Die Schwärze

»›Wie alt ist der Silberwald, Vater?‹

›Er ist so alt wie die Wolkenleser.‹

›Und wie alt sind die Wolkenleser?‹

›Drei Ewigkeiten.‹

›Und wie lange sind drei Ewigkeiten?‹

›Das weiß ich nicht, aber ich spüre es.

Es ist dieses Gefühl, wenn du glaubst, es gibt keine Zeit.‹«

AUS DEM KINDERMÄRCHEN

»EINOBI, DER WEISE«

Unheimliche Stille hatte sich über den Silberwald gelegt. Nichts rührte sich. Kein Laut drang aus den schwarzen Schatten unter den Bäumen. Nur das Rauschen der Blätter im sanft wehenden Wind war zu hören. In Nächten wie diesen ritten die Geister der Toten mit ihren klappernden Rüstungen auf jenen Böen, sagte man. Sicher war das dummer Aberglaube und selbst wenn nicht – der Wind war sehr schwach.

Professor Aktur sah zum Himmel hinauf. Das Licht des roten Mondes Keo wurde von den dichten Wolken zurückgehalten. Trotzdem sollte er sehen können, wann es soweit war. Wann genau der zweite und dann der dritte Mond am Himmel erscheinen würden. Eob und der silberne Mond ohne Namen.

Dieses seltene Ereignis geschah nur ein Mal in hundert Jahren. Und nur dann wäre es möglich, die Baumgeister in ihrer wahren Gestalt zu sehen. Diese mysteriösen Geschöpfe sollten ihren Bäumen zum Verwechseln ähnlich sein, sagte man, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie so etwas möglich war. In Yaari, seiner Geburtsstadt, gab es nur kleine und knotige Skeb-Bäume, die nicht schön anzusehen waren, aber dafür essbare Nüsse als Früchte trugen. Doch hier, vor dem Silberwald, fühlte der Elf sich erdrückt von der Macht, die die hölzernen Riesen ausstrahlten. Ihre Rinde schimmerte rötlich im gedämpften Mondlicht und ihre mächtigen Äste wiegten sich unter dem Gewicht der Blätter hin und her. Jeder Baum schien eine eigene Geschichte erzählen wollen. Die Baumgeister würden diese Geschichten heute hinaus in die Welt singen.

Auch Mione, dachte Aktur. Sofort begann sein Herz schneller zu schlagen. Als er ihre Stimme das erste Mal vernommen hatte, war er einfach nur verzaubert gewesen. Das Lied, das sie damals gesungen hatte, kam ihm wieder in den Sinn:

»Singe süß in der Nacht,

Wenn drei Monde am Himmel stehen.

Sie geben mir Macht,

Geben mir Licht und Kraft

In meiner Birke.

Man sieht mich nur,

Wenn ich es will und

Wenn drei Monde am Himmel stehen.

Komm wieder in hundert Jahren.

Du wirst mich sehen und verstehen,

Warum ich mich heut' versteckt,

Obwohl drei Monde am Himmel stehen.«

Aktur summte die Melodie leise vor sich hin, während er weiter hinauf in die Nacht blickte. Immer noch war der Himmel von düsteren Wolken bedeckt, doch an einigen Stellen brach sich das Licht der hellsten Sterne und ließ den Wasserdampf funkeln wie ein Diamant. Es hatte ihn fünf Tage gekostet von Ihany, der Stadt, in der er sein Labor errichtet hatte, an den Rand des Silberwaldes zu gelangen. Er hatte den Umweg an den Südufern des Sees der Leidenschaft entlang genommen, denn im Norden war es zu gefährlich geworden. Wie viel sich seit seiner ersten Begegnung mit Mione verändert hatte... Er verlor sich in seinen Erinnerungen.

