Ein Stern am Tag

»Breite deine Flügel aus,

mein kleiner Schatz,

so wie ich es einst tat.

Wähle deine Seele weise.«

DIE SCHLEIEREULE,

TIERGEIST,

SEIT 890 DGW UNAUFFINDBAR

Er war wütend. Sehr wütend. Seine langen Klauen hinterließen tiefe Furchen im nassen Sand, der von den Wellen des Meeres wieder zugespült wurde. Verärgert trat Der Dachs einen Schritt zurück. Das Salzwasser tat ihm nicht gut. Genauso wenig wie das Sonnenlicht, das ungehindert auf seinen schwarz-weißen Pelz schien. Ihm war heiß. Hätte er seine menschliche Gestalt angenommen, würde er sicher so viel schwitzen, dass man damit ein ganzes Fass füllen könnte.

Er dachte an die Nadgore, die er am Rand des Silberwaldes vor dem Ufer der Raimy zurückgelassen hatte. Sie spürten seine Wut und seine Enttäuschung. So nah war er dem Elfen schon gewesen. So nah!

Der Dachs schnaubte und sah hinauf zu den Schwebenden Inseln. Auf der größten von ihnen befand sich der Goldene Palast, der in den Strahlen der Sonne unübersehbar hell leuchtete als wäre er ein Stern. Ein Stern am Tag. Genau dorthin hatte dieser Elf sich vor vier Tagen verkrochen. Das wusste er ganz genau. Doch wusste er nicht, wie er dort hochkommen sollte.

Er fuhr weiter mit seinen Krallen durch den Sand, immer darauf bedacht, auf keinen Fall das Meerwasser zu berühren. Sollte er es so versuchen, wie sein Bruder Der Wolf? Auch wenn er in seinem Auftrag nicht gänzlich erfolgreich war, war er dennoch ein hervorragender Spitzel gewesen. Sein Mut hatte es ihnen ermöglicht, einen genaueren Einblick in den Goldenen Palast zu bekommen.

Der Dachs leckte sich mit der Zunge über die Schnauze und seufzte, als er Blut schmeckte. Die Nixe war sehr hilfreich gewesen, um seine Gier nach Fleisch zu stillen. Er hatte sie zerfetzt wie ein junges Rehkitz, nachdem sie den Fehler gemacht hatte, zu nah am Ufer aufzutauchen. Zwar hatte er sich damit die Rache ihrer Schwester auf sich gezogen, doch das war nur eine Nebensächlichkeit. Wichtiger war nun der Auftrag für seine Herrin.

»Lass dir was einfallen, wenn die Nadgore nicht helfen.« Das hatte sie ihm gesagt. Doch da wusste sie noch nicht, dass eine Schwebende Insel den Elfen außerhalb seiner Reichweite gebracht hatte. Sollte er Die Schneeeule kontaktieren? Hoffentlich war sie gerade nicht beschäftigt. Der Dachs knurrte. Er musste dort rauf, wenn er weiterhin in der Gunst seiner Herrin stehen wollte. Er sollte diesen Elfen töten und zu ihr bringen. Er sollte den ganzen Ruhm ernten. Er sollte das sein!

Und dennoch... Ohne die Hilfe Der Schneeeule würde er es nicht schaffen.

Der Dachs trat einige Schritte vom Meerwasser zurück und schloss die Augen. Mit seinen Gedanken griff er nach dem Gold des Palastes, hangelte sich an der Wand entlang, bis er eine Öffnung fand. Einer der Quattos schloss gerade die linke Seitentür des großen Eingangstores. Schnell schlüpfte Der Dachs hindurch, schwebte den Gang einer Treppe hinunter und fand sich in einer Küche wieder. Auf goldenen Pfannen und in goldenen Kochtöpfen mit eingelassenen Edelsteinen wurden Speisen für den König zubereitet.

Er wich einer kleinen Gnomin aus, die einen ganzen Stapel voller goldener Teller zu einem hohen Schrank trug. Überall wimmelte es nur so von diesen Viechern. Der Dachs bleckte seine Zähne und hielt sich davon ab, nach der Gnomin zu schnappen. Noch hatte man seine Anwesenheit nicht bemerkt. Schnell wie der Wind hastete er zur Tür, die in die Halle der Säulen führte und schlüpfte durch das Schlüsselloch. In einer dunklen Ecke hinter den stämmigen Säulen hockten ein Quatto und eine Gnomin zusammen und unterhielten sich kichernd.

Eine unbändige Wut überkam ihn. Er dachte an Calypso. Ihr wunderschönes Gesicht, die anmutig geschwungenen Lippen und ihre langen, minzgrünen Haare, die ihn so oft gekitzelt hatten, wenn sie nebeneinander aufgewacht waren. Der Dachs schüttelte unwillig den Kopf. Seine Erinnerungen und Gefühle durften ihm nicht im Weg stehen. Calypso war tot. Er konnte ihr nicht mehr helfen.

