Die Geschichte der Amazonen

»Wir bewegen uns

auf der scharfen Schneide eines Schwertes.

Bei jedem Schritt bluten unsere Füße.

Und sie werden weiter bluten,

wenn wir uns nicht für eine Seite entscheiden.«

AUS DER SCHRIFTENSAMMLUNG

»DIE WAHRHEIT DER UNTERDRÜCKTEN«

Die Namenlosen, wie sie sich nannten, hatten ihr Lager dort aufgeschlagen, wo früher der Marktplatz gewesen war. Yudra ließ ihren Blick über die aufgeschlagenen Zelte und die umher huschenden oder stolz aufrecht stehenden Gestalten schweifen, während sie einen Schritt nach dem anderen tat. Ihre Beine trugen sie immer noch nicht richtig und manchmal wurde ihr schwindelig. Besonders, wenn sie die mit Pfeilen gespickten oder zerschmetterten Leichen der ehemaligen Stadtbewohner zwischen den Trümmern sah. Kein Stein lag mehr auf dem anderen. Über Nacht war Zowuza zu einem Schlachtfeld der Niederlage geworden, auf einen Schlag ausgelöscht und besetzt von diesen fremden Kriegern.

Die Dryade entdeckte weitere Amazonen mit nur einer Brust, die durch das Lager stolzierten. Zwerge schärften ihre Äxte an herumliegenden Steinen und riesige Wesen mit grauer, narbenbedeckter Haut – wahrscheinlich Trolle – durchwühlten die Läden um den Marktplatz herum. Es schien auch einige Menschen und Elfen zu geben, aber besonders auffällig war eine Frau mit großen, weißen Federschwingen. Sie stand mit einer Gruppe von fünf anderen Wesen zusammen. Eines davon war eine Art Kobold mit grüner Haut, dessen Arme fast bis zum Boden hingen. An den zehn Fingern krümmten sich unnatürlich lange, scharf aussehende Klauen.

»Unsere Generäle«, erklärte die Amazone an Yudras Seite ihr, als sie ihren Blick bemerkte. Ihre Begleiterin war lautlos irgendwo hin verschwunden. »Meine Generälin ist auch dabei. Die mit den Krallenspuren im Gesicht.«

Die Dryade erhaschte einen Blick auf die besagte Generälin. Die Narben, die unübersehbar waren, zogen sich nicht nur über ihr Gesicht, sondern auch über ihren Hals und bis hinab zum Brustansatz, wo sie unter einer deformierten Lederpanzerung verschwanden. Auch ihr fehlte die rechte Brust. Um ein Auge schlang sich eine Quay-Tätowierung, die das aufgerissene Maul einer Schlange zeigte. Unwillkürlich fuhr Yudra sich über ihren eigenen Arm. Warum hat Rassou mir ausgerechnet diese Tätowierung gegeben?

»Wir nennen sie Diva«, ergänzte die Amazone neben ihr, packte sie grob Handgelenk und zog sie an mehreren aufgeschlagenen Zelten vorbei. Sie wurden von den vorbeigehenden Namenlosen nicht beachtet. Anscheinend war es nicht ungewöhnlich, dass einige von ihnen Gefangene nahmen. Yudra erblickte mehrere Amazonen, die sich um einen Mann stritten, der zwar noch lebte, dessen abgeschlagener Armstumpf jedoch viel zu stark blutete. Etwas weiter machten zwei Menschen sich einen Spaß daraus, ein gefesseltes Mädchen mit Steinen zu bewerfen. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte die Erdfee, dass es gar keine Menschen waren. Dem einen wuchsen schwarze Federn aus den Unterarmen und das Gesicht des anderen war mit Schuppen bedeckt. Tiergeister.

»Mein Zelt«, verkündete die Amazone, als sie endlich ankamen. Sie stieß Yudra hinein, die beinahe über etwas stolperte, das vor dem Eingang auf dem Boden lag. Gerade noch rechtzeitig sprang sie darüber hinweg, fiel aber hin, da ihre Beine beim Aufkommen nachgaben. Vor Schmerzen stöhnend richtete sie sich auf und schaute zurück. Sie war nicht über einen Gegenstand, sondern über einen Menschen gestolpert. Der Mann war gefesselt und geknebelt worden, hatte eine der Hände allerdings schon freibekommen. Als er die Amazone eintreten sah, weiteten seine Augen sich vor Entsetzen und er versuchte zu schreien, was durch den Stoffklumpen in seinem Mund jedoch nur in einem dumpfen Laut endete.