Damals hatte er sich geschworen, in hundert Jahren wieder an den Ort wiederzukehren, wo er ihre Stimme gehört hatte. Das Flachland weiter nördlich vor dem Silberwald war es gewesen. Er hatte eigentlich nur ein Irrlicht fangen wollen, um es zu verkaufen und damit seine Forschungen zu finanzieren, doch das war nicht mehr nötig gewesen. Zwar hatte keiner der Baumgeister seine wahre Gestalt angenommen, doch Miones Lied hatte ihm anscheinend Glück gebracht, denn noch in derselben Nacht hatte er einen Geldbeutel voll mit Arc-Münzen gefunden. Genau hier, als er ihrer Stimme in Richtung Süden gefolgt war.

Plötzlich rissen die Wolken auf und rote Strahlen fielen auf die Landschaft. Aktur sah zum Wald hinüber. Dort war noch immer alles dunkel. Nur die obersten Blätter der Bäume reflektierten das Mondlicht.

Hoffnungsvoll stand der Professor auf und blickte wieder zum Himmel hoch. Aus dem Augenwinkel vernahm er ein grünliches Glimmen. Der zweite Mond Eob würde bald aufgehen. Zur gleichen Zeit ertönte ein hoher, langanhaltender Ton aus dem Silberwald. Es war, als würden alle Bäume gleichzeitig anfangen zu singen.

Aktur schloss die Augen und ließ sich treiben. Er gab sich voll und ganz dem Wald hin. Er wollte Mione hören, ihre Stimme. Sie mit eigenen Augen sehen. Ihr sanft durch die Haare streichen, wenn das denn möglich war.

Plötzlich erhob sich eine einzelne tiefe Stimme über den immer noch in der Luft schwebenden Ton. Sie hörte sich traurig, so unglaublich traurig an. Er verstand weder die Sprache noch die Botschaft dahinter, aber sein Herz wurde schwer wie Eisen. Der Professor erinnerte sich. Letztes Mal hatte es genauso angefangen. Gleich würde Mione singen. Die Baumgeister änderten nie ihre Reihenfolge. Er würde ihre Stimme unter Tausenden erkennen, so intensiv hatte sie sich in sein Gedächtnis eingeprägt.

Die tiefe Stimme verstummte und eine andere setzte ein. Doch etwas war falsch. Aktur riss entsetzt die Augen auf. Es ist nicht Mione, die da singt, es ist jemand anderes! Die gleiche Sprache: Vahisisch, aber nicht sie!

»Weit hinaus, weit hinaus

In das sterbende Gold

Tragen wir das Lied des Blaus,

Das hoch über dem Donner grollt.

Die Wolken hängen tief heut' Nacht

Und bereiten sich vor für die letzte Schlacht.

Das Ende kommt, es ist schon nah,

Denn niemand weiß, was geschah.

Was geschah, was einst gewesen,

Es erheben sich die Wesen.

Sie kommen in tiefer Nacht,

Wenn kein Feuer ist entfacht

Und werden beginnen die letzte Schlacht.

Donner grollt und dunkles Blau kracht.«

Der Professor schaute hektisch zum Himmel und blendete das Lied der Baumgeister aus. Mittlerweile war Eob vollständig zwischen den Sternen zu sehen und die ersten Strahlen des silbernen Mondes drangen über den Rand des Horizonts. Die hohen Gipfel des Gion-Gebirges waren nur Schattenrisse vor dem letzten der drei Gestirne.

»Nein, nein, nein!«, rief Aktur, nahm ein kleines Notizbuch aus der Innentasche seines Mantels und blätterte darin, bis er auf die Seite stieß, die er suchte. Dort hatte er sich alles notiert, was er über diese besondere Nacht gefunden hatte. Mit zitternden Fingern blätterte er weiter. Seite um Seite. Bilder von Eob und Keo wurden von langen Texten abgelöst. Dazwischen immer wieder ein Wort: Nak'an.

Ich muss etwas übersehen haben, etwas Wichtiges. Warum ist sie sonst nicht da?

