Die Suche beginnt
»›Licht und Dunkelheit
sind wie zwei Geschwister.
Ohne den einen,
gibt es den anderen nicht.
Je heller der eine,
desto dunkler der andere.
Je dunkler der eine,
desto heller der andere.‹«
AUS DEM KINDERMÄRCHEN
»EINOBI, DER WEISE«
»Wir müssen diese Frau finden«, sagte Yatepa gerade, als Yudra durch das Fenster in den Raum kletterte, in dem sich alle versammelt hatten. »Gasoka.«
Die Bibliothek von Zowuza war der perfekte Ort, um einen Plan zu schmieden, auch wenn ihr Plan bisher nur aus den sechs Worten bestand, die der Menschenmann soeben von sich gegeben hatte. Wenigstens hatte Tara in ihren Visionen den Namen dieser Frau herausfinden können. Allerdings brachte sie das auch nicht wirklich weiter, denn unter ihnen, zwischen den unzähligen Bücherschränken wütete immer noch der Schatten, der zum Glück Yatepas Körper verlassen hatte. Sie konnten ihm wieder vertrauen.
Die Dryade schwang ihre Beine über das Fenstersims und landete sicher auf ihren Füßen. Alle Blicke richteten sich auf sie. »Hast du etwas gefunden?«, wollte Nurov sogleich wissen. Er war zwar älter als sein Bruder, sah jedoch weit jünger aus. Sie wusste, dass sie eine gewisse Ausstrahlung besaß, die ihn, wie alle Menschenmänner, fast wahnsinnig machte. Sie sah es in den Blicken, die er ihr heimlich zuwarf, wenn er dachte, sie würde es nicht bemerken. Deswegen war sie losgezogen, um sich bei einer Kräuterfrau einen hemmenden Trank zu holen. Noch wusste sie nicht, ob es geklappt hatte, denn die Verkäuferin sagte, er würde erst nach einem Viertel des Tages anfangen zu wirken. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen war aber erst die Hälfte der Zeit vergangen.
»Nein«, erwiderte Yudra und schüttelte bedauernd den Kopf. Sie war im Zentrum von Zowuza gewesen und hatte sich nach irgendwelchen Neuigkeiten über angegriffene Personen und rätselhafte Ereignisse umgehört, die man mit Gasoka in Verbindung bringen konnte. Das einzige, was sie erfahren hatte, war, dass sie die perfekte Hure für Fürst Ugroc de Teltar von Zowuza wäre und dass es so oft zu Gewaltausbrüchen kam, dass man sie nicht ernsthaft mit der rätselhaften Frau verbinden konnte. Auch eine sehr fantasievoll ausgeschmückte Geschichte vom Vorfall im Kochenden Hirsch war dabei gewesen. Der Geist eines Verstorbenen soll in das Wirtshaus eingefallen sein, einige Leute getötet und den Rest mit seiner Magie betäubt haben, weil er an einem vergifteten Getränk gestorben sei und sich rächen wollte. Yudra fand das ziemlich geschmacklos, aber diese Geschichte brachte wenigstens niemanden auf den Gedanken, diesen Vorfall einer Fee oder sogar Beihun zuzuschreiben, wie es eigentlich der Fall gewesen war.
Yudra schritt durch das halbrunde Zimmer, nahm sich einen der zwei herumstehenden Stühle und ließ sich, gewollt weit weg von Nurov, auf ihm nieder. Auf dem Bett neben ihr saßen Yatepa und Tara nebeneinander. Beide hatten ihre Waffengürtel auf dem Hocker im hinteren Teil des Raums abgelegt. Der Bogen der ehemaligen Jägerin der Wolfsleute und der dazugehörige Pfeilköcher sowie der Stab des Wolkenlesers waren ebenfalls in diese Ecke verbannt worden. Warum auch immer. Yudra würde sich jedenfalls nicht von Hadamars Dolch trennen, solange Nurov sie so anstarrte. Die Erdfee blickte zu Tara. Wenigstens wusste sie jetzt, was der Begriff ›kleine Seherin‹ bedeutete, die Tara anscheinend war. Man konnte die Vergangenheit von jedem sehen, den man kannte. Wenn auch nur zu kleinen Teilen und nur, wenn man in eine Art Trance verfiel, in der man völlig hilflos war. Es war ein Fluch und ein Segen zugleich und offensichtlich hatte Tara große Schmerzen gehabt, weswegen sie sich weigerte, ein weiteres Mal in diese Trance zu verfallen.
