Die Bibliothek von Zowuza

»Zowuza, Stadt des Wissens.

Wie ein Priester in der Bibliothek bist du.

Gibst Armen Bücher und Bildung.

Nimmst Reichen Zungen und Münzen.«

FÜNFTE STROPHE DER HYMNE VON ZOWUZA,

GESUNGEN VON EINER UNBEKANNTEN SÄNGERIN

ZUM FEST DER GEISTER

Tara schnappte erschrocken nach Luft. Ihr Geist wurde komprimiert und durch einen schmalen Gang gezwängt, an dessen Wände seltsame Zeichen waren. Sie nahm verschiedene Gestalten wahr und erkannte ein großes Tor, auf das sie zu flog. Panisch stemmte sie sich gegen den Strom und spürte einen harten Stoß in ihren Rücken. Dann noch einen und noch einen. Insgesamt sieben. Plötzlich bildeten sich Risse in den Wänden und alles explodierte in gleißend hellem Licht.

»Warte nicht, Kind.

Kehre zurück geschwind.

Alarchia fällt.

Was ist es, das dich hält?«

Die Stimme der Nymphe von Alarchia klang seltsam verzerrt und endete in einem lauten Schrei. Tara fuhr hoch und blickte verwirrt um sich. Wo bin ich? Was war das? War das wirklich das Große Tor, durch das Jeovi unsere Vorfahren in die Goldene Welt gebracht hat? Schlagartig fiel ihr alles ein, was sie in ihren Visionen gesehen hatte. Ich muss zu dem mit dem Segen der Geister. Er wird Alarchia retten. Und ich muss jemanden mit dem Namen Gasoka finden. Aber wie soll das gehen? Ich habe zwar durch ihre Augen gesehen, aber... Ich habe keine Ahnung, was ich gesehen habe. Schatten in einer Stadt? Himmelskrieger? Wo war das? Und wann? Wer ist diese Frau? Ein schmerzhaftes Stechen machte sich auf ihrem Rücken breit. Bei Jeovi, eine kleine Seherin zu sein ist eine Plage.

Sie wischte sich eine Träne weg, die unbemerkt ihre Wange hinunter geronnen war. Wie soll ich das alles nur schaffen? Wenn jede Vision so eindringlich sein wird, möchte ich das nie mehr tun müssen. Mit ihrer Hand tastete sie nach ihrem Rücken, wo sich etwas in ihre Haut bohrte. Nein, nicht in ihre Haut. Dort war etwas... Erschrocken richtete sie sich auf. Ihre Finger fuhren über etwas Scharfkantiges, das sich dort befand. Knapp unter ihrem linken Schulterblatt war ein weiteres dieser seltsamen Auswüchse. Erstaunlicherweise war sie vollkommen ruhig. Sie wusste, eigentlich würde jeder normale Mensch sofort in Panik geraten, doch Tara war einfach nur überrascht.

Erst jetzt nahm die Jägerin ihre Umgebung näher in Augenschein. Jemand, wahrscheinlich Cor, hatte sie auf einen Tisch gelegt. Vor und hinter ihr standen hohe Schränke voller Bücher. Sie staunte bei der großen Anzahl. Sogar auf kleinen Holzhockern waren dicke Wälzer und in geflochtenen Körben, die von kleinen Haken an den Regalen hingen, lagen Pergamentrollen oder dünne Papierfetzen.

Die Luft war stickig, doch Tara genoss den Geruch alten Pergaments und von gegerbten Leders, unter den sich das schwere Aroma von frisch auf Papier gebrachter Tinte mischte. Sie schwang die Beine über den Tischrand und atmete mit geschlossenen Augen tief ein. Dann stemmte sie sich auf die Beine und trat zu dem Schrank, der ihr am nächsten stand. Zwar konnte sie nicht lesen und schreiben, doch trotzdem war sie beeindruckt von den vielen verschiedenen Einbänden, die teilweise mit goldenen oder schwarzen Lettern beschriftet waren.