Aktur schmiss gereizt sein Notizbuch weg, das ohne ein Geräusch im Silberwald verschwand. Er sah nochmal zum Himmel. Das silberne Licht des namenlosen Mondes, das grüne Licht Eobs und das rote von Keo vermischten sich und bildeten eine unbeschreiblich schöne Farbe. Nun war es so weit. Der Augenblick auf den er hundert Jahre gewartet hatte war gekommen, aber ohne Mione.

Der Professor schlug die Hände vors Gesicht. Eine Geste, die ihm half, angestrengt nachzudenken. Mit geschlossenen Augen und in der Dunkelheit konnte er sich besser konzentrieren.

Das Lied der Baumgeister drang in seine Ohren. Es war unbeschreiblich schön. Wenn er ganz genau hinhörte, konnte er auch die Stimme erlauschen, die auf Vahisisch sang, der Sprache der Elfen. Es war eine weibliche Stimme. Die, die an zweiter Stelle gesungen hatte, an der eigentlich Mione hätte sein müssen. Ihr Lied war voller Trauer und Hoffnungslosigkeit. Akturs Herz wurde schwer. Wie kann man so etwas Schönes und gleichzeitig Trauriges singen.

»Rot glühende Augen auf silbernem Stahl,

Dazwischen Knochen blass und fahl.

Hinauf in die Berge oder hinab ins Tal,

Wirf eine Münze, du hast die Wahl.

Singt, Geister, laut und klar

Über die Ebene grün und weit,

Denn bald wird alles nur furchtbar

Und herrschen wird die Dunkelheit.«

Plötzlich fuhr ein sanfter Windhauch über seine Wange. Jemand flüsterte etwas in sein Ohr, das er nicht verstand. Der Elf öffnete vorsichtig die Augen und blickte in das Gesicht eines Baumgeistes.

Es war eine junge Frau, die vor ihm schwebte. Sie besaß keinen richtigen Umriss, nur ganz verschwommen konnte er ihre Beine erkennen. Um den Geist herum waberten grüne Nebelschleier. Ihr hüftlanges Haar war ebenfalls grün und sie hatte Blätter und Blütenknospen hineingeflochten. Lange, drahtige Wimpern umrahmten ihre türkisen Augen. Sie lächelte nicht, streckte ihm nur ihre schlanken Finger entgegen.

Aktur blinzelte sie verwirrt an, nahm aber trotzdem ihre Hand. Sie fühlte sich kühl an. Wie das Wasser im See der Leidenschaft, an dem Ihany lag. Der Baumgeist nickte ihm leicht zu und schwebte auf den Silberwald zu, wobei sie ihn mit sich zerrte. Sie sieht nicht aus wie ein Baum, überlegte er. Eher wie ein Mensch.

Der Elf schaute sich um, während er der geisterhaften Frau folgte. Zwischen den Bäumen erschienen langsam weitere Baumgeister, die ihn nicht weiter beachteten, sondern ihr Lied sangen. Nur einige wandten sich neugierig nach ihm um. Einer von ihnen, in der Gestalt eines alten Mannes mit knorrigen Ästen als Bart und Flechten, die seine ganze Haut überzogen, zog seine Stirn kraus. Seine tiefe, knarzende Stimme mischte sich zwischen die anderen Singenden. Der sieht schon eher aus wie ein Baum. Sein Lied hörte sich in den Ohren des Elfen grässlich an, obwohl es perfekt zu den gesungenen Worten einer Frau passte, die plötzlich neben dem Baumgeist aufgetaucht war. Aktur blinzelte und sofort war die Gestalt verschwunden. Konnte es sein, dass der Gesang der Baumgeister wie der Rausch einer Droge war, bei der man sich auch allerlei Sachen einbildete? Er schüttelte den Kopf.

