»Die Zeit ist reif.«

»Die Zeit besteht aus drei Brüdern.

Der Endliche in der Goldenen Welt,

Der Endlose im Reich von Jeovi und

Der Endgültige im Reich des Dunklen.«

SCHWESTER FIA,

STUMME SCHWESTER AUS SCHWARZFEST,

KURZ VOR IHRER VERURTEILUNG

Die hellen Strahlen der Sonne durchstießen die Wolken wie schmale Speere. König Zefalo schien mittlerweile überall nur noch Waffen zu sehen. Spitz, scharf und manchmal blutgetränkt. Seine Hände umklammerten das Geländer des Balkons, während er den Blick stur auf die Schwebewasser richtete. Das dunkle Meer wirkte aus dieser Entfernung wie ein schwarzes Tuch, das sich im Wind leicht bewegte.

Fünf Tage, dachte er. Fünf Tage waren vergangen und sein Sohn war immer noch nicht wieder aufgetaucht. Wo wolltest du hin? Gib mir ein Zeichen. Irgendein Zeichen. Er nahm einen weiteren Schluck vom Wein – ein guter Roter aus Otequ – und ballte die Fäuste. Der König musste wissen, was in seinem Reich vorging, immer! Aber er war einfach nur ratlos. Vom Helden Alarchias verraten, vom Sohn verlassen, von Briefen mit Hilferufen überschüttet. Ganz zu Schweigen vom Tod eines guten Himmelskriegers und dem Verschwinden seines Generals. Die Krone lastete zu schwer auf seinem Kopf. Widerwillig riss er sie herunter und widerstand dem Impuls, sie ins Meer zu werfen.

Auf einmal legte eine sanfte Hand sich beruhigend auf seine Schulter. Der Duft von Mondveilchen umhüllte ihn und er seufzte. »Bist du jetzt auch noch gekommen, um über mich zu richten?«

Tiana hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Nein.«

Der Mondveilchenduft wurde immer stärker. Zefalo rümpfte die Nase und machte sich von seiner Frau los. Sie glaubt, ich weiß nicht, warum sie dieses Duftwasser aufträgt. Er hob den Weinbecher erneut an seine Lippen, aber Tiana hielt ihn zurück.

»Ertränke deine Sorgen nicht im Wein«, sagte sie. »Unser Sohn ist nicht tot. Mirap wird wiederkommen, du wirst sehen. Er ist ein kluger Junge, hat einundzwanzig Krieger und den General mit sich genommen. Sie werden ihn beschützen, wohin auch immer er aufgebrochen ist.«

»Wohin auch immer«, murrte Zefalo. »Wo ist dieses ›wohin auch immer‹? Warum hat er uns nicht Bescheid gesagt? Er ist der Thronerbe! Wenn mir etwas zustößt...«

»Dir wird nichts zustoßen«, unterbrach Tiana ihn, legte einen Finger unter sein Kinn und brachte ihn dazu, sich zu ihr zu drehen. Ihre Augen hatten die Farbe von dunklen Haselnüssen und ihre Lider hatte sie in schwarze Schatten gelegt. So hatte sie noch nicht ausgesehen, als er sie kennengelernt hatte. Sie war bescheiden gewesen, vorsichtig und wachsam, hatte seinen ersten Annäherungsversuchen widerstanden. Aber sie war älter geworden. Und das zerstörte sie ganz langsam.

»Das kannst du nicht wissen«, antwortete er. »Die Zukunft ist ein Schloss ohne Schlüssel.«

»Aber einige haben einen Dietrich«, flüsterte die Königin ihm zu. Überrascht ließ er das Geländer los und trat einen Schritt zurück.

