Die Meuchlerin

»Dies ist ein Bündnis für die Ewigkeit.

Wann immer eure Stämme in Not sind,

werde ich zu Hilfe eilen.

Das verspreche ich euch.«

KÖNIG ZEFALO,

DREIUNDZWANZIGSTER KÖNIG VON ALARCHIA,

KURZ NACH DEM ERSTEN PERLENWALDBRAND

Ihre Schritte waren lautlos. Wie eine Raubkatze auf der Jagd schlich Die Schneeeule den zwei Elfen hinterher. Sie hatte das äußerst aufschlussreiche Gespräch zwischen den beiden belauscht und war zu dem Schluss gekommen, dass sie den Goldenen Palast nie erreichen durften. Wenn sie dem König berichteten, was in Wirklichkeit mit den Adlerreitern und Himmelskriegern – und insbesondere mit dem Prinzen – geschehen war, wäre die Herrin dazu gezwungen, sofort anzugreifen. Doch noch war sie nicht bereit. Jedenfalls hatte sie den endgültigen Befehl noch nicht gegeben. Wenigstens hatte Die Schneeeule erfahren, dass sie wegen des Scheiterns ihres Auftrages nicht hingerichtet werden würde. Sie brauchte sich nicht mehr um sein Schicksal zu kümmern, weil die Herrin es bereits für sie getan hatte. Aber etwas brauchte sie trotzdem, etwas Handfestes, um wieder stolz vor ihrer Herrin knien zu können. Sie hatte versagt, so wie Der Dachs vor ihr, doch noch konnte sie es wieder gut machen.

Die beiden Elfen hielten an. Einer von ihnen, der mit der laut scheppernden Rüstung, deutete wortlos auf einen Baum, in dessen Rinde etwas eingeritzt zu sein schien. Der andere, der mit Eldar angesprochen worden war, trat heran und fuhr mit den Fingern über das Symbol. Was ist das? Die Meuchlerin reckte ihren Kopf und versuchte, etwas mehr zu erkennen, doch aus dieser Entfernung war das unmöglich. Konnte sie es riskieren, einen kleinen Schritt aus den Schatten zu tun? Nein! Kurz bevor der Elf etwas von sich geben konnte, flüsterte sie leise ein Wort auf der dunklen Sprache, das ihr erlaubte, das Vahisische ohne Probleme zu verstehen. Es war der einzige Zauber, den sie kannte und zu dem sie fähig war.

»Also hat sich der ganze Weg doch noch gelohnt«, hörte sie den Magier fröhlich feststellen. »Ich habe dir ehrlich gesagt nicht geglaubt.«

»Und ich habe dir die ganze Zeit erklärt, dass es stimmt«, entgegnete der andere, Nihay. »Nach dem ersten Perlenwaldbrand wurde dieses Zeichen in die Rinde der Eiche geschlagen, damit die Stämme jederzeit um Hilfe rufen können. Nur die Anführer wussten davon, aber wer weiß, ob dieses Wissen überhaupt noch existiert. Sicher hätten die Stämme sonst schon lange Gebrauch davon gemacht. Oder aber der König hat ihre Hilferufe ignoriert. So wie er es mit so ziemlich jeder Bitte tut.«

Sehr interessant, dachte Die Schneeeule und konnte nicht verhindern, dass ein Grinsen sich auf ihr Gesicht schlich. Es war dumm, mitten in feindlichem Gebiet von so wichtigen Sachen zu sprechen. Ich muss verhindern, dass sie nach Hilfe rufen!

»Und wie funktioniert das?«, fragte Eldar im selben Moment, in dem sie aus den Schatten treten wollte.

Nihay zuckte die Schultern. »Du bist der Magier, du solltest das doch wissen.«

»Wirklich interessant, was die normalen Himmelskrieger von uns denken«, seufzte der Elf. »Setz dich hin. Bis ich herausgefunden habe, wie das funktioniert, könnte es etwas dauern.«

»Wir haben keine Zeit! Der König muss sofort erfahren, was mit seinem Sohn und den restlichen Kriegern passiert ist!«

»Das weiß ich auch«, entgegnete der Magier und warf seinem Begleiter einen missbilligenden Blick zu. »Aber es ist nicht so leicht, wie du es dir vorstellst.«

Die Schneeeule unterdrückte ein belustigtes Schnauben. Sie durfte nicht zögern. Je schneller sie die beiden erledigt hatte, desto eher stand sie vor ihrer Herrin und konnte ihr die frohe Kunde mitteilen. Sie beobachtete wie Nihay sich neben der Eiche ins Gras setzte, das allmählich in grünen Stoppeln aus der grauen Ascheschicht wuchs. Sein Schwert störte ihn dabei und kurzerhand löste er den Gürtel, um ihn zusammen mit der Waffe neben sich abzulegen. Ein Fehler.