Schließlich umfingen ihn die Schatten des Waldes. An einigen Stellen drang das Licht der drei Monde durch das Blätterdach. Aktur entdeckte eine kleine Knospe, die sich zu einer wunderschönen violetten Blume öffnete, sobald ein silberner Lichtstrahl sie berührte. Mitten in einem dichten Moosteppich rollte sich ein großer Farn in Sekundenschnelle aus. Seine kleinen Blätter streckten sich den Bäumen entgegen. Glühwürmchen tanzten in der Luft. Überall glitzerte und funkelte es trotz der Dunkelheit. Über ihm in den Bäumen rekelten sich kleine Wesen, die wie Eichhörnchen aussahen, nur dass sie drei Schwänze und Streifen im roten Fell hatten. So etwas hatte er noch nie gesehen, nicht in all den Jahren, die er hergekommen war, um seltene Tiere zu fangen.

Der Professor kam an einer dichten Dornenhecke vorbei, hinter der tiefe Finsternis lag. Ein unheilvolles Rascheln drang aus der Dunkelheit, dann ein Knurren, das Aktur durch Mark und Bein ging. Sofort beschleunigte der Baumgeist das Tempo und wurde wieder langsamer, sobald sie einen steinernen Torbogen passiert hatten. Die Steine waren von Moos überwuchert und wurden nur noch von Efeuranken zusammengehalten, die daran hochwuchsen. Als er hindurch trat, überkam ihn eine seltsame Übelkeit, doch das Gefühl war schnell wieder vorbei.

Die Frau blieb stehen und ließ Akturs Hand los. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf ein kleines, flackerndes Licht, das zwischen zwei Eichen in der Luft schwebte. Es fing an, aufgeregt hin und her zu hüpfen, sobald es merkte, dass die ganze Aufmerksamkeit auf es gerichtet war.

Aktur verstand: Er sollte dem Licht folgen. Doch er fühlte sich unbehaglich und zögerte. Kann ich ihnen trauen? Der Elf sah dem Baumgeist in die Augen und versuchte, daraus etwas zu lesen. Doch alles, was er sah, war die trotz der Dunkelheit schmale Pupille inmitten von Türkis.

Noch einmal deutete die Frau mit dem Finger auf das Licht, diesmal etwas dringlicher. »Mehra silee!«, sagte sie. »Irrlicht!«

Aktur kannte die Geschichten von Irrlichtern. Sie wurden von Issyd, der Königin des Lichts erschaffen, um Wanderer durch düstere Gebiete zu Schätzen zu führen. Meistens wurden sie jedoch enttäuscht, da sie nicht das fanden, was sie sich erhofft hatten. War das jetzt auch so?

Der Professor sah zu dem flackernden Irrlicht, zu dem Baumgeist und wieder zurück.

»Mehra silee!«, befahl die Frau und sah zum Blätterdach hoch, als sehe sie dort etwas, was er nicht erkannte. Gerade wollte Aktur fragen, was denn los sei, als sie plötzlich zusammenzuckte. Der Baumgeist riss erschrocken die Augen auf und ihr Mund öffnete sich zu einem stillen Schrei. Ein Zittern lief durch ihren Körper und sie presste die rechte Hand auf die Stelle, wo das Herz saß.

Das grüne Licht um den Baumgeist herum färbte sich allmählich dunkler. Ein schwarzer Fleck quoll unter ihrer Hand hervor und breitete sich auf ihrem Körper aus. Der Elf taumelte zurück. Die Schwärze schien zu pulsieren. Sie war lebendig. Die Frau war nun vollkommen von der Dunkelheit bedeckt und jegliches Grün war aus ihrem Antlitz verschwunden.

Langsam kam der Professor wieder auf den Baumgeist zu und streckte die rechte Hand aus, um sie zu berühren. Seine Finger fuhren über kalte leblose Haut. Sie schwebte immer noch über dem Boden wie eine schwarze Gewitterwolke.