Er unterdrückte ein Knurren und schritt an den Säulen vorbei in die Mitte der Halle. Auf dem Boden war ein roter Teppich ausgerollt. Gerade schloss sich eine Tür auf der anderen Seite. War Die Schneeeule dort? Nein, sie war nicht so primitiv und schenkte sich den Novizen des Goldenen Palastes. Nur den Herrschern. Er musste in den Thronsaal.

Der Dachs rief sich den Aufbau des Palastes wieder in Erinnerung, den Der Wolf erstellt hatte, als er noch frei war. Nun hockte er in den tiefen Kerkern in einer Zelle. Die Gedanken seines Bruders waren verwirrt. Er hatte zu oft seine Tiergestalt angenommen in der Zeit, in der er von dem Prinzen Rhince entlassen wurde. In seiner vorgetäuschten Freiheit hatte er seiner Herrin gedient. Zu ergeben. Nicht mal jetzt, wo Der Wolf angekettet war, wagte Der Dachs sich zu seinem Bruder hinunter. Es hatte keinen Nutzen mehr, mit ihm zu reden.

Bruder!, ertönte plötzlich eine knurrende Stimme in seinen Gedanken. Der Dachs fuhr herum und starrte zu der vergitterten Tür, die in den Kerker führte. Bruder, ich spüre, dass du dort bist. Bitte, hilf mir!

Ich kann dir nicht helfen, Wolf. Dein Leben ist verwirkt. Die Herrin entbindet dich deiner Pflichten.

Wie kannst du es wagen, das Wort der Herrin in deinen Mund zu nehmen? Der Zorn seines Bruders war deutlich zu spüren. Bald würden die Elfenwachen bemerken, dass etwas nicht stimmte. Der Dachs sah misstrauisch zu einem der Soldaten, der verwirrt dreinblickte und die Hand auf sein Schwert legte.

Zügle deine Wut!, fuhr er Den Wolf an. Ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Es sind meine Gedanken, die hier sind, nicht ich selber. Ich kann dir nicht helfen.

Aber deine Magie ist so stark! Stärker als bei anderen Tiergeistern, wenn du mit deinen Gedanken reisen kannst. Komm runter zu mir. Schlüpf durch die Schlüssellöcher und befreie mich. Ich sage dir, wo die Schlüssel sind. Und ich kann dir helfen.

Der Dachs zögerte. Er konnte Dem Wolf nicht trauen. Sein Körper und sein Geist wurden vom Tier beherrscht. Auch wenn er jetzt gerade normal zu ihm sprach, konnte sich das im nächsten Augenblick wieder ändern. Der Wolf schien sein Zögern zu bemerken.

Bruder, du weißt nicht, wie sehr sie mich gequält haben. Sie haben mir meine Freiheit genommen. Ich bin wie ein Tier in einem Käfig, versuchte er Den Dachs ein letztes Mal zu überreden.

Du bist ein Tier, antwortete er und unterbrach die Verbindung zu seinem Bruder. Ein grässliches Geheul setzte plötzlich ein. Es erfüllte die ganze Halle und fuhr nieder wie ein unerwarteter Donnerschlag in einem Gewitter. Die Soldaten zuckten alle zusammen und hielten sich entsetzt die Ohren zu. Einige ergriffen die Flucht und stolperten auf die Treppe zu, die aus der Halle hinauf in den ersten Stock führten. Auch der Quatto und die Gnomin schienen unerträgliche Qualen zu leiden wie Der Dachs mit Genugtuung feststellte.

Geschickt wich er den panisch umher rennenden Elfen aus und huschte zu den goldenen Fresken, die überall an den Wänden und auch an der Decke waren. Er zählte die verschiedenen Köpfe der dort abgebildeten Tiere ab, bis er auf Fünfzehn kam. Es war das Haupt eines Adlers, der ihn von der Decke der Halle anstarrte. Rasch zwängte er sich durch den winzigen Schlitz des ausgehöhlten Auges, zögerte jedoch, es ganz zu durchqueren.

Über ihm erhoben sich mehrere laute Stimmen, die das Geschrei seines Bruders aber nicht zu übertönen vermochten. Schwere Schritte wie von Soldaten in schweren Rüstungen erklangen. Speerspitzen klirrten aneinander und Ketten rasselten auf den Boden. Das Wehklagen wollte nicht enden. Zum Glück nahm der Dachs alles nicht so intensiv wahr wie die anderen. Er war für sie unsichtbar. Er war nur eine Gestalt, ein flüchtiger Windhauch, geformt aus seinen eigenen Gedanken.