»Was meinst du damit?«

»Du weißt genau, was ich meine.« Sie zog den Überwurf, den sie trug, enger um ihre Schultern. »Du weißt, wer im Ostturm eingesperrt ist.«

Zefalo ballte die Fäuste und verzog das Gesicht. Wut wallte in ihm auf. Oder lag es am Wein, dass er so reagierte? Er packte Tiana grob am Unterarm, sodass sie vor Schreck aufschrie. Sie versuchte, sich von ihm zu befreien, aber es war vergebens. Schließlich funkelte sie ihn erbost an. Schweigend. Ihre Lippen bebten und in ihren Augenwinkeln sammelten sich erste Tränen.

»Du wirst nie wieder das Wort ›Ostturm‹ in den Mund nehmen, hast du mich verstanden?«, fuhr er sie an.

Die Königin nickte hastig, woraufhin er sie losließ. Die Schleppe ihres roten Kleides wehte hinter ihr her, als sie zu der Tür rannte, die in ihr Gemach führte, und verschwand. Manchmal sehe ich doch noch die alte Tiana in ihr, dachte Zefalo. Ängstlich und zurückhaltend. Sie ist nicht wie Königin Filinu, die Selbstlose. Sie würde sich nicht vor ihre Kinder werfen, wenn deren Leben bedroht wird. Sie würde es geschehen lassen, um danach in voller Trauerbekleidung die Abschiedszeremonie durchzuführen. Sie liebt Zeremonien. Er nahm einen letzten Schluck Wein und stellte den Becher weg. Niemand wird sich an sie erinnern. Niemand wird ein Lied über sie schreiben oder ihr zu Ehren eine Statue meißeln.

Leicht schwankend bewegte er sich auf die Tür zu seinem Gemach zu. Normalerweise hatte das Königspaar ein Zimmer, aber Tiana hatte darauf bestanden, ein eigenes zu haben. Er hatte nicht gefragt, warum, und würde es auch nicht tun. Mittlerweile kannte er den Grund. Ihm fiel ein, dass er die Krone auf dem Geländer vergessen hatte.

»Soll sie doch ins Meer fallen«, grollte er. Zefalo hatte nie nach der Krone verlangt. Er hatte auch nie nach den Flügeln verlangt. Die weißen Schwingen störten ihn nur. Zwar konnte man mit ihnen fliegen, doch warum sollte er das tun, wenn er seinen Rußadler Wirbelsturm hatte, der ihn überall hinbrachte. Die Adlerreiter hatten keine Flügel, nur die Himmelskrieger. So war es immer gewesen. Wozu brauchte man seine eigenen Schwingen, wenn man schon zwei zur Verfügung hatte? Manchmal glaubte Zefalo, eine tiefe Enttäuschung in Wirbelsturms Augen zu sehen, weil er so wenig mit ihm flog.

Der König hörte das Klopfen erst beim vierten Mal. Seufzend erhob er sich. Sein Kopf brummte, als er die Tür öffnete und Rafiki einließ. Der Kobold wackelte nervös mit den Ohren und piepste: »Es gab einen Hilferuf, mein König.«

»Es gibt andauernd Hilferufe«, wies er ihn scharf zurecht. Die Stimme der Grauhaut war einfach nur unangenehm. Er behielt ihn nur als seinen Diener, weil er seine Arbeit besser machte als alle anderen und ihn nicht wegen jeder Kleinigkeit beunruhigte. Normalerweise.

»Dieser kam vom Perlenwald, mein König«, informierte Rafiki ihn. »Der Herr Waan hat einige Adlerreiter runtergeschickt und sie brachten zwei Leichen wieder.«

»Zwei Leichen?« Zefalo horchte auf.

»Zwei Leichen, mein König«, bestätigte die Grauhaut. »Es handelt sich um einen der Himmelskrieger, die mit Prinz Mirap verschwunden sind, und einen Magier, der, wenn mein bescheidenes Ich sich richtig erinnert, von Euch in den Kerker verbannt wurde, mein König. Er hat dem Mörder und Verräter Aktur bei der Flucht geholfen.«

»Wo sind sie jetzt?«

»Der Herr Waan meinte, es wäre besser, Ihr würdet sie Euch als erster ansehen, mein König«, erklärte der Kobold. »Er hat beide in die Ruinen von Uzkalith bringen lassen.«