»Wir wissen ihren Namen. Wir wissen, dass sie in deiner Vision aufgetaucht ist«, Yatepa deutete frustriert zu Tara, »und somit etwas mit einem Mann hatte, der von jemand anderem getötet wurde, und wir vermuten, dass sie eine Armee hat, mit der sie bestimmt jeden von uns töten könnte. Sie hat Schatten, die uns nach einer Verwundung beherrschen und versuchen, jede magiebegabte Person zu töten. Aber wir wissen nicht, wo sie ist und wie wir sie besiegen können. Was bringt uns all das wenige Wissen, wenn der Rest uns unbekannt ist? Und dann ist auch noch unser Wolkenleser hier in einen Schlaf gefallen, von dem wir keine Ahnung haben, wie lange er dauert. Zusammengefasst bedeutet das, dass wir so ziemlich keine Chance haben, diese Gasoka zu finden geschweige denn aufzuhalten. Nicht mal in dieser Bibliothek gibt es Informationen über sie! Und selbst wenn es sie gäbe, der Schatten macht es uns unmöglich, weiter zu suchen. Und die Bewohner Zowuzas wissen auch nichts.«
»Sie ist bestimmt eine Fee mit falschem Namen. Wäre Gasoka ihr richtiger Name, hätten wir schon lange Macht über sie, so oft, wie wir ihn schon ausgesprochen haben. Also ist es nicht verwunderlich, dass wir nichts über sie herausfinden konnten«, murrte nun auch Nurov. Im Gegensatz zu seinem Bruder schien er jedoch nicht kurz vor dem Aufgeben zu sein, sondern ernsthaft über ihr Problem nachzugrübeln. Wie Yatepa gesagt hat: Er ist wirklich stur.
»Ihr vergesst, was mir die Nymphe von Alarchia noch gesagt hat!«, warf Tara ein. Sie beugte sich leicht vor und zitierte:
»Doch wisse, es gibt einen Weg,
suche ihn und sei nicht träg:
Der mit dem Segen der Geister,
der mit dem Leser als Meister.
Er wird die Königin ketten.
Er wird Alarchia erretten.
Findest du ihn, so findest du Glück.
Dann bleibt Alarchia ein ganzes Stück.«
»Und was bringt uns das?«, fragte Yatepa gereizt.
Die Jägerin funkelte ihn wütend an. »Hörst du nicht zu? Wir müssen jemanden finden, der den Segen der Geister bekommen und einen Leser als Meister hat.«
»Leser im Sinne von Wolkenleser?«, wollte Yudra wissen. Tara zuckte mit den Schultern, während Yatepa ironisch auflachte.
»Cor schläft und wird uns nichts über seine Ordensbrüder erzählen können. Wir drehen uns im Kreis!«
»Nicht unbedingt«, warf Beihun in die Runde. Der Wächter des Wissens hatte bisher geschwiegen und richtete sich jetzt in seinem Sessel auf. Trotz seines beträchtlichen Alters sah er noch sehr jung aus. Seine hellblauen Augen waren wach und so strahlend, dass Yudra befürchtete, er könnte jeden, der seine Wut auf sich zog, mit einem Blick verbrennen. Nur die weißen Haare, die eher an Licht als an etwas Irdisches erinnerten, ließen ihn etwas älter wirken. »Würden wir den Schatten fangen und ihn einsperren, könnte ich vielleicht auf seine Erinnerung zugreifen und sehen, von wo aus er geschickt wurde. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dies dann der Ort, wo sich auch unsere rätselhafte Frau aufhält.«
»Und das kannst du?« Yatepa blickte Beihun zweifelnd an. Er hatte seine rechte Augenbraue fragend angehoben.
»Mithilfe meines Maneco-Stabs, ja«, erwiderte der Wächter des Wissens. »Aber es kann sein, dass Gasoka seine Erinnerungen durch eine magische Barriere schützt. Wenn sie wirklich eine so machtvolle Magiern oder Fee ist, wie wir denken, wird das das Erste sein, was sie getan hat, bevor sie den Schatten losgeschickt hat. Niemand soll sie finden.«
»Und welche Möglichkeit haben wir dann noch?« Nurov war es, der diese Frage gestellt hatte. Gleichzeitig drehte er den Kopf in Taras Richtung. Die Jägerin hob abwehrend die Hände.