Wie ein blasser Geist trat sie aus den Schatten heraus. Es dauerte eine Weile, bis der Himmelskrieger sie bemerkte, doch er reagierte blitzschnell. Innerhalb eines Herzschlags war er auf den Beinen, das Schwert in der Hand und die Spitze auf ihre Brust gerichtet. »Eldar!«, rief er dem Magier zu, doch der schien ihn nicht zu hören. Er war zu sehr vertieft in den Zauber, den er wirkte. Über seiner Handfläche schwebte eine kleine Feuerkugel in der Luft. Seine Lippen formten Worte, die die Meuchlerin nicht verstand.

»Wer bist du?«, wollte Nihay wissen, als er feststellte, dass er wohl oder übel alleine mit ihr fertig werden musste. »Ich kenne dich irgendwo her.«

Die Schneeeule antwortete nicht, sondern ging ruhigen Schrittes auf ihn zu, bis die Spitze seines Schwertes nur eine Haaresbreite von ihrer Brust entfernt war. Sie trug ein weißes Gewand, das seinen Ursprung in Leôria haben könnte, denn es erinnerte sie an die leichten Kleider, die die Frauen in der Wüste meistens trugen. Die Kapuze hatte sie sich tief ins Gesicht gezogen, sodass man ihre gelben Augen nicht sofort sah. Eine dünne, zusammengeknotete Kordel betonte ihre Taille und die leere Dolchscheide an ihrem locker sitzenden Gürtel machten auf den Elfen den Eindruck, eine wehrlose Frau würde vor ihm stehen. Die Meuchlerin bemerkte seinen verunsicherten Blick. Das leichte Senken des Schwertes bot ihr die perfekte Gelegenheit zum Angriff.

Schnell wie eine Viper schlug sie mit dem Knie von unten gegen die Klinge, sodass Nihay die Waffe in hohem Bogen aus der Hand flog. Während er noch fassungslos dastand, rückte Die Schneeeule vor. Ihre gespreizten Finger stießen ihm in den Hals, sodass er keuchend vor Schmerz zurücktaumelte. Sie setzte nach, doch diesmal war er vorbereitet. Ihr nächster Schlag wurde von seinem Unterarm abgelenkt. Der Elf ballte die Fäuste und ließ sie dabei keinen Moment aus den Augen. Sie war eigentlich davon ausgegangen, dass er sich sofort auf sein Schwert stürzen würde, aber aus irgendeinem Grund tat er das nicht.

»Ich kenne dich!«, schrie er ihr entgegen. »Du bist die Hure, mit der der Prinz geschlafen hat! Ich wusste immer, dass etwas mit dir nicht stimmt!«

Das war ein Fehler. Während er noch redete, sprang Die Schneeeule auf ihn zu. Mit aller Kraft rammte sie ihm den Fuß seitlich gegen das Knie. Sie hörte ein Knacken, gefolgt von einem markerschütterndem Schmerzensschrei. Ein kurzer Blick zum Magier genügte ihr, um zu wissen, dass von ihm immer noch keine Gefahr ausging. Nihay ging zu Boden, doch er gab nicht auf. Schnaufend und mit zusammengebissenen Zähnen kroch er auf das Schwert zu, dass sich einige Schritte entfernt in die Erde gebohrt hatte.