Der Dachs kratzte mit seinen gedanklichen Klauen über das Gold um ihn herum, bis er ins Freie kam. Der Thronsaal. König Zefalo stürmte aus einer Seitentür hinaus und gestikulierte wild mit den Armen. Außer sich vor Wut, oder auch Schmerz, schrie er einige Soldaten an und schickte sie durch das riesige Tor hinaus. Seine Frau, Königin Tiana, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter, doch er schüttelte sie energisch ab, woraufhin die Elfe anmutigen Schrittes den Saal durchquerte und den Soldaten hinaus folgte. Kurze Zeit später hasteten auch der König und ein Hüne von Mann mit wirrem, schwarzen Bart hinaus. Erstaunlicherweise war eben dieser Mann ein Mensch, obwohl im Goldenen Palast eigentlich nur Elfen zur Leibgarde des Königs aufsteigen konnten. Menschen waren schwach. Dem Dachs entwich ein leises Knurren.

Die Schneeeule war hier irgendwo. Er konnte sie spüren. Nur wo war sie?

Bruder?, erklang die hohe Stimme seiner Schwester in seinen Gedanken. Du bist es wirklich. Und ich habe mich schon gefragt, warum Der Wolf plötzlich angefangen hat zu heulen.

Er wollte, dass ich seine Zelle aufsperre und ihn befreie.

Darum bittet er mich jeden Tag. Die Schneeeule hielt kurz inne, bevor sie fortfuhr. Schlüpfe durch das Schlüsselloch der rechten Tür hinter der Harfe und dann durch das der zweiten von rechts. Dort ist das Gemach des Prinzen.

Werde ich dich denn nicht stören?, fragte Der Dachs misstrauisch. Er wusste, welchem Geschäft seine Schwester nachging.

Es ist schon alles getan, was getan werden musste, antwortete sie und unterbrach die Verbindung.

Er ahnte, dass es keinen Sinn hatte, sie weiter zu fragen. Der Dachs kräuselte sich und schoss in gerader Linie auf die Tür zu und dann auf die nächste, hinter der seine Schwester auf ihn warten würde. Er zwängte sich durch das Schlüsselloch und sah Die Schneeeule sofort. In menschlicher Gestalt hockte sie auf dem majestätischen Bett und hatte sich mit ihrem hellen Kleid bedeckt, das ihre Formen jedoch eher betonte als verbarg. Ihre blassweiße Haut glänzte von den Ölen, mit denen sie sich eingerieben hatte.

Neben ihr lag der zweitgeborene Prinz. Er hatte die Augen geschlossen und an seinen regelmäßigen Atemzügen konnte Der Dachs erkennen, dass er schlief. Seine hellgelben Flügel hatte er wie ein Zelt über sich ausgebreitet. Das Geheul Des Wolfes schien ihn vorerst nicht zu stören.

»Warum bist du hergekommen, Bruder?«, fragte die Schneeeule leise und fixierte ihn, Den Dachs, mit ihren unheimlichen Augen. Es war beängstigend, denn eigentlich konnte sie ihn nicht sehen. Dennoch schien sie genau zu wissen, wo er war.

»Die Herrin hat einen Auftrag für mich«, setzte er an. Seine Worte klangen seltsam zerflossen und gedehnt, doch seine Schwester verstand ihn. In ihren Augen glomm ein Funke auf. Sie war neugierig geworden. »Ich soll einen Elfen töten und ihn zu ihr bringen. Es kann sein, dass er es gesehen hat.«

»Was gesehen?«

Der Dachs verstummte. Hatte er zu viel verraten? Hatte seine Herrin die Schneeeule nicht eingeweiht? Nur ein Fehler und er würde ihre Gunst sofort verlieren. Das durfte auf keinen Fall geschehen!

»Wenn du nicht eingeweiht bist, darf ich dir nichts weiter verraten«, sagte er und wieder klangen die Worte in seinen Ohren komisch.

»Das ist schade«, meinte seine Schwester und legte sich wieder aufs Bett. Das Kleid verrutschte und entblößte eine ihrer vollen Brüste. »Ich habe meinen Auftrag. Ich werde ihn bald erfüllen und damit in den engsten Kreis der Herrin aufsteigen. Solltest du versagen, ist das nur gut für mich.«

Der Dachs knurrte, hörte aber sofort damit auf, als der Prinz sich bewegte. Hastig legte die Schneeeule ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter und strich ihm mit der anderen sanft durch die dunkelbraunen Haare.

»Du solltest dich besser beherrschen«, flüsterte sie schließlich. »Irgendwann endest du noch so wie Der Wolf. Weggesperrt wie ein Tier.«

Der Dachs schüttelte unwillig den Kopf. Hätte er doch bloß nichts gesagt. Doch die Dreistigkeit seiner Schwester machte ihn wütend. Er musste ihr etwas bieten. Etwas Gutes, damit sie ihm bei seinem Auftrag half. Er konnte unmöglich selbst als Spitzel in den Goldenen Palast eindringen. Dafür hatte er zu oft seine tierische Gestalt angenommen. Sie würden sofort sehen, was er war.

»Wenn du mir hilfst, stehe ich tief in deiner Schuld«, sagte er nach einigem Nachdenken. »Du darfst von mir verlangen, was du willst.«

Die Schneeeule sah ihn nachdenklich an. »Alles, was ich will?«, hakte sie nach.

»Alles.«

»Wie lautet der Auftrag?« 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top