Ein großes, etwas hervorstehendes Buch fiel ihr sofort ins Auge. Mit den Fingern streichelte sie sanft über das braune Leder und pustete etwas Staub davon. Vorsichtig holte Tara das Buch aus dem Regal und schlug es auf. Kleine, schwarze Buchstaben zogen sich über beide Seiten. Die Schrift war sehr schwungvoll und mit leichter Schräglage geschrieben worden. Sie blätterte ein paar Seiten weiter, bis sie auf ein akkurat gemaltes Bild stieß.

Es zeigte eine Frau, deren Haare wild um ihren Kopf herum wehten. Ihre Augen waren vollkommen schwarz und starrten weit aufgerissen nach oben. Sie kniete auf dem Boden und die Schleppe eines zerrissenen Kleides lag um ihre Beine, ein dunkles Meer aus Falten. Die Frau hatte den Mund zu einem Schrei aufgerissen und Tara staunte, als sie bei näherem Hinsehen schwach angedeutete Nebelschleier erkannte, die aus ihrem Mund zu quellen schienen. Ein eisiger Schauer fuhr ihr über den Rücken. Sie schlug das Buch zu und stellte es hastig wieder zurück.

»Es ist schön, dass du wieder wohlauf bist, Tara«, ertönte auf einmal eine tiefe Stimme hinter ihr. Sie fuhr herum und bemerkte einen stämmigen Mann, der sich durch die Bücherregale zu ihr hin bewegte. Seine Bewegungen schienen eingeübt zu sein, als würde er sehr viel Zeit in der Bibliothek verbringen. Dementsprechend prangten einige Tintenflecke auf seinem Oberteil aus einem braunen Stoff und auch seine Fingerkuppen hatten eine leicht schwarze Färbung angenommen. Ein paar Schritte von ihr entfernt blieb er stehen und reichte ihr freundschaftlich die Hand. Sie schlug ein.

»Du bist Nurov?«, fragte Tara ihn etwas ungläubig. Der Neuankömmling hatte absolut keine Ähnlichkeit mit seinem Bruder. Statt Yatepas glatter, dunkelbrauner Haare waren seine rotbraun, in der Farbe von reifen Kastanien, durchsetzt mit einigen leichten Wellen. Auch seine Augenfarbe war anders. Dunkelblau, wie der Himmel kurz vor einem Gewitter wurde. Um seinen Mund waren erste Bartstoppeln zu erkennen, die bei seinem Bruder völlig fehlten.

»Du bist überrascht wie ich sehe.« Nurov lachte. »Das ist jeder. Wenn man nicht weiß, dass Yatepa und ich Brüder sind, würde man nicht mal auf die Idee kommen, dass wir verwandt sind.« Er breitete seine Arme weit aus und lächelte sie freundlich an. »Willkommen in meinem Reich: Der Bibliothek von Zowuza. Gefällt sie dir?«

»Ehrlich gesagt kann ich nicht mal lesen.«

»Das ist schade. Aber wir haben auch Bücher nur mit Bildern. Folge mir und ich zeige dir ein Regal, das voll mit ihnen ist.« Nurov ging an ihr vorbei und bog in einen etwas breiteren Gang ein. Zwar war hier mehr Platz zum Gehen, doch Tara musste trotzdem darauf achten, nichts umzustoßen. Sie fragte sich, ob Cor mitbekommen hatte, was sie ihm sagen wollte – dass Yatepa von einem Schatten besessen war –, schob den Gedanken dann jedoch beiseite. Wenn ich schon in einer riesigen Büchersammlung bin, kann ich doch sicher erst etwas dazulernen, bevor ich mich um die Probleme kümmere. Zwar mochte sie es nicht, dass sie dabei auf jemandes Hilfe angewiesen sein würde, aber wie Nebar es ihr schon viel zu oft gesagt hatte: »Du gehörst zu den Wolfsleuten und Wölfe leben in Rudeln. Jeder Wolf ist auf seinen Nächsten angewiesen und sieht das nicht als eine Schwäche an. Sei auch du wie ein Wolf.« Während Tara ihren Gedanken weiter nachging, folgte sie Yatepas Bruder durch die Bibliothek, der ununterbrochen über die Bücher schwärmte. Schließlich entschloss sie sich dazu, ihm doch noch zuzuhören.