»Führ mich hin.«

Sobald Zefalo sein Gemach verlassen hatte, reihten sich sechs Himmelskrieger links und rechts neben ihm ein. Er hasste es, sie in seiner Nähe zu wissen. Das erinnerte ihn daran, dass sein Leben jederzeit in Gefahr war und geschützt werden musste. Das Klappern ihrer Rüstungen begleitete ihn auf dem Weg aus dem Goldenen Palast hinaus. Wo er vorbeikam, verneigte man sich oder warf sich sogar zu Boden. Rafiki führte ihn über die größeren Schwebenden Inseln, die mit steinernen Brücken verbunden waren, vorbei am Adlerturm und hinein in das Chaos von Uzkalith.

Der König wusste nicht, wie die Stadt früher ausgesehen hatte, konnte es sich aber anhand der Erzählungen und Berichte gut vorstellen. Sie wurde gebaut, um den Familien der Himmelskrieger und Adlerreiter sowie den wichtigen Angestellten des Palastes ein Zuhause zu geben. Nachdem sie während der dritten Rebellion der Zwerge vollständig zerstört worden war, hatte man nur die äußersten Häuser wieder aufgebaut. Dahinter befanden sich nur noch von Efeu und Moos überwachsene Ruinen, verwitterte Steine und ab und zu bleiche Knochen. Die Zwerge hatten ganze Arbeit geleistet.

Sie fanden Waan und seine Adlerreiter neben den Trümmern eines eingestürzten Turmes. Der Kommandant hob den Kopf, als er Zefalo nahen sah. Er strich seinem Rußadlerweibchen über den Hals, damit sie etwas beiseite trat. Ihre eisenbesetzten Klauen kratzten über den Felsen, auf dem sie sich niedergelassen hatte, und hinterließen tiefe Rillen.

»Ihr seid gekommen«, seufzte Waan erleichtert und fiel vor dem König auf die Knie. Die Reiter taten es ihm nach.

»Steh auf«, befahl Zefalo. »Wo sind sie?«

Der Kommandant bedeutete seinen Leuten, Platz zu machen. Dann deutete er auf die zwei Leichen. Dem einen war offenbar ein Schwert durch die Brust gestoßen worden. Am anderen klebte so viel Blut, dass es unmöglich war, die Wunden zu erkennen. Zefalo runzelte die Stirn. Es war so, wie Rafiki behauptet hatte: Der Magier und einer der verschwundenen Himmelskrieger. Ihm fiel auf, dass keiner von beiden noch eine Waffe besaß.

»Wir haben das Schwert, mit dem sie getötet wurden, nicht gefunden«, ließ Waan sich vernehmen. »Es waren nur ihre Leichen da, mein König.«

»Können es die Stämme aus dem Perlenwald gewesen sein?«

»Nein, mein König«, meldete sich ein anderer Adlerreiter zu Wort. »Ihr Lager befindet sich zu weit von der Fundstelle entfernt und sie haben wegen dem Waldbrand schon genug Probleme. Außerdem...« Er wechselte einen Blick mit seinem Kommandanten, der auffordernd nickte. »Es waren absolut keine Spuren zu finden, mein König. An einer Stelle war das Gras zwar enorm plattgedrückt, aber dort hat sich vermutlich nur ein Bär gewälzt oder sowas.«

»Ein Bär?« Zefalo warf dem Adlerreiter einen vernichtenden Blick zu, woraufhin er sich hastig verneigte und in die hinteren Reihen seiner Kameraden verschwand. Dann wandte er sich an einen Himmelskrieger aus seiner Leibwache. Den mit den tiefblauen Flügeln. Er hatte seinen Namen vergessen. »Wie kann es sein, dass ein Verbrecher unbemerkt den Kerker verlässt und dann auch noch mit dem Prinzen wer weiß wohin aufbricht?«

»Alle Verlieswächter aus der Nacht des Verschwindens sind ebenfalls mit Prinz Mirap weggeflogen, mein König«, antwortete der.

