Eingesperrt
»Besessenheit von einem Geist:
Es kommt darauf an,
unter welchen Umständen
er in den Betroffenen gefahren ist.
Folgende Aufzählung dient der Orientierung
auf den nächsten 283 Seiten.«
AUS DEM WERK
»HANDBUCH DER MAGISCHEN KRANKHEITEN A-E«
Vor Schreck verharrte Yudra mitten in der Bewegung. Sie kannte diese Stimme und die gehörte jemandem, von dem sie gehofft hatte, ihm nie wieder begegnen zu müssen. Mit einem Ruck erwachte sie aus ihrer Starre und wirbelte zu Rhiwor herum, der am geschlossenen Fenster stand und versuchte, einen Blick auf den ungebetenen Gast zu erhaschen.
»Ich muss hier weg«, keuchte die Dryade. Verzweifelt sah sie sich um, obwohl sie wusste, dass es keinen Ausweg gab. Nur die Tür, die Beihun mit dem Schutzzauber belegt hatte, damit der Schatten nicht entwischen konnte.
»Wer ist das überhaupt?«, wollte Rhiwor wissen. Der muskulöse Mann wandte sich ihr zu, doch sie gab keine Antwort. Stattdessen starrte sie die Tür an.
Ich habe keine Wahl. Wenn Samues das Eingangstor eintritt, flieht der Schatten sofort. Ich hingegen könnte ihn wenigstens eine Weile in Schach halten. Probehalber flüsterte sie »Fibas«. Nichts passierte. Ungläubig schaute Yudra auf ihre Hände hinab. Kein einziger Blitz, nicht mal ein kleines Leuchten! Wie kann das sein? »Verdammt!«, fluchte sie und versuchte es ein weiteres Mal. Ohne Erfolg. Was ist mit meiner Magie passiert? Bei dem Gedanken, dass sie sie vielleicht verlassen hatte, wurde ihr schlecht.
»Ich warne euch ein letztes Mal!«, ertönte Samues' Ruf von draußen. »Bei drei werde ich die Tür der Bibliothek eintreten! Eins!«
Hilfesuchend drehte Yudra sich zu Rhiwor um. »Er darf mich nicht finden«, erklärte sie gehetzt. »Er wird mich mit sich nehmen und als Sklavin verkaufen! Oder Schlimmeres!«
»Zwei!«
»Wir dürfen nicht zu viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen«, fluchte der Menschenmann und schlug frustriert mit der Faust gegen die Wand. Die Arbeit als Schlepper beim Hafen hatte seine Muskeln gestählt, sodass sie befürchtete, sein Schlag könnte eine Delle hinterlassen. Er schloss die Augen. »Es tut mir leid.«
»Nein!«
»Drei!«
Bevor die Erdfee ihn vom Fenster wegziehen konnte, schlug Rhiwor die Läden auf und streckte den Kopf hinaus. »Warte kurz, Kumpel, ich reich dir die Leiter runter.«
»Was tust du!«, zischte Yudra ihn an, als er das zusammengeklappte Holzgestell aufnahm und es langsam nach unten ließ, wobei er drei Mal die geknickten Stellen mit kleinen Klötzen fixieren musste.
»Ich verhalte mich wie ein normaler Bewohner von Zowuza«, schnaufte er. Die Muskeln seiner Oberarme spannten sich an als wolle er die Leiter von sich weg stoßen. Trotzig hielt er das Ende fest, während Yudra das Klappern von Samues' Rüstung vernahm. Bei jedem Scheppern sank ihr Mut, die Begegnung heil zu überstehen. Ihr Herz pochte unaufhörlich schnell.
»Nein«, hauchte sie leise, als der dunkelbraune Haarschopf im Fenster auftauchte. Noch hatte Hadamars Handlanger sie nicht gesehen. Von blanker Panik getrieben, packte Yudra den Stab, der an einen Stuhl gelehnt war. Es war Cors Stab. Der, mit dem er sie im Perlenwald besiegt hatte. Wenn ihre Innere Magie sie schon im Stich ließ, würde sie wenigstens diese Waffe haben. Entschlossen drückte sie die Klinke hinunter und betrat das Reich des Schattens. Hinter ihr fiel die Tür lautlos ins Schloss. Erst jetzt erinnerte sie sich daran, dass innerhalb der Bibliothek keine Zauber gewirkt werden konnten.
Es war ungewöhnlich still hier. Eigentlich hatte die Dryade erwartet, dass der Schatten sofort kommen und sie angreifen würde. Ratlos ließ sie Cors Stab sinken, den sie zuvor in Abwehrhaltung vor sich gehoben hatte. Schweigend stand sie da. Lauschte auf jedes Geräusch. Doch nicht mal die Stimmen von Rhiwor und Samues drangen zu ihr hindurch, die nun bestimmt eine angeregte Diskussion führten. Aber selbst wenn ich hören würde, wann die Luft rein ist, könnte ich nicht zurück. Sie war in Beihuns Falle getappt. Dabei hatte er sie noch gewarnt! Gesagt, dass man die starken Wände der Bibliothek selbst zertrümmern müsste, um sich aus ihren Fängen zu befreien!
Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf und bereute es sogleich. Hat er mich gehört? Unwillkürlich fasste sie den Stab fester, obwohl er ihr nicht helfen würde. Doch nichts regte sich. Erst nach einigen Herzschlägen der Stille betrachtete sie den Raum, in dem sie sich befand, näher. Sie war nie hier gewesen. Schließlich hatte sie die ersten zwei Nächte in Zowuza bei Hadamar verbringen müssen. Dies hier war aber ein einfaches Lesezimmer – das erkannte sie auf den ersten Blick. Oder war es gewesen.
Im gedämpften Licht der wenigen Strahlen, die durch das einzige verdreckte Fenster fielen, eröffnete sich ein Chaos aus zerrissenen Büchern, die wild durcheinander lagen. Die Regale an den Wänden waren teilweise niedergerissen. Tiefe Kerben wie von Schwerthieben zogen sich durch das ehemals blank polierte Holz. Die schwarze Asche aus einem Kamin, der sicher nur zu Schönheitszwecken existierte – sonst hätte der Schatten schon lange die Flucht ergriffen – lag wie eine Staubschicht auf dem wunderschönen Teppich verstreut.
Schritt für Schritt bewegte Yudra sich vorwärts und behielt dabei die Tür im Auge, die weiter in die Bibliothek hinein führte. Sie war nur angelehnt, doch der Flur dahinter war in tiefe Dunkelheit getaucht. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Die trüben Strahlen aus dem Lesezimmer erhellten nur ein verschwommenes Rechteck direkt gegenüber. Etwas rechts davon meinte die Dryade einen leuchtenden Punkt zu erkennen.
Langsam schob sie sich vorwärts. Es war tatsächlich etwas Helles, das sie gesehen hatte. Nämlich die einzige unbeschmutzte Fläche eines Fensters. Zögerlich berührte sie die dunkle Masse um den Lichtfleck herum. Sie fühlte sich leicht feucht an. Was ist das? Als sie die Finger zur Nase führte, zuckte sie sogleich zurück. Der strenge Geruch von halb geronnenem Blut wehte ihr entgegen. Haben doch nicht alle es geschafft, die Bibliothek zu verlassen? Ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken. Zu was ist der Schatten noch fähig? Ich dachte, er wäre nur ein Geist! Aber einfache Geister können nicht mit den Lebenden interagieren oder etwas Materielles beschädigen, sonst wären wir alle schon lange tot.
Die Erdfee spürte, wie unzähmbare Wut sich in ihr aufstaute. Mit fest zusammengepressten Kiefern, um nicht zu schreien, zwang sie sich dazu, etwas Blut wegzuwischen. Es gelang ihr nicht ganz, doch jetzt wurden links von ihr in rotes Licht getauchte Stufen sichtbar. Eine Treppe. Die in die eigentliche Bibliothek führt? Kurz zögerte sie. Es war sicherer, hier zu bleiben und sich in dem Lesezimmer einzuschließen. Dann dachte sie an das arme Geschöpf, das dem Schatten erlegen war, fegte alle Bedenken beiseite und machte sich auf den Weg nach unten.
Je weiter sie voranschritt, desto dunkler wurde es. Ab der zehnten Stufe musste sie sich mit rechten Hand an der Wand abstützen und sich mit den Füßen voran tasten. Ab der zwanzigsten Stufe kam sie sich vor wie eine Blinde. Sogar mitten in der Ohawa-Wüste hatte es noch die Sterne gegeben, die auf sie hinab geschienen hatten. Ganz zu schweigen von den Monden. Dies aber war eine Schwärze, die ihr noch nie begegnet war. Lag es am Schatten?
Immer langsamer wurden ihre Schritte. Unsicherheit überkam sie. Es war ein Fehler, hier runter zu kommen. Es war ein Fehler, überhaupt durch die Tür zu treten! Nach einer scheinbaren Ewigkeit hatte sie ebenen Boden erreicht. Dort verharrte sie für einige Augenblicke. Lauschte auf Geräusche. Und tatsächlich war da etwas. Es kam von links. Ein langgezogenes, kaum hörbares Zischen, das mehrfach von den Wänden und sicher auch den Bücherregalen zurückgeworfen wurde.
Er ist wirklich hier, war Yudras erster Gedanke. Ich bin ihm hilflos ausgeliefert, ihr zweiter. So leise wie möglich legte sie Cors Stab auf den Boden. Er würde ihr bei ihrer Verteidigung nichts nützen. Stattdessen zog sie den rechten Saum ihres Kleides hoch und umfasste den Griff des Dolches mit klammen Fingern. Sie nahm einen tiefen Atemzug und tat den ersten Schritt auf die Geräuschquelle zu. Im selben Moment bereute sie es. Es knackte laut, als der Rücken eines Buches unter ihrem Gewicht nachgab. Der Laut klang in ihren Ohren wie der erste Donnerschlag vor einem heftigen Gewitter. Das Zischen verstummte.