»Weißt du, jedes Buch hat ein Geheimnis, das es zu entdecken gilt. Jedes Buch ist etwas Besonderes und unsere Bibliothek beherbergt die Bücher mit den meisten Geheimnissen. Das macht Zowuza so besonders. Hier gibt es so viele Menschen und andere Geschöpfe, die lesen können, wie nirgendwo sonst. Du beherrschst diese Kunst zwar nicht, aber deshalb haben wir auch speziell für solche Fälle sechs gesonderte Schränke. Die Bücher dort stammen noch aus der Zeit, als es keine Schrift gab und Geschichten mit Bildern erzählt wurden. Sie entstanden zwischen den Jahren hundert und hundertzehn der Goldenen Welt und erzählen hauptsächlich den Beginn des Schwesterkrieges zwischen der siebten und der sechsten Pixie. Ziemlich interessant, aber auch furchteinflößend. Du wirst staunen, wie viel du aus solchen Skizzen lernen kannst. Allgemein ist es die Aufgabe jeder Bibliothek, den Leuten das Wissen zu vermitteln, das sie möchten. Aber es gibt so viel! Nicht mal Beihun weiß alles! Und er ist schon seit mehr als hundert Jahren hier. Er ist ein Nachfahre des Denkers und somit fließt das Blut eines Wolkenlesers in ihm! Stell dir das mal vor! Ein richtiger Wolkenleser!«

Tara verkniff sich ein belustigtes Lächeln. Wahrscheinlich haben Cor, Yatepa und die Dryade beschlossen, geheim zu halten, was Cor wirklich ist. Ich kann es selbst immer noch kaum glauben.

»Jedenfalls ist Beihun jetzt der Wächter des Wissens in unserer Bibliothek. Er ist sehr weise und lässt sich kaum blicken, doch jeder, der ihn sieht, merkt sofort, dass etwas an ihm besonders ist. Die meisten haben Angst davor. Ich selbst habe ihn erst vor einer Woche hier gesehen und war sofort beeindruckt. Er hat eine gewisse Ausstrahlung. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es fühlt sich so an, als würdest du mitten in den Warmmonden auf einer Wiese im Perlenwald liegen und plötzlich kommt ein Bär vorbei. Du hast keine Angst und bleibst ganz ruhig liegen und vertraust ihm. Und plötzlich kommt der Bär auf dich zu. Für einen kurzen Moment möchtest du aufspringen und weglaufen, doch du bist neugierig, was passiert und bleibst liegen. Dann vertraut der Bär dir auch, legt sich neben dich und erzählt dir alle Geheimnisse des Waldes, die du vorher nicht wusstest. Ungefähr so fühlt es sich an, wenn du vor Beihun stehst. Er ist der Bär und du bist du.«

»Bei mir würde wohl eher ein Wolf passen«, meinte Tara, belustigt über Nurovs Versuch, die Ausstrahlung von jemandem zu beschreiben. Warum ist mir das bei Cor nicht aufgefallen? Er ist sogar ein richtiger Wolkenleser, da müsste das doch noch mehr hervorstechen! Oder er hat eine Möglichkeit gefunden, seine Ausstrahlung zu überdecken?

»Wo ist Cor?«, erkundigte sie sich bei ihrem Führer und stolperte dabei fast über ein kleines, graues Geschöpf mit großen, runden Augen, das ein Buch von Staub befreite. Es ließ eine Salve von Wörtern über sie regnen, die Tara nicht verstand, bis Nurov es anzischte und das Geschöpf murrend weiterzog.

»Entschuldige, Gnome sind manchmal etwas launisch. Karoc hat es nicht so gemeint«, sagte Yatepas Bruder und ging weiter. »Was hast du gefragt?«

»Wo ist Cor? Und wo sind Yatepa und...« Sie fragte sich, ob Nurov wusste, dass eine Hüterin der Erde sie begleitete.