Zefalo schnaubte verärgert und ballte die Fäuste. Es gibt nicht mal jemanden, den ich hinrichten kann!, fluchte er innerlich und fuhr zu Waan herum. »Wo sind die restlichen Himmelskrieger und Adlerreiter, die verschwunden sind? Wo sind ihre Rußadler? Wo ist mein Sohn?« Die letzten Worte schrie er so laut, dass die anwesenden Raubvögel erschrocken mit den Flügeln schlugen. Der aufgewirbelte Staub stach ihm in die Augen und machte ihn nur noch wütender.

»Wir haben keine Spur von ihnen gefunden«, gab Waan zu. Er war ruhig geblieben.

Zefalo seufzte frustriert. Er zwang sich dazu, die Fäuste zu lösen und deutete in Richtung der beiden Toten. »Hatten sie eine Familie, die wir über ihren Tod informieren müssen?«

Die Adlerreiter sahen einander an, bis einer nach dem anderen stumm den Kopf schüttelte.

»Dann werft den Magier die höchste Railess herunter«, befahl er. »Der Himmelskrieger wird wie es sich für ihn gehört auf die ewige Fahrt gen Osten geschickt. Bereitet alles vor.«

»Ja, mein König.«

Zefalo stampfte durch die Ruinen zurück zum Goldenen Palast. Er könnte zwar auch fliegen, aber seine Flügel fühlten sich viel zu schwer an. Eigentlich sollte er heute noch die Briefe durchlesen, die man ihm geschickt hatte, doch er bezweifelte, dass er das mit seinem brummenden Kopf tun könnte. Ich brauche Wein, mehr Wein, dann geht das weg. Von Weitem schon sah er das glänzende Gold des Palastes. Die Sonne spiegelte sich an den Dächern und verwandelte sie in brennende Rechtecke. Nur den Ostturm schienen die Strahlen zu meiden. Den Ostturm meidet jeder. Nur die wenigsten wussten, warum sie das taten. Zefalo hatte befohlen, ihn so gut zu bewachen wie den Kerker. Er hatte sich geschworen, ihn nie zu betreten, aber Tianas Worte wollten einfach nicht aus seinem Kopf.

»Einige haben einen Dietrich.« Damit hatte sie recht. Und die meisten, die einen hatten, wurden hingerichtet. Als Diebe, als Mörder... Er dachte an die Hinrichtung der beiden Himmelskrieger und der Hure, die er persönlich durchgeführt hatte. Ein Streich mit seinem Schwert Lyz und ihre Kopfe waren über den Boden bis zum Rand der Blutenden Insel gerollt, wo sie ins dunkle Meer gefallen waren. Die Strömung würde sie weiter nach Osten schwemmen. Die ewige Fahrt ohne Boot war schon eine Erniedrigung. Die ohne Körper war die Zerstörung ihres Rufes. Zefalo wusste, dass die drei Hingerichteten nichts mit dem Verschwinden seines Sohnes zu tun hatten – die zwei gefundenen Leichen bewiesen das mehr als genug – aber wenn sich kein Schuldiger fand, wurde einer geschaffen. Die Himmelskrieger waren sowieso unverantwortliche Elfen gewesen, die ihre Pflichten nicht ernst genommen hatten. Und die Hure... Er lachte auf und war froh, dass weder Rafiki noch seine Leibwache sich nach ihm umdrehten. Leider war es nicht die gewesen, die ihm seinen Sohn verdorben hatte. Die war zum Glück freiwillig abgehauen und verrottete jetzt hoffentlich in irgendeinem Drecksloch von Menschenstadt.