Plötzlich jagte ein unerträglicher Schmerz durch Akturs Finger seinen Arm hoch. Er schrie laut auf und nahm die Hand sofort weg. Sobald er das getan hatte, verschwand der Schmerz. Verwundert betrachtete er seine Hand. Erst dachte der Elf, dass sich nichts verändert hatte, doch bei näherem Hinsehen bemerkte er einen pulsierenden schwarzen Fleck auf der Innenseite seines Handgelenks, gerade mal so groß wie ein Muttermal. Während er noch hinschaute, veränderte er sich. Der Fleck wuchs in Sekundenschnelle auf die Größe einer Weintraube, begleitet von einem stechenden Schmerz.

Aktur biss die Zähne zusammen und unterdrückte einen Schrei. Die Schwärze pulsierte weiter, hatte ihre Größe aber beibehalten. Die Haut um die Stelle herum hatte sich etwas grau verfärbt.

Was ist das? Er wandte den Blick von seinem Handgelenk ab und sah zu dem toten Baumgeist, der immer noch in der Luft schwebte, jedoch langsam an einigen Stellen immer durchsichtiger wurde. Und was ist mit ihr passiert?

Der Professor riss einen Stoffstreifen von seinem Hemd ab, das er unter dem Mantel trug, den er nun jedoch achtlos wegschmiss. Er krempelte den Ärmel seines Hemdes hoch und band den Stoff um sein rechtes Handgelenk. Zwar würde das wahrscheinlich nicht wirklich helfen, aber dann müsste er nicht immer auf diese Stelle starren.

Dann machte Aktur einen großen Bogen um die schwarze Frau, sodass er das Irrlicht besser im Blick hatte, das immer noch zwischen den beiden großen Eichen schwebte. Es hatte sich nicht von der Stelle bewegt, nachdem der Baumgeist gestorben und von dieser seltsamen Schwärze heimgesucht worden war.

Ich muss ihm folgen. Den Weg zurück werde ich sowieso nicht finden. Im schlimmsten Fall werde ich von dem angegriffen, was hinter der Dornenhecke geknurrt hat.

Der Elf trat einen Schritt auf das Irrlicht zu. Das kleine Licht flackerte kurz auf, verschwand für einige Sekunden und tauchte an einer Stelle tiefer im Wald wieder auf. Aktur atmete tief durch und ging hinter dem Irrlicht her, das immer wieder verschwand und neu aufleuchtete.

Es führte ihn immer weiter in den Wald hinein. Mittlerweile drang das Licht der Monde gar nicht mehr durch das Blätterdach. Stattdessen wurden die Pflanzen und Tiere immer heller. Von ihnen ging ein unheimliches Leuchten aus, das so hell war, dass der Elf manchmal sogar dachte, das Licht der Monde sei auf irgendeine Weise doch noch auf den Waldboden durchgedrungen.

Er entdeckte eine Art fliegende Qualle, die sich mit ihren feinen, hellblau glitzernden Fangarmen an den Ästen der Bäume festhielt. Andere schwebten einfach nur regungslos in der Luft und blinkten, als wollten sie seine ganze Aufmerksamkeit auf sich lenken, was ihnen auch gelang.

Aktur sah auch wieder die Eichhörnchen mit den drei Schwänzen. Doch jetzt hingen sie kopfüber von den vielen Bäumen, an denen sie sich mit ihren Schwänzen festhielten und folgten jeder seiner Bewegungen mit ihren kleinen, schwarzen Knopfaugen. Er streckte die Hand aus, um eines von ihnen zu berühren, doch sofort fing eine der fliegenden Quallen an, noch schneller zu blinken. Eine andere wand ihre Fangarme um seine Finger und zerrte sie von dem Eichhörnchen weg, das mit wehenden Schwänzen in der Baumkrone verschwand.

Die Qualle ließ ihn los und gestikulierte wild mit den Tentakeln herum, gab es dann aber auf, sobald sie bemerkt, dass der Elf sie nicht verstand, und schwebte davon.