»Ich werde nicht nochmal in eine Trance verfallen!«, stellte sie klar. »Besonders nicht, wenn ich in die Vergangenheit eines Schattens sehen muss. Das ist verdammt noch mal ein Geist, geschaffen aus Schwarzer Magie! Schon bei normalen Leuten ist es für mich eine Qual, doch bei einem Schatten...«
»Wir haben keine andere Wahl!«, versuchte Yudra die Jägerin zu überzeugen. »Entweder du tust es oder der Schatten kehrt früher oder später zu Gasoka zurück, erzählt ihr, dass wir von ihr wissen und sie schickt uns dann ein paar Meuchler, die uns im Schlaf abstechen werden.« Sie machte eine strategische Pause, damit die Worte ihre Wirkung entfalten konnten. »Ich jedenfalls möchte noch nicht sterben. Der Tod ist schlimmer als der Schmerz bei deinen Visionen.«
»Nein! Außerdem kann ich nicht kontrollieren, von wem ich die Vergangenheit sehe.«
»Wie schon gesagt, wir drehen uns im Kreis«, wiederholte Yatepa mürrisch, stemmte seine Arme hinter sich ins Bett und lehnte sich zurück. »Wenn wir nicht bald eine Lösung finden, wird das nichts.«
»Was ist mit dem Adlerreiter, den du gesehen hast, Dryade?«, fragte Tara auf einmal. »Hat der Elf nicht nach einem Mörder gesucht, der versucht hat, den König zu töten?«
Yudra nickte leicht. Was kommt jetzt? Sie hatte ihren Gefährten nicht erzählt, wo sie gewesen war oder was sie getan hatte. Einmal hatte Nurov sie darauf angesprochen und gefragt, ob sie die Nacht mit einem Mann verbracht hatte. Sie hatte verneint, doch es war erschreckend, wie nah das an der Wahrheit war. Jetzt betrachtete Yatepas Bruder sie immer abschätzend, fast schon lauernd. Er war neidisch auf ihren Liebhaber, von dem er wohl immer noch überzeugt war, dass es ihn gab. Die Erdfee verkniff sich ein Lächeln. Hoffentlich fängt der Trank bald an, zu wirken.
»Hat der Adlerreiter noch etwas über den Gesuchten gesagt? Vielleicht ist es ja derjenige, den auch wir suchen. Jedenfalls wüssten wir wenigstens von ihm, wo er sich gerade aufhalten muss. Nämlich im Perlenwald.« Taras Stimme klang aufgeregt und sie zupfte an ihrer neuen Lederkleidung herum, die Nurov ihr ausgehändigt hatte.
»Das Fahndungsbild wurde an der Rathaustür aufgehängt«, erklärte Yudra bereitwillig und versuchte, sich zu erinnern. »Wenn man ihn in Zowuza sieht, muss man zu General Zenit Schwarzbart gehen und würde eine Belohnung bekommen. Ich halte es aber für eher unwahrscheinlich, dass der Mörder gleichzeitig unser ›Retter Alarchias‹ sein soll.«
»Der Zufall wäre zu groß«, stimmte Nurov ihr leise zu, aber dennoch genau in der Lautstärke, dass jeder im Raum ihn hören konnte.
»Der Zufall dient nur dem Guten«, wandte Beihun ein. Der Wächter des Wissens schien tief in Gedanken versunken zu sein, doch allmählich klärte sein Blick sich wieder. »Zu Zenit Schwarzbart sagtest du?«
»Wer ist das?«, fragte Yatepa. »Wenn er ein General ist, ist er ein ziemlich schlechter. Es gibt immer noch sehr viele Verbrechen. Diebstahl und Mord scheinen hier zum normalen Tagesablauf zu gehören.«
»General Zenit Schwarzbart«, hon Nurov zu einer Erklärung an und stand von seinem Platz neben dem Wächter des Wissens auf, »ist ein Veteran des Gemetzels im Goldenen Palast, in dem die Zwerge versucht haben, den König zu töten.«
»Irgendwie haben ziemlich viele es auf den König abgesehen«, unterbrach Yatepa seinen Bruder, doch ein strenger Blick von Tara reichte, um ihn wieder zum Schweigen zu bringen.