»Die Generälin scheint es gut mit mir zu meinen«, lachte die Amazone auf, hockte sich vor dem Mann hin und packte ihn am Kinn. Nachdem sie Pfeil und Bogen neben sich hingelegt hatte, hob sie die freie Hand, um dem Gefangenen die schwarzen Haare aus dem Gesicht zu streichen. »Ausgesprochen hübsch, aber nichts für mich.« Damit öffnete sie die Zeltwand ein Stück und beförderte den Mann mit mehreren Tritten nach draußen, wo er wimmernd liegen blieb. Der Stoff fiel wieder zurück und versperrte Yudra die weitere Sicht nach draußen. Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie es wagen sollte, sich einen der Pfeile zu schnappen und damit auf die Amazone loszugehen, aber die Frau hatte ihre Waffen bereits wieder aufgenommen. Sie starrten sich wenige Herzschläge lang in die Augen, dann öffnete die Amazone erneut die Zeltwand und warf Pfeil und Bogen nach draußen.

»Komm nicht auf dumme Gedanken«, sagte sie und deutete einladend auf einen Teppich, der im hinteren Teil des Zeltes ausgebreitet war. Darauf stand ein flacher Tisch mit einer Weinamphore und mehreren Tonbechern. Alles wahrscheinlich aus einem der Läden gestohlen. »Setz dich.«

Yudra ging zögerlich hinüber und ließ sich auf dem Teppich nieder. Ihr Hinterkopf fing wieder an zu pochen und der Schwindel kam mit so einer Plötzlichkeit zurück, dass sie sich am Tisch festhalten musste, um nicht umzukippen. Als ihre Gedanken erneut klar waren, stellte sie fest, dass die Amazone verschwunden war. Bevor sie sich fragen konnte, wohin denn, kam sie jedoch in Begleitung einer anderen Frau zurück. Keine Amazone. Sie hatte noch beide Brüste und auch die Schlangen-Tätowierung fehlte. Ihre blonden Haare waren auf der vorderen Hälfte des Kopfes abgeschoren worden und fielen erst dahinter in langen Strähnen über ihren Rücken. Die leichte Andeutung eines Lächeln lag auf ihren blassen Lippen, als sie sich mit einem Tablett in den Händen verneigte. Darauf befanden sich einige Gefäße – wahrscheinlich mit Heilmitteln – und Verbände.

»Mondgesicht wird sich um deine Wunden kümmern«, sagte die Amazone, woraufhin die Frau mit dem Tablett auf Yudra zu ging und sich stumm neben sie setzte. Die Dryade zuckte zusammen, als zierliche Finger vorsichtig über ihren blutenden Hinterkopf tasteten. Schnell setzte sie wieder ein gleichgültiges Gesicht auf.

»Wie kommt es, dass einige von euch trotzdem Namen haben?«, fragte sie gepresster als sie beabsichtigt hatte. »Ich dachte, ihr seid die Namenlosen.«

Die Amazone ließ sich auf der anderen Seite des Tisches nieder und stellte eines ihrer Beine auf, um sich mit dem Arm darauf abzustützen. »Wir haben unsere Namen abgelegt, als wir uns den Namenlosen angeschlossen haben. Trotzdem müssen wir uns untereinander doch irgendwie ansprechen! Mondgesicht wird zum Beispiel so genannt, weil ihr Gesicht einfach genau so aussieht. Nicht wahr?«

Die Frau neben Yudra antwortete nicht, sondern tupfte mit einem feuchten Tuch um die Wunde am Hinterkopf der Erdfee herum.

»Die Generälin wird Diva genannt, weil sie sich so benimmt«, fuhr die Amazone fort. »Als wir noch nicht zu den Namenlosen gehörten, war sie die attraktivste und wildeste unter uns. Sie war unsere Anführerin. Wenn wir Gefangene nahmen, hatte sie vor uns allen das Recht, sich einen Mann auszusuchen, mit dem sie die Nacht verbringen wollte.«

Was ist das bloß für ein Volk, dachte Yudra voller Abscheu, während Mondgesicht weiter ihre Wunden versorgte.