Belustigt ging die Meuchlerin an ihm vorbei und blieb noch eine Weile neben der Waffe stehen, um zu beobachten, wie der Himmelskrieger sich abmühte. Wie sie dieses Gefühl der Überlegenheit vermisst hatte... Plötzlich drangen laute Worte in einer fremden Sprache an ihr Ohr. Sie fuhr zu dem Magier herum. Die Flammenkugel über seiner Handfläche war verschwunden und stattdessen drang nun weißer Rauch aus seinem Mund. Der Nebel, den Die Schneeeule eindeutig als konzentrierte Weiße Magie identifizierte, kroch langsam auf das eingeritzte Symbol zu. Sie hatte keine Zeit mehr, sich an dem Anblick des verzweifelten Nihay zu laben.

Sie zog das Schwert aus dem Boden und rammte es dem kriechenden Himmelskrieger in den Rücken. Ohne anzuhalten, zog sie es erneut heraus und näherte sich dem Magier von hinten. Das Blut rann rot an der Hohlkehle hinab, als sie die fremde Waffe hob, um es im Körper des Elfen zu versenken. Das Eisen schnitt durch Muskeln und Sehnen, bis es die Lungen und dann das Herz durchbohrte. Eldar gab nur noch einen überraschten Laut von sich, bevor er nach vorne kippte und am Baumstamm nach unten sank. Leuchtender Lebenssaft und nicht mehr die Weiße Magie quoll zwischen seinen Lippen hervor.

Die Schneeeule kniete sich neben ihm nieder und drehte den Kopf so, dass sie in seine Augen sehen konnte. Es waren schmale, dunkelbraune Augen, umrahmt mit drahtigen, pechschwarzen Wimpern. Sie erinnerten sie an die Augen des Prinzen. Mirap hatte sie manchmal so erschrocken angesehen, wenn sie etwas aus ihrer erdachten Vergangenheit erzählt hatte. Aber im Gegensatz zu ihm waren die Augen dieses Elfen glasig. Er war eindeutig tot.

Ein gurgelndes Husten wie das eines Ertrinkenden verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit. Die Meuchlerin erhob sich. Nihay lebte noch. Sie war in letzter Zeit wirklich zu unsauber. Aus der Übung geraten. Mit großen Schritten eilte sie zum Himmelskrieger, um ihn ins Reich des Dunklen zu schicken. Vorsichtig, beinahe zärtlich setzte sie die Spitze des Schwertes zwischen der dritten und vierten Rippe an und ließ die Klinge quälend langsam in den Körper des Elfen fahren, bis sich nichts mehr regte. Sie trat zurück und betrachtete zufrieden ihr blutiges Werk.

Doch plötzlich umklammerte eine feste Hand ihre Schulter. Der Geruch von Sumpfmoder stieg ihr in die Nase. »Du beherrschst deine Kunst noch voll und ganz«, zischelte eine weibliche Stimme ihr zu.

»Nicht besser als du vermutlich.« Die Schneeeule versuchte, einen Blick auf diejenige zu werfen, die sie aufhielt, doch die Kapuze schränkte ihr Sichtfeld zu sehr ein.

»Vermutlich.« Der Griff lockerte sich etwas. »Der Grund, wegen dem ich hier bin, ist ein anderer. Ich habe eine Nachricht für die Herrin.«

»Sag sie mir.«

Die geflüsterten Worte waren so unglaublich, dass Die Schneeeule das blutbefleckte Schwert fallen ließ. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Also wird doch noch alles gut.« Sie drehte sich um, um der uralten Freundin – oder Feindin – ins Gesicht zu sehen, doch sie war bereits fort. Nur ihr unverkennbarer Geruch hing noch in der Luft. Die Herrin wird so begeistert sein, dass sie mir alles verzeihen wird.

Fröhlich eine Melodie vor sich hin summend, machte sie sich auf den Weg in Richtung Norden. Bei jedem Schritt dachte sie an den Ruhm, der sie in Ilasnar erwartete. Sicher gäbe es niemanden mehr, der ihre guten Neuigkeiten übertreffen konnte. Den Dachs jedenfalls konnte sie getrost vergessen. Er hatte versagt, auf ganzer Linie. So tief wie er würde sie nie sinken. Ihre Stimmung wurde nur getrübt von der schneeweißen Feder, die ihren Nacken kitzelte. Sie war gestern noch nicht da gewesen. Behände zupfte sie sie aus, drückte ihren Finger auf die Wunde, bis der Blutfluss nachließ, und warf die zerknüllte Feder in den Wald. 

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Das Bild hat zwei meiner Fineliner gekillt XD

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