Plötzlich schlug ihr ein heftiger Windstoß entgegen. Überrascht fuhr die Dryade zurück, stolperte fast über einen Bücherhaufen und konnte sich gerade noch gegen die Wand pressen. Mit einer raschen Bewegung zückte sie den Dolch und hielt ihn der Dunkelheit entgegen. Sie hatte das Gefühl, dass jemand – oder etwas – sie beobachtete. Jeovi, steh mir bei! Die Erdfee zuckte heftig zusammen, als sie das Sausen von Metall durch Luft hörte. Instinktiv duckte sie sich, doch das Schwert prallte weder an der Wand ab noch verletzte es sie.
»Hab keine Angst, Fee.«
Die Stimme des Schattens schmerzte in ihren Ohren. Sein Zungenschlag war ihr so unangenehm und fremd, dass sie sich anstrengen musste, um seine Worte überhaupt zu verstehen. Jeder Laut wurde von einem grässlichen Zischen begleitet, das sich tief in ihren Kopf bohrte.
»Ich werde dir nichts tun.«
Yudra sammelte all ihren Mut zusammen und richtete sich langsam wieder auf. Den Dolch richtete sie weiter in die Dunkelheit hinein. Sie war sich zwar nicht sicher, dass sie den Schatten damit verletzen konnte, aber ihm trauen würde sie auf keinen Fall.
»Du kannst mir mit deinem Messer nicht drohen«, zischte das Wesen und machte damit auch die letzte Hoffnung der Dryade zunichte. Erneut sauste ein Schwert durch die Luft, doch diesmal hielt Yudra die Luft an und blieb aufrecht, wie sie war. »Mutig.« Die Stimme des Schattens war näher gekommen. »Nicht so wie meine vorherigen Körper.«
»Bleib fern von mir!«, schrie Yudra ihm entgegen und zerschnitt mit dem Dolch die Finsternis. Für einen kurzen Augenblick verstummte das anhaltende Zischen und sie glaubte, das Wesen vertrieben zu haben, doch dann kam es zurück. Heftiger und vor allem kälter. Ihr entwich ein ungläubiges Keuchen, als sie eisige Luft in ihre Lungen sog. Der Ledergriff ihrer Waffe wurde hart und die Erdfee ließ sie fallen, sobald sie das kalte Eis auf ihren Fingern spürte. Wie ist das möglich?
»Du hättest auf mich hören sollen!«, kreischte das Wesen mit solcher Wucht, dass sie sich zitternd niederkauerte. Bilder aus der Eishöhle des Schneevolks stiegen in ihr hoch. Ein Schatten hatte ihre Ketten gesprengt. War es derselbe gewesen? Hatte er sie nur befreit, um sich ihres Körpers zu bemächtigen? Wie er es mit Yatepa getan hatte? Eine kalte Klinge strich ihre Wange entlang. »Wenn du mich nicht freiwillig einlässt, werde ich mir einen Zugang schneiden müssen.«
Trotzig presste Yudra die Lippen aufeinander, die sicher schon blau geworden waren. Mit einer Hand tastete sie den Boden nach ihrem Dolch ab, während sie sich mit der anderen eine Strähne zurückstrich als würde sie nachdenken. Sie hob den Kopf und starrte in die Schwärze. »Sei auf alle Ewigkeit verdammt und möge Jeovis Zorn dich zerstören!«, schleuderte sie ihm entgegen.
Mit einem ohrenbetäubenden Zischen stürzte der Schatten sich auf sie. Die Dryade konnte sich genau vorstellen, wie sein Schwert durch die Luft fuhr. Blitzschnell hielt sie ihren Dolch in seine Bahn. Es klirrte laut. Das kalte Eisen zersprang wie brüchiges Glas. Die Klinge des Wesens verfehlte sie nur um Haaresbreite und sie spürte einen eisigen Windzug an ihrem Oberarm. Das dunkle Wesen kreischte vor Zorn laut auf. Der nächste Schlag würde sein Ziel treffen.
Ohne nachzudenken sprang Yudra auf und rannte los. Es gab nur einen Ausweg. Zwei Stufen auf einmal nehmend raste sie die Treppe hinauf. Sie musste nur schnell genug sein. Ein Schwertstreich des Schattens schlitzte ihr das Kleid hinten auf. Nicht stolpern! Die Dryade sprang. Das Fensterglas der Bibliothek war härter als sie gedacht hatte. Aber das Glas zersplitterte in unendlich kleine Scherben. Haltlos stürzte die Erdfee dem steinernen Boden entgegen. Sie schloss die Augen. Hinter ihr brach der Schatten aus der Bibliothek. Das letzte, was sie hörte, war sein ärgerliches Zischen, bevor ein Regen aus Schmerzen auf sie niederging.
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