»Nur hat sie sich einmal den falschen ausgesucht. Sie ließ ihn zu oft zu sich holen und tötete alle, die es ebenfalls mit ihm treiben wollten. Dafür hat er sie gehasst und letztendlich versucht, sie umzubringen.« Die Amazone fuhr sich mit gespreizten Fingern quer über das Gesicht bis zum Brustansatz. »Er zerstörte ihre Schönheit, konnte aber fliehen. Seitdem sucht sie nach ihm, um ihm dieselben Wunden zuzufügen. Dafür hat sie sich sogar den Namenlosen angeschlossen. Sie kann es einfach nicht ab, wenn man ihren Stolz verletzt. Deswegen nennt man sie hier Diva.« Die Amazone beugte sich vor. »Möchtest du gar nicht wissen, wie ich genannt werde?«

»Wie wirst du genannt?«, fragte Yudra unter Schmerzen, weil Mondgesicht ihr gefühlt die gesamte Kopfhaut wieder aufriss.

»Klinge«, entgegnete die Amazone grinsend ohne weitere Erklärungen. Stattdessen sagte sie: »Sicher hast du auch einen Namen, bei dem wir dich rufen können. Ich weiß, ihr Feen habt immer Probleme damit, aber ich kann dich nicht ewig Hüterin der Erde nennen.«

Schon wieder ein Name, dachte die Dryade. Ich bin es leid, mir immer neue auszudenken.

»Dann heißt du ab jetzt einfach Scharfzunge«, beschloss die Amazone, Klinge, nachdem sie keine Antwort bekam. »Ja, das passt zu dir.« Sie schwieg eine Weile und fragte schließlich: »Ich wette, deine Lehrerin hat dir nie Geschichten erzählt. Oder Märchen. Oder Sagen und Legenden. Ihr Feen seid ja so besessen von euren Pflichten, alles und jeden zu beschützen, da bleibt kaum Zeit für sowas Gewöhnliches.«

»Sie hat mir Geschichten erzählt«, widersprach Scharfzunge. »Abends, wenn wir zurück zu unserem Lager kamen. Geschichten über die Stämme des Perlenwaldes, über den Drachen Ximou und über mutige Helden. Sie sang mir auch Lieder, damit ich besser einschlafen konnte.«

Klinge hob überrascht ihre Augenbrauen, die Mundwinkel zuckten leicht. »Das ist in der Tat ungewöhnlich. Aber ich wette, dass sie dir nie eine unserer Geschichten erzählt hat.« In ihren tiefgrünen Augen lag etwas, das Scharfzunge nicht wirklich deuten konnte. War es Schadenfreude? Heiterkeit?

»In der Zeit, als die Nacht hell leuchtete und niemand die Wörter Krieg, Not und Leid kannte, gab es eine Hüterin der Erde«, hob die Amazone an. »Es war die Erdfee von Alarchia, die fünfte Dryade, die mit ihren Schwestern durch das Große Tor ging, das Jeovi, die Erschafferin allen Lebens selbst, für ihre Kinder geöffnet hatte. Von Anfang an lag die Goldene Welt im Krieg. Die sechste und die siebte Pixie bekämpften sich ohne Gnade und Mitleid und stießen unzählige Leben über den Rand in den Abgrund, ins Reich des Dunklen. Selbst in Alarchia wütete der Schwesterkrieg. Dämonen und andere Diener der sechsten Pixie meuchelten die Lebewesen der Erde dahin. Wie konnte die fünfte Dryade da tatenlos zusehen?

Sie versuchte ihr bestes, um ihr Land und ihre Schützlinge zu retten, doch jede ihrer Taten scheiterte. Das Feuer der Drachen verzehrte die Wälder und ließ den Fels schmelzen. Die Klauen der Dämonen rissen das Gestein auf und sie beschworen ihre eigenen Diener aus dem Reich des Dunklen. Alarchia wäre dem Untergang geweiht, wenn die fünfte Dryade nichts unternehmen würde. In ihrer Verzweiflung flehte sie Jeovi um ihre Hilfe an, betete hundert Tage und hundert Nächte, nahm sogar ihre sterbliche Gestalt an. Doch all das Flehen, all das Bitten brachte nichts. Jeovi schwieg, so wie sie schon immer seit der Öffnung des Großen Tores geschwiegen hatte.