Aktur folgte dem Irrlicht weiter. Der Wald wurde immer dichter. Jetzt leuchtete sogar das Moos, das an den Wurzeln der Bäume und morschen Baumstämmen wuchs.

Der Professor hielt verwirrt inne, als er einen Moosteppich auf einem umgefallenen Baumstamm bemerkte, der in der Mitte abrupt abbrach und nicht leuchtete. Erst dachte er, die Schwärze von dem Baumgeist hatte sich bis hierher ausgebreitet, doch er beruhigte sich wieder, als sich ein Tier von dem leuchtenden Moos löste.

Es war ein hundeähnliches Wesen mit Schlappohren. Sein Fell war moosgrün und hing in verschiedenen Längen an der Seite runter. Die Augen konnte Aktur nicht erkennen, weil sie unter dem langen Fell versteckt waren. Trotzdem schien das Tier zu wissen, wo er sich gerade befand und trabte auf ihn zu.

Die Schlappohren bewegten sich jeden Schritt fröhlich auf und ab. Das Wesen blieb direkt vor dem Elfen stehen und hob den Kopf zu ihm hoch. Ein schnüffelndes Geräusch ertönte von daher, wo vermutlich die Nase unter dem Fell verborgen war. Schließlich bellte das Tier einmal, streckte hechelnd die Zunge raus und sprang aufgeregt vor ihm hin und her.

»Ist ja gut«, sagte Aktur. Er wusste nicht recht, was er von diesem Hund denken sollte, also beugte er sich einfach zu ihm runter und strich ihm über den Rücken. Das Fell war sehr weich; anscheinend pflegte er es jeden Tag.

Das Tier hielt inne, drückte sich an die Hand des Professors und hechelte weiter. Dieser wollte es nochmal streicheln, doch in diesem Moment fing eine der fliegenden Quallen wieder an zu blinken. Eine andere färbte sich leuchtend rot.

Der Elf schaute zu dem Irrlicht, das ebenfalls unruhig flackerte. Plötzlich durchzuckte ihn ein stechender Schmerz, der von seinem rechten Handgelenk ausging. Aktur schrie leise auf, riss den Stoffstreifen ab und starrte entsetzt auf den Anblick, der sich ihm bot.

Der schwarze Fleck hatte sich bis zu seiner Handfläche und der Hälfte seines Unterarms ausgebreitet. Die Schwärze pulsierte nach wie vor. Der Elf strich dem Hund mit der linken Hand als Abschied über die Schnauze, erhob sich und folgte dem Irrlicht weiter. Mit zunehmendem Entsetzen beobachtete er, wie sein Handgelenk allmählich durchsichtig wurde. Er konnte sehen, wie seine Stiefel sich über das Gras bewegten.

Was ist das? Kann ich dadurch sterben?

Aktur ging schneller und auch das Irrlicht vor ihm tauchte in immer größeren Abschnitten vor ihm auf. Nach einer ganzen Weile drang das Rauschen eines Flusses an sein Ohr. Mittlerweile hatte sich der durchsichtige Bereich seiner Hand verdoppelt.

Schließlich verschwand das Irrlicht vollends und tauchte nicht wieder auf. Der Elf trat durch ein großes Büschel Farnkraut und fand sich auf einer kleinen Lichtung wieder. Die Baumkronen über ihm hatten sich gelichtet, sodass das Licht aller drei Monde auf einen kreisrunden Teich in der Mitte der Lichtung fiel. Ein Fluss führte durch das Schilf und ergoss sich in einem kleinen Wasserfall in den Teich. Seichte Wellen brandeten ans Ufer und wuschen jedes Mal etwas von dem weißen Sand weg.

