkelheit auf und verschwanden wieder. Irgendwo wurde mit einem blauen Blitz ein Feuer entzündet, während das der Erdfee erlosch.
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