›Die Erschafferin allen Lebens hat uns verlassen‹, dachte die fünfte Dryade. ›Wie kann sie dem Leid ihrer Kinder tatenlos zusehen?‹

Und so wandte sie sich von Jeovi ab. Aus dem Erz der Berge, den Wurzeln der Bäume, den versteckten Edelsteinen in der Wüste und dem Wasser der Meere, Seen und Flüsse erschuf sie eine mächtige Waffe. Einen Bogen, an dessen Enden scharfe Klingen befestigt waren und um den sich eine Reihe grüner Smaragde schlang, die einen Schlangenleib formten. Wer einen Pfeil auf seine Sehne legte, würde sein Ziel nie verfehlen. Der Bogen wurde Jemazh getauft. Du weißt, was das auf deiner Sprache, auf Jouze, bedeutet.«

Rache, dachte Scharfzunge. Eine Fee darf keine Rache nehmen. Niemals!

»Die fünfte Dryade führte ein Ritual durch, bei dem sie den Bogen an sich band. Daraufhin erschien der Umriss einer Schlange auf ihrem Rücken, die fortan das Zeichen ihres Kriegszugs sein würde.« Ein grimmiges Lächeln lag nun auf den Lippen der Amazone. »Sie reiste durch Alarchia und rief alle Erdfeen, die während des Schwesterkrieges aus den Blüten der Wiesen und Felder entsprungen waren, dazu auf, ihr zu folgen. Viele schlossen sich ihr an, erfüllt von dem Wunsch nach Gerechtigkeit. Auch sie hatten erkannt, dass Jeovi sich von ihnen abgewandt hatte. Von nun an nannten sie sich die Amazonen.

In ihrem ersten Kampf an der Grenze zu Leôria schlugen sie die Diener der sechsten Pixie mit Leichtigkeit. Doch mit der Zeit wurden die Schlachten schwerer. Je mehr Blut die Erdfeen vergossen, desto schwächer wurde ihre Magie. Bald waren sie nicht mehr dazu fähig, in ihre wahre Gestalt zu wechseln und mussten in ihrer sterblichen verbleiben, in der sie sehr verwundbar waren. Nach jedem Kampf lagen bald mehr und mehr tote Hüterinnen der Erde zwischen den Leichen der Besiegten.

In einer Schlacht wurde die fünfte Dryade schwer verletzt und ihr wurde die rechte Brust abgetrennt. Ihre Schwestern retteten sie in größter Not und schnitten sich aus Solidarität ebenfalls ihre eigene ab. Doch nach wenigen Tagen erlag die erste Amazone ihren Wunden. Die Schlangentätowierung auf ihrem Rücken verblasste und erschien auf der Hand ihrer engsten Mitstreiterin. Die Erdfeen verstanden, dass sie ihre neue Anführerin um jeden Preis schützen mussten. Also tätowierte jede von ihnen sich ebenfalls eine solche Schlange auf die Haut.

Mit der Zeit wurden die Amazonen immer wilder. Wo sie hinkamen, schloss man Türen und Fenster. Aber niemand war vor ihnen sicher. Niemand konnte dem Bogen Jemzah entkommen, der immer von einer Anführerin zur nächsten weitergegeben wurde. Selbst nachdem der Schwesterkrieg beendet war, hörten die Erdfeen nicht mit ihrem Rachezug auf. Sie gingen dorthin, wo jemandem Unrecht widerfahren war, und richteten im Namen der Dryade von Alarchia. Einige nahmen sich die Männer der Gefangenen und schliefen mit ihnen, um neue Amazonen zu zeugen. Wenn ein Junge geboren wurde, wurde er getötet. Nur Mädchen hatten das Recht, sich die Brust abzuschneiden und sich eine Schlangentätowierung zu holen.«