»Also ist er ein Elf?«, wollte Yudra wissen und dachte zurück an den Brief, den sie in Hadamars Namen an den General geschrieben hatte. Sollte er wirklich ein Elf sein, würde er sich nicht um solche Kleinigkeiten kümmern und die Hurenhäuser würden weiter bestehen.
»Keineswegs. Er ist ein Mensch«, erklärte Nurov. »Einer der wenigen, die es jemals in den Goldenen Palast geschafft haben. Man munkelt, er habe zusammen mit seinem Bruder Misare angebetet. Die Göttin der Tücke und Herrin der Hexen«, fügte er mit einem Blick auf Yudra hinzu, die wenig begeistert das Gesicht verzog. »Als Belohnung dafür, dass die beiden Brüder ihr treu gedient hatten, schickte sie sie in den Goldenen Palast, wo sie immer loyal ihrem Herrscher gegenüber waren. Bis zu dem Tag, an dem Zenit seinen Bruder verriet und versuchte, ihn Misare zu opfern, um noch mehr Macht zu erlangen. Das war mitten im Kampf und sein Bruder wurde völlig überrumpelt, überlebte aber.«
»Und warum wurde Zenit dann nicht in den Kerker verbannt? Oder einfach hingerichtet?« Tara hatte die Stirn verwirrt gerunzelt und die Augen misstrauisch zusammengekniffen. Das Feuermal auf ihrer rechten Wange leuchtete rot auf, als die Flamme der Kerze auf dem Nachttisch flackerte.
»Man hielt es für eine bessere Strafe, ihn nach Zowuza zu schicken, wo er dazu verdammt ist, die Probleme kleiner Leute zu lösen. Das tut er aber, wie ihr seht, nicht«, erzählte Nurov weiter. »Er darf die Stadt nicht verlassen. Alle Wachen haben den Befehl erhalten, ihn sofort zu töten, sobald er es versucht. Innerhalb von Zowuza wird er aber respektiert und geachtet.«
»Ein General, der nicht kämpfen kann«, fasste Yatepa kurz zusammen.
»Also sehnt er sich danach, die Stadt zu verlassen und wieder mit dem Schwert in der Hand in eine Schlacht zu ziehen?«, fragte Tara auf einmal nachdenklich. Nurov nickte zustimmend und die Menschenfrau fuhr fort. Etwas lauter als vorher, denn von draußen ertönte das laute Scheppern eines beladenen Karrens. »Wenn wir ihn für uns gewinnen und ihm helfen, aus der Stadt rauszukommen, würde er sich uns doch bestimmt anschließen.«
»Woher möchtest du das wissen?«, fragte Nurov. Er schien nicht überzeugt und stemmte die Ellenbogen provozierend auf die Sessellehnen. »Er kämpft nicht mehr, er sorgt nicht mehr für Ordnung, vielleicht hat er einfach nur mit seinem früheren Leben abgeschlossen.«
»Wir werden sehen«, antwortete Tara kühl. »Aber wenn er noch ein richtiger General ist, wird er alles tun, um uns im Kampf gegen Gasoka zu helfen.«
»Obwohl wir nicht wissen, wo sie sich überhaupt befindet?« Yatepa sah die Jägerin skeptisch an, doch sie stieß ihm grob den Ellenbogen in die Seite. Yudra fragte sich, warum sie das tat. Eigentlich war sie doch mit dem Menschenmann befreundet. Die Dryade blickte unauffällig zu Beihun hinüber. Ihr Freund schmunzelte belustigt über Taras Benehmen, bevor er sich erhob.
»Von wo aus sie ihre Schatten lenkt wissen wir jetzt noch nicht, aber das werden wir noch herausfinden, ganz sicher. Bestimmt wird Tara irgendwann ihre Visionen richtig kontrollieren können. Sie braucht nur etwas Übung und einen Lehrer wie Cor.« Der Wächter des Wissens nickte der kleinen Seherin freundlich zu und sie erwiderte die Geste mit einem leichten Lächeln. »Solange er schläft, brauchen wir aber wirklich einen anderen Plan. Taras Idee mit General Zenit ist wirklich gut und es ist einen Versuch wert, da etwas nachzuforschen.«
»Wie soll das gehen? Der Schatten ist immer noch in der Bibliothek!«, wandte Nurov ein.