In dem dichten Schilf, das jedoch nur auf der ihm gegenüberliegenden Seite des Teichs wuchs, konnte Aktur die Umrisse von Nestern und Vögeln erkennen. Wie zur Bestätigung flog ein kleiner, braun-schwarzer Quellensänger mit einem schrillen Warnschrei hoch und verschwand in dem umliegenden Wald.

Der Elf trat mit vorsichtigen Schritten auf den Teich zu, kniete sich nieder und tunkte seine Hände in das kühle Wasser. Hoffentlich geht dann der schwarze Fleck weg.

Doch nichts geschah. Aktur wollte gerade wieder aufstehen, als ein erneuter Schmerz ihn durchzuckte. Diesmal schrie er nicht auf. Die Schwärze hatte nun seinen ganzen Unterarm befallen und fraß sich bis zu seinem Ellenbogen. Sie pulsierte immer noch, doch durch das Wasser konnte er das zum Glück nicht so gut erkennen.

Plötzlich kräuselte sich das Wasser des Teichs an mehreren Stellen. Blasen stiegen auf und platzten an der Oberfläche. Süßlicher Geruch lag in der Luft. Er erinnerte ihn an die Lilien, die im Garten des Fürsten von Xiza wuchsen. Als er zwanzig Jahre alt war hatte sein Vater ihn mit in die südlichste der Städte am See der Leidenschaft mitgenommen. Seitdem waren hundertvierzig Jahre vergangen.

Aktur erhob sich und schaute gebannt auf den Teich, bereit davonzulaufen, sobald Gefahr auftauchte. Nun konnte er unter dem Wasser schon dunkle Schemen ausmachen, die sich langsam der Oberfläche näherten. Alle würden direkt in seiner Nähe auftauchen. Der Elf trat ein paar Schritte zurück und wartete. Er wandte seinen Blick nicht von dem Teich ab.

Da erschien die erste Gestalt. Es war eine Fee, eher gesagt eine Nixe. In ihren langen, violetten Haaren hatten sich dunkelgrüne Algen verfangen, die nach unten hin dünner und ausgefranster wurden. Sie hatte große, hellblaue Augen mit dunkleren Sprenkeln. An ihrem Hals konnte der Elf Kiemen erkennen, die sich bei jedem Luftzug, den sie tat, leicht aufwölbten.

Hinter ihr tauchten zwei weitere Nixen auf. Beide hatten feuerrote Haare, die normalerweise in Locken abstehen würden, jetzt jedoch nass an ihren Köpfen klebten. Die restlichen Wasserfeen wollten offenbar nicht gesehen werden, denn mehr tauchten nicht auf.

Die erste Nixe, die nun langsam auf ihn zu schwamm und kurz vor dem Ufer anhielt, schaute ihn forschend an. Aktur rührte sich nicht. Warum hat das Irrlicht mich hierhin geführt? Ist Mione hier? Aber sie ist doch ein Baumgeist.

»Sie ist nicht hier, Aktur«, sagte die Nixe, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Du wurdest hergeführt, damit wir es dir erklären. So hat sie es gewollt.«

Der Elf zuckte erschrocken zusammen, als sie anfing zu sprechen. Ihre Stimme hörte sich rau und alt an, doch sie selbst sah jung aus.

Mione ist nicht hier? Warum? Warum hat sie gesungen, dass ich sie sehen würde?

»Du solltest laut sprechen, Elf. Es kostet mich viel Kraft, deine Gedanken zu lesen«, bat die Wasserfee und schwamm näher zum Ufer. »So kann ich meine Stimme wieder verjüngen.«

Aktur wusste nicht, was er sagen sollte. Er war noch nie einer richtigen Nixe begegnet. Nur in Büchern hatte er von ihnen gelesen und ihre Abbildungen gesehen. Also fragte er einfach: »Wie alt bist du eigentlich? Und wie heißt du?«

Eine der Rothaarigen fauchte laut auf und warf den Kopf zornig herum. Sie zischte der Nixe vor ihm etwas zu, woraufhin diese sich umdrehte, eine Hand aus dem Wasser hob und damit wütend auf die Oberfläche klatschte. Dabei fauchte sie laut und zeigte spitze Zähne, die Aktur bei ihr nicht einmal vermutet hatte. Die beiden Rothaarigen wichen eingeschüchtert zurück, tauchten unter und verschwanden.