Klinge wandte ihren Kopf und schaute Scharfzunge direkt in die Augen. »Ich habe bereits gesagt, dass wir viel gemeinsam haben. In unserer beider Adern fließt Feenblut. Nun frage ich dich erneut: Woher hast du diese Tätowierung, die dich doch so offensichtlich als Amazone zu erkennen gibt?«

»Meine Lehrerin hat sie mir aufgezeichnet«, entgegnete Scharfzunge matt. Sie spürte gar nicht mehr, wie Mondgesicht ihr einen strammen Verband um den Brustkorb wickelte, um ihre gebrochenen Rippen zu richten. Ihr ganzer Körper war taub vor Entsetzen und Fassungslosigkeit. Unmöglich, dass die Dryade von Alarchia solch einen Verrat an Jeovi begangen hat!

»Ich glaube dir nicht!«, blaffte Klinge. »Du bist keine reinblütige Fee! Das fühle ich doch! Wo ist deine Magie? Wo ist deine wahre Gestalt? Du besitzt beides nicht mehr! Wenn du wirklich eine Hüterin der Erde bist, welcher Blüte bist du dann entsprungen?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Scharfzunge. »Meine Lehrerin hat es mir nie gesagt. Sie hat mich in der Ohawa-Wüste gefunden und als Schülerin angenommen. Sie war gut zu mir und hat sich um mich gekümmert, mir alles beigebracht.«

»Sich um dich gekümmert?«, hakte die Amazone nach. »Wie eine Mutter sich um ihre Tochter kümmert?«

Scharfzunge ballte wieder ihre Fäuste, schlug sie diesmal jedoch nur auf den Tisch. »Wie kannst du es wagen, sie so zu beleidigen!«, schrie sie. »Es ist Feen verboten, sich jemandem hinzugeben, geschweige denn, Kinder zu haben!«

Plötzlich war das Gesicht der Amazone so dicht an ihrem, dass sie die einzelnen, gelblichen Punkte in ihren Iriden sehen konnte. Und die Spiegelung ihres eigener eigenen Augen in den schwarzen Pupillen. »Ob du es willst oder nicht: Deine Lehrerin war deine Mutter. Sie war nicht so rein und rechtschaffen, wie du immer gedacht hast. Selbst, wenn sie nicht eine von uns war, so kannte sie uns doch, denn sie hat dir, ihrer Tochter, diese Tätowierung geschenkt. Wer weiß? Vielleicht, um dich zu schützen? Wenn du sie nicht gehabt hättest, wärst du jetzt tot.«

Sie packte Scharfzunge am Kinn und machte es ihr unmöglich, den Kopf wegzudrehen. »Du bist viel zu jähzornig für eine Fee, viel zu wild. Hinzu kommt, dass deine Magie ungewöhnlich schwach ist und du deine wahre Gestalt nicht annehmen kannst, ist es nicht so?«

Scharfzunge schlug mit der Faust nach dem Hals der Amazone, doch sie packte mit der freien Hand ihren Unterarm und nagelte ihn auf den Tisch. Ihr anderer Arm wurde gleichzeitig von Mondgesicht ergriffen. Sie konnte sich nicht mehr wehren, starrte Klinge wütend an.

»Das Ausschlaggebende ist aber deine Geburt, die ohne Zweifel passiert ist. Woher sonst hättest du einen Bauchnabel?«, sagte die Amazone nun leise, kaum hörbar. Ihre tiefgrünen Augen leuchteten vor Faszination auf. »Jede Fee, egal ob Nymphe, Nixe, Pixie oder Dryade, entspringt schon voll ausgereift ihrem Element. Feen haben keine Bauchnabel, denn sie haben keine Mütter, die sie einst in ihrem Bauch getragen haben! Sag nicht, du wusstest das nicht?«

Scharfzunge wollte sich reflexartig die Hand auf den Bauch legen, wurde aber von der Amazone und Mondgesicht zurückgehalten. Sie hatte Rassou nie in kurzer Kleidung gesehen. Hat sie keinen Bauchnabel, weil sie eine Fee ist? Unmöglich! Das Entsetzen in ihr wuchs an, wurde zu einem Abgrund, der sie zu verschlingen drohte.