»Deswegen gehst du direkt zu dem General hin und klärst ihn vorsichtig über Gasoka und die Schatten auf. Vorsichtig! Ich habe gehört, dass er sehr aufbrausend sein kann, und möchte dich nicht in mehrere Teile zerlegt vor der Tür zur Bibliothek sehen. Biete ihm einen Kampf und unsere Unterstützung bei seiner Flucht aus Zowuza an, im Gegenzug schließt er sich uns an. Er war einst der General des Königs. Wenn er sich uns erst angeschlossen hat, werden andere ihm folgen.«
»Ich gehe alleine?«, fragte Nurov zaghaft.
»Nein, mit der Dryade.«
Yudras Kopf zuckte in seine Richtung und auch Yatepas Bruder starrte sie an. Ihre Blicke trafen sich und ein Schauer jagte ihren Rücken hinunter. Für einen kurzen Moment war es so kalt wie damals in der Eishöhle, als sie gesehen hatte, wie Maia den Seher Eleasar umgebracht hatte und ihr den Mord zugeschoben hatte. Das Gefühl verschwand jedoch sofort wieder, als Nurov seinen Blick auf den Boden richtete.
»Yatepa und Tara«, fuhr Beihun fort, »ihr begebt euch am besten zu dem Fahndungsbild. Es wäre gut, wenn wir wissen, wie der Mörder aussieht und heißt, sollten wir ihn im Perlenwald suchen müssen. Sicher sind dort nach dem Brand viele Plünderer unterwegs. Nicht, dass wir den Falschen um Hilfe bitten. Das würde ziemlich blutig ausgehen.«
»Und wenn er es nicht ist?«, fragte Nurov.
»Dann ist er einfach nur ein Mörder, um den wir uns nicht weiter kümmern müssen.« Der Wächter des Wissens setzte sich wieder in seinen Sessel und faltete die Hände ordentlich zusammen. Seine Augen leuchteten so hell wie die Symbole, die auf dem Rahmen der Tür prangten und den Schatten von ihnen fern hielten. »Ich selbst bleibe hier und passe auf Cor auf. Nach einiger Zeit muss der Schutzzauber erneuert werden und weil ich der einzige Magiebegabte zurzeit bin, fällt diese Aufgabe mir zu.« Er sah in die Runde. »Sind alle mit dem bisherigen Plan einverstanden?«
Als niemand etwas einzuwenden hatte, stand Yudra auf und wollte schon zu der Leiter gehen und hinuntersteigen, doch sie bemerkte, wie der Sohn des Denkers unmerklich den Kopf schüttelte. Also wartete sie, bis Tara und Yatepa das Zimmer verlassen hatten und Nurov ebenfalls mit einem Fuß auf der obersten Leitersprosse stand. Dann trat die Dryade zu ihrem Freund.
»Warum sollte ich warten?«, fragte sie ihn.
»Ich rate dir, den Besuch bei General Zenit Schwarzbart etwas hinauszuzögern. Der Trank, den du genommen hast, hat gerade erst angefangen zu wirken. Es wäre nicht gut, wenn der General ein Auge auf dich wirft.«
»Das weiß ich. Ich bin nicht mehr die kleine Fee von damals.«
Beihun lächelte belustigt. »Das wirst du für mich aber immer bleiben.« Bevor die Dryade protestieren konnte, holte er aus seinem Geldbeutel einige goldene Münzen heraus und drückte sie ihr in die Hand. »Zwei Arc sollten ausreichen, damit du dir dein Quay-Tattoo erneuern kannst. Schließlich bin ich nicht immer in deiner Nähe, wenn du in Schwierigkeiten steckst. Und«, fügte er noch schnell hinzu, »verrate dem General nicht, wo wir den Mörder vermuten. Ich weiß, dass dein Sinn für Gerechtigkeit dich dazu drängt, für die Strafe zu sorgen, die er verdient hat, aber er ist vielleicht wichtig.«
Die Erdfee schmunzelte und schwieg über die letzte Bitte. Das Geld verstaute sie in dem Lederband, in dem auch Hadamars Dolch steckte. Bei der Anfertigung dieses strammen Haltestreifens hatte sie einige verborgene Taschen eingenäht, in der sie allerlei Kleinigkeiten verstecken konnte. So auch die zwei Arc. Dann folgte sie Nurov, um mithilfe der Leiter die Gasse zwischen der Bibliothek und dem Wirtshaus Zum brodelnden Giftkessel zu erreichen. Das war der einzige Weg, auf dem sie zurzeit das Gebäude verlassen und betreten konnten, denn der Schatten war zu gefährlich. Keiner wusste, was er unten trieb. Das Buch der sechsten Pixie musste immer noch offen auf einem der Tische liegen, denn so wie Beihun ihr erzählt hatte, war keine Zeit gewesen, es in Sicherheit zu bringen. Zum Glück war es abends passiert und alle Besucher und Angestellten der Bibliothek waren schon nach Hause gegangen. Hoffentlich fügte der Schatten den Büchern nicht allzu viel Schaden zu, doch bei diesen unnatürlichen Geräuschen, die ab und zu zu ihnen drangen...