»Ich entschuldige mich für meine Schwestern«, sagte die Nixe, nun wieder mit normaler Stimme. »Sie wissen nicht, um was es hier geht. Deine Fragen kann ich dir nicht beantworten. Der Name einer Fee ist geheim. Würde ich ihn dir sagen, müsste ich alles tun, was du mir sagst.« Sie lächelte entschuldigend.

»Wie soll ich dich dann nennen?«

Die Nixe überlegte kurz. Schließlich antwortete sie: »Meine Schwestern nennen mich Arif. So kannst du mich auch nennen.«

Aktur nickte. Feen und ihre Namen. Er wusste, dass es ihnen nicht erlaubt war, ihren wahren Namen zu nennen. Jeovi, die Erschafferin allen Lebens selbst hatte es ihnen verboten, bevor sie die Schwelle zum Großen Tor überschritten. Das Tor, durch das alle Lebewesen und Völker der Goldenen Welt hierher gelangt waren.

»Meine Schwestern haben mir gesagt, dass sie eine Dunkelheit wahrgenommen haben«, fuhr Arif fort. Sie streckte die Hand aus. »Zeige mir deinen Arm.«

Der Elf zögerte, tat aber, was man ihm gesagt hatte. Die Nixe riss die Augen weit auf und nahm sofort die Hand weg, als sie das ganze Ausmaß der Schwärze sah. Sie murmelte etwas in ihrer Sprache und fuchtelte wild mit ihren Händen rum. Nach einer Weile beruhigte sie sich wieder, stieß sich aber vom Ufer ab und ließ sich in die Mitte des Teichs treiben. Durch das dunkle Wasser konnte Aktur nur den Umriss ihrer farbigen Schwanzflosse erkennen.

»Ich kann dir nicht helfen«, erklärte Arif entschuldigend. Der Professor sah etwas in ihren Augen, das ihn erschaudern ließ. Sie hatte Angst vor ihm, vor der Schwärze, die seinen Arm befallen hatte.

»Du musst zu den Schicksalsschwestern gehen. Nur sie können dir noch helfen. Sie kennen mächtigere Zauber als ich.« Die Wasserfee deutete mit einer Hand auf den kleinen Wasserfall, durch den der Fluss sich in den Teich ergoss. »Folge dem Fluss stromaufwärts und du wirst zum Meer kommen. Wenn du untertauchst und dem Pfad der Muscheln folgst, gelangst du zu dem Eingang einer Höhle. Dort werden sie dich schon erwarten.« Arif senkte die Hand. »Und fass auf deinem Weg nichts an.«

Noch einmal sah die Nixe ihm in die Augen und ließ sich dann ins Wasser sinken. Ihr dunkler Schatten verschwand in der Tiefe und Aktur blieb alleine am Ufer zurück. Und was ist jetzt mit Mione? Was ist mit ihr passiert? Warum ist diese Schwärze so gefährlich und wo kommt sie her?

Der Elf ging am Teichufer entlang bis zum Fluss und schritt entschlossenen Schrittes voran. Er zuckte wieder zusammen, als der schwarze Fleck sich weiter ausdehnte. Diesmal bis zu seiner Schulter, wie er feststellte, als er sein Hemd aufknöpfte. Bald würde die Schwärze seine Brust erreichen. Und sein Herz.

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Das Bild habe ich leider etwas falsch gezeichnet XD Eigentlich gehen die Monde – wie beschrieben – hinter dem Gion-Gebirge auf. Auf dem Bild jedoch hinter dem Silberwald.

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