»Außerdem weiß jede Hüterin der Erde, aus welcher Blüte sie einst herauskam«, fuhr Klinge fort. »In ihrer wahren Gestalt, wohlgemerkt. Wie kann es also sein, dass du nicht weiß, welcher Blüte du entsprungen bist? Offensichtlich ist das in deinem Leben nie passiert!«

»Lüge!«, zischte Scharfzunge.

»Wirklich? Dann sag mir, was das erste ist, an das du dich erinnerst?«

Scharfzunge wand sich im Griff der zwei Frauen. Rassou hätte sich nie einem Mann hingegeben! Sie hätte nie gegen Jeovis Willen verstoßen! Sie hat ihr Element beschützt, mit jedem Atemzug! Doch allmählich begriff sie, dass das, was die Amazone sagte, nichts als die Wahrheit war. So vieles ergab nun Sinn. Angefangen bei ihrer schwachen Magie, bei ihrer Unfähigkeit, die wahre Gestalt anzunehmen, wozu jede Fee fähig sein müsste. Sie erinnerte sich an die Lieder, die ihre Lehrerin ihr gesungen, und die Geschichten, die sie ihr erzählt hatte. An die Sorge in ihren blauen Augen, wenn ihre Schülerin sich in Gefahr brachte. »Ich bin in ihren Armen«, flüsterte Scharfzunge. »Sie wiegt mich und zeigt mir die Sterne.«

Die Amazone nickte leicht. »Ich denke, du verstehst nun vieles, was dir vorher ein Rätsel war.« Sie ließ Scharfzunge los und bedeutete Mondgesicht, dasselbe zu tun. Dann erhob sie sich auf die Beine. »Du brauchst wahrscheinlich etwas Zeit für dich alleine«, sagte sie. »Mondgesicht wird vor dem Zelt Wache stehen, während ich in der Stadt weiter nach Überlebenden suche. Wenn du dich beruhigt hast, wird sie sich zum versprochenen heißen Bad führen. Aber komm nicht auf dumme Gedanken.«

Die letzten Worte hörte Scharfzunge fast gar nicht mehr. Der Schock und die tiefe Enttäuschung steckten tief in ihren Gliedern. Sie spürte einen Kloß in ihrem Hals und bittere Tränen in ihren Augen. Rassou... Was soll ich jetzt von dir denken? Hast du dich willentlich Jeovis Gesetzen widersetzt? Oder wurdest du dazu gezwungen? Wer war ich für dich? Wirklich eine Tochter? Warum hast du mir nie etwas gesagt?

Frustriert schlug sie die Fäuste auf den Tisch. Ihre Finger klammerten sich um die Kante und mit einem Ruck warf sie ihn um. Die Amphore und die Becher flogen durch die Luft und zersprangen am Boden in tausend Scherben. Der Wein spritzte gegen die Zeltwand und rann in roten Flüssen hinunter. Scharfzunge stieß einen wütenden Schrei aus. Wut auf sich selbst, weil sie ihre Tränen nicht zurückhalten konnte. Wut auf Rassou, weil sie sie in einer Lüge aufwachsen gelassen hatte. Ihr Körper zitterte unkontrolliert und sie grub ihre Finger in den Teppich unter ihr. Die Fasern schrammten schmerzhaft über ihre Haut, aber anders war es nicht auszuhalten. Diese Enttäuschung. Diese tiefe Enttäuschung! Rassou hatte gegen alles verstoßen, was eine Fee ausmachte. Nach ihrem Tod war sie nie in Jeovis Reich aufgenommen werden, sondern musste bis in alle Ewigkeit im Reich des Dunklen verweilen. Dies war die Strafe für eine Fee, die gegen Jeovis Willen verstoßen hatte.

Für wen hast du alle Hoffnung auf Gnade aufgegeben?, dachte Scharfzunge verzweifelt. Wer ist mein Vater?

........................................................................................................................................................................

Das war es tatsächlich auch wieder. Es gibt zwar noch ein paar weitere Kapitel (in meinem Dokument noch ca. 90 weitere Seiten), aber da kommen eventuell noch ein paar Sachen zwischen. Und ich finde, dass an dieser Stelle wieder ein guter Cut ist :) Wir befinden uns gerade etwa in der Mitte der gesamten Geschichte. Es warten also noch viele spannende Sachen auf euch :) Danke an die, die »Goldene Träume« bisher gelesen haben!

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top