***

Tiana liebte Zeremonien, so auch die Zeremonie der ewigen Fahrt. Als Zefalo mit ihr in den Fahrtkorb stieg, der sie zur Sterbenden Insel hinunter bringen sollte, hoffte er, dass die Elfen ihn nicht für die Aufmachung seiner Frau verurteilten. Sie hatte zwar schwarze Trauerkleidung angelegt, doch der Goldschmuck und der weite Ausschnitt zeugten keinesfalls von Traurigkeit. Eher schrieen sie nach Feierlichkeiten und Tänzen, wie es sie im Goldenen Palast schon lange nicht mehr gegeben hatte. Seinen missmutigen Blick erwiderte Tiana mit einem beleidigten Wegschauen.

Doch er war nicht der einzige, der die Königin unglücklich beäugte. Zefalo konnte sogar durch Ysabelles Schleier hindurch erkennen, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre vor Scham. Seine Tochter bemühte sich, nicht in die Richtung ihrer Mutter zu schauen, während der Kurbeldreher des Fahrtkorbs den großen Käfig langsam in Bewegung setzte. Es war ungewöhnlich windstill. Normalerweise rüttelten wilde Böen an den straff gespannten Seilen und versuchten, den Fahrtkorb mit sich zu reißen, doch heute war alles ruhig. Als wüsste die Luft, dass ihr Herzog schon so genug Probleme hatte.

Der Schatten der gigantischen Railess, auf der der Goldene Palast gebaut war, fiel über die Königsfamilie und ihre Leibwächter. Das Gefühl war beklemmend. Zefalo starrte auf die wenigen Pflanzen, die sich an der schwarzen Erde festkrallten, um Tiana nicht sehen zu müssen. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er es damit nicht besser machte. Sie wollte schön sein, noch schöner als früher. Dabei war das Alter der einzige Gegner, den man nicht besiegen konnte. Nur Elfen konnten die leichten Veränderungen bemerken, die für Menschen ein Nichts waren. Etwas schlaffere Haut, winzige Falten, mattere Haare. Tianas Haare waren dunkelbraun. Zefalo versuchte, nicht daran zu denken, dass Ysabelle blond war und konnte es doch nicht lassen.

Nach einer Ewigkeit des Schweigens blieb der Fahrtkorb stehen. Der Kurbeldreher öffnete die Tür. Zefalo ging voraus, der Rest folgte ihm in angemessenem Abstand. Am Rand der Sterbenden Insel hatten sich schon einige Elfen um das Boot versammelt, auf dem der gestorbene Himmelskrieger seine ewige Fahrt antreten würde. Er heißt Nihay, rief Zefalo sich ins Gedächtnis. Ich darf den Namen nicht vergessen. Je näher er kam, desto unangenehmer waren ihm die Blicke, die an Tiana haften blieben. Doch die Königin schritt weiter, ihre Tochter an ihrer Seite. Allmählich erwachten die Anwesenden aus ihrer Starre und verbeugten sich formvollendet. Zefalo hatte nur die wichtigsten Angestellten und Bewohner des Goldenen Palastes bei der Zeremonie zugelassen. Waan natürlich, Kaftico, den Kommandanten der Himmelskrieger mit seinen hellgrünen Flügeln, die so groß waren, dass die untersten Federn schon braun vom Schmutz des Erdbodens waren. Vizdaan hatte er zum neuen General ernannt, nachdem Nadir verschwunden war. Der muskulöse Himmelskrieger hielt zusammen mit einem anderen Elfen die Seile, die das Boot daran hinderten, schon jetzt auf das weite Meer zu fahren. In der vordersten Reihe stand Kaziel mit seinen Priestern. Wie immer in einer weiten Robe und mit kahl geschorenem Kopf. Er war es auch, der zuerst sein Wort an ihn richtete:

»Jeovi ist nicht erfreut darüber, dass eines ihrer Kinder entehrt wurde. Der Magier hätte mit Nihay die ewige Fahrt antreten müssen. Die Erschafferin allen Lebens hätte ihm alle Taten verziehen.«

»Beihilfe zum Mord ist unverzeihlich«, wies Zefalo ihn zurecht. »Du bist hier, um die Zeremonie durchzuführen. Nicht, um mir weise Ratschläge zu erteilen, nach denen ich nicht gefragt habe.«