Manchmal wütete er direkt vor ihrer Tür und versuchte, in ihr Zimmer einzudringen. Nachts hörte man sein Zischen und Fauchen, doch er konnte das Gebäude nicht verlassen. Beihun hatte ihr erzählt, dass das Gerüst der Bibliothek aus Pik-Metall erbaut war, was alle magischen Geschöpfe daran hinderte, zwischen den Bücherregalen Magie zu wirken. Das Zimmer, in dem sie Rat gehalten hatten, war das einzige ohne diesen Schutz. Es war anscheinend vor einigen Jahren zusammengestürzt und beim Neubau hatte man auf das teure Pik-Metall verzichtet. Ein Vorteil für sie, denn so konnte der Schatten nicht hinaus und Yudra und ihre Gefährten konnten doch in dem Gebäude übernachten. Beihun hatte die Tür mit einem Symbolzauber geschützt, von dem jedes Geschöpf, egal ob Mensch, Fee oder Geist, abprallte. Es wirkte zwar nur einseitig, sie könnten also jederzeit die Bibliothek betreten, doch das würde gewiss keiner tun. Wie genau Beihun den Zauber zustande gebracht hatte, konnte die Erdfee allerdings nicht sagen. Schließlich hatte er selber behauptet, er könne mit seinem Maneco-Stab nur geistige Dinge beeinflussen.
Die Dryade holte tief Luft und trat an das Fenster. Yatepas Bruder hatte den Boden bereits erreicht und wartete, an die Ziegelwand des Giftkessels gelehnt, auf sie. Yudra sah nach links zum Gatter des Hinterhofs, wo Cabricho und Kanesso fröhlich die Mähnen nach hinten warfen und mit ihren Hufen stampften. Ihr Fell glänzte im Schein der Sonne, die dort gnadenlos auf den Boden schien. Yudra lächelte. Beihun und sie hatten die beiden Hengste gleich nach ihrem Abenteuer im Hirsch aus Hadamars Ställen getrieben. Der Knecht dort war sehr leicht zu bestechen gewesen. Schon zwei Urur hatten gereicht, ein weiterer, damit er schwieg.
Hastig kletterte sie über die Fensterbank nach draußen. Sie hatte immer noch das Kleid aus Hadamars Haus an, hatte sich nun aber eine Hose zurechtgeschnitten, die sie darunter trug. So kam sie jeden Augenblick an den Dolch heran, allein das zählte. Ob der Mann mit der blauen Tunika schon aufgewacht war? Bestimmt nicht, sonst hätten seine Soldaten schon lange die Bibliothek gestürmt. Aber was Samues und Seumas wohl trieben? Die beiden waren zurzeit die einzigen, die wussten, wer die Nacht mit Hadamar verbracht hatte. Warum suchten sie nicht nach ihr? Schließlich hatte sie ihren Anführer in einen nicht enden wollenden Schlaf geschickt.
Die Dryade machte sich auf den Weg nach unten und behielt dabei das rege Treiben auf der Straße im Auge, die quer zu der Gasse verlief. Es liegt noch ein langer Weg vor uns. Erst zu demjenigen mit dem Segen der Geister, dann zu Gasoka, möge ihre Seele nie den Weg in Jeovis Reich finden.
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Mit diesem Kapitel bin ich immer noch nicht ganz zufrieden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich hier noch etwas ändert, ist also ziemlich hoch O.o
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