»Ich bitte um Entschuldigung, mein König«, sagte Kaziel und trat zurück, wobei er sich mehrmals verneigte. »Ich bin nur ein Diener Jeovis. Zu viele ihrer Kinder sind gestorben und mein Herz schmerzt ob ihrer Trauer.«

Wortlos schritt Zefalo an ihm vorbei und stellte sich neben das Boot. Najisha verstand ihr Handwerk gut. Sie hatte das Blut aus den Haaren des toten Himmelskriegers gewaschen, seine Haut mit duftenden Ölen eingerieben und ihr eine lebendigere Farbe gegeben. Wäre nicht das weiße Totenhemd gewesen, hätte man meinen können, der Elf schlafe. Er hatte nicht mal Flügel gehabt. So jung...

»Fangt an«, forderte er Kaziel und seine Priester auf, die zum Boot schritten und sich daneben aufstellten. Keiner wagte es, ins Wasser zu steigen. Das Meer um die Sterbende Insel herum war tief, die Railess selbst hielt sich nur durch ihren eigenen Auftrieb an der Oberfläche. Während die Diener Jeovis die unzähligen Segen sprachen und dem toten Himmelskrieger Amulette und geweihte Gegenstände mit auf die Reise gaben, beobachtete Zefalo sie stumm. Was Kaziel gesagt hatte, stimmte. Zu viele seiner Untergebenen waren gestorben. Allen voran Erlingur, der frühere Leibwächter und Vertraute von König Xotoc. Bei seiner Zeremonie waren mehr Elfen zugegen gewesen. Er war eine Legende gewesen, bis der Tod des Königs ihn des Verstandes beraubt hatte. Nur in seinem Boot war er wieder der alte gewesen.

»Es ist deine Schuld«, ertönte auf einmal eine Stimme neben ihm. Ihre Stimme. Zefalo ignorierte sie, doch sie sprach einfach weiter: »Noch mehr werden sterben, wenn du nichts tust.« Er starrte stur nach vorne. Kaziel hatte die Arme zum Himmel gehoben und rief Jeovi an. »Was bist du für ein König, der seine eigenen Leute nicht beschützen kann? Du weißt nicht mal, wo dein Sohn ist.«

Ich weiß nicht, wo er ist, dachte Zefalo niedergeschlagen. Ich kann ihn nicht suchen lassen, wenn ich nicht weiß, wo man mit der Suche anfangen soll. Und wenn ich doch Adlerreiter losschicke, wer sagt dann, dass sie auch wirklich zurückkommen? Vielleicht verschwinden sie einfach. Wer ist mein Feind?

»Wer ist dein Feind?«, fragte sie. »Wer ist unser Feind? Wer ist der Feind deiner Familie?«

Ich weiß es nicht.

»Du hast keine Ahnung.« Ihre Stimme war hart und streng, so wie meistens. »Du kennst jemanden, der dir helfen kann. Denk an den Ostturm.«

Diesmal fuhr Zefalo mit geballten Fäusten zu ihr herum. Nur für einen Herzschlag, dann blickte er wieder zu Kaziel und seinen Priestern. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Dennoch konnte er es nicht lassen, ihren Worten zu lauschen. Sie sah immer noch so aus, wie an dem Tag, an dem er sie zuletzt gesehen hatte. Das Kleid war das gleiche, der Kopfschmuck ebenfalls. Nur ihre Haare waren nass, hingen in Strähnen herab.

»Der Ostturm ist nur ein Turm«, raunte sie ihm zu. »Ein Turm mit einem Schatz. Warum schließt du ihn weg, wenn du ihn genauso gut wegschmeißen könntest? Du weißt, dass du ihn brauchst. Brauchen wirst. Irgendwann. Die Zeit ist reif.«

Die Zeit ist reif, dachte Zefalo. Er schaute verstohlen zu Tiana und Ysabelle, aber zum Glück hatten sie die fremde Elfe nicht bemerkt. Die Zeit ist reif.

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