»Du meinst die Fee?« Der Mann lächelte amüsiert. »Keine Sorge, ich weiß, wer sie ist. Aber sie ist noch nicht aufgetaucht. Yatepa und Cor meinen, dass sie wahrscheinlich erstmal ein paar Tage für sich alleine sein wollte. Sie ist so viele Menschen offenbar nicht gewohnt. Aber vielleicht ist sie ja schon da. Besqu!«

Auf seinen Ruf erschien über ihnen ein etwas rundlicher Kerl, der dem Gnom von vorhin nicht gerade sehr unähnlich sah. Das Wesen hatte ebenfalls eine graue Haut und große Augen, konnte allem Anschein nach aber auch fliegen, obwohl es keine Flügel hatte. Es hielt sich mit den Händen am obersten Regal fest und starrte zu ihnen hinunter. »Ja, Herr?«

»Hat heute eine Fee die Bibliothek betreten, eine Hüterin der Erde?«

»Es hat kein Geschöpf dieses Volkes die Bibliothek betreten, Herr. Der letzte Eintrag ist datiert auf vor hundertvierzehn Jahren kurz vor der Schattenschlacht. Wenn Ihr wollt, kann ich nähere Erkundigungen darüber einbringen.«

»Nein, Besqu, danke.« Schulterzuckend wandte er sich Tara zu. »Dann ist sie eben noch unterwegs. Hoffentlich hat sie in einem guten Gasthaus übernachtet.«

Besqu flatterte nervös mit den Lidern und gab einen Laut von sich, der sich wie von einem Frosch anhörte. »Sie hat von Cor noch kein Geld bekommen, Herr. Sie könnte, selbst wenn sie wollte, kein Zimmer bezahlen.«

Nurov runzelte verwirrt die Stirn und auch Tara wurde unruhig. »Kann es nicht sein, dass er sich geirrt hat? Vielleicht hat er ihr doch ein paar Münzen gegeben.«

»Nein, Besqu sieht alles. Auch das, was direkt außerhalb der Mauern passiert. Er ist ein Quatto, beherrscht also alle Sprachen der Goldenen Welt und in der Bibliothek ist es seine Aufgabe, alle Besucher der Bibliothek zu dokumentieren. Dazu zählen auch die Reittiere und Trunkenbolde, die sich in den Hinterhof verirren. Er bekommt alles mit!« Er bedeutete ihr, aufzupassen und wandte sich dann erneut an das fliegende Wesen. »Besqu, wo ist Cor?«

»Cor befindet sich zurzeit in der Abteilung für Übernatürliches, Gang einunddreißig, Schrank dreihundertdreiundneunzig und blättert in einem Buch namens ›Werke der Schwarzen Magie‹ von einem anonymen Autor aus Regal sechs. Zurzeit ist er auf Seite hundertzweiunddreißig, Zeile vierundzwanzig, Wort vier. Wort fünf. Wort sechs...«

»Danke, Besqu, das reicht«, unterbrach Nurov den Quatto, der sich daraufhin mit den Händen abstieß und über ihre Köpfe hinweg davon trudelte. Yatepas Bruder wandte sich an Tara: »Siehst du, er weiß über alles Bescheid. Seltsam nur, dass eure Fee noch nicht hier ist. Wenn du möchtest, kann ich dich zu Cor führen. Er wollte sowieso nach dir sehen, nachdem er dir vor einer Stunde irgendeinen Trank eingeflößt hat. Warum warst du eigentlich in dieser Trance? Weder Yatepa noch Cor wollten mir das sagen.«

»Wenn sie das nicht sagen wollten, geht es dich wohl auch nichts an«, meinte Tara und biss sich sogleich auf die Lippen, als Nurov bei ihrem barschen Tonfall gekränkt wegschaute. »Entschuldige«, murmelte sie.

»Alles gut. Mein Bruder hat mich schon vorgewarnt, dass du etwas ruppig sein kannst«, entgegnete ihr Führer und lächelte wieder. »Wie hat er dich genannt? Narbengesicht?«

Die Jägerin kämpfte den Instinkt nieder, ihn wütend anzuschreien. Stattdessen verschränkte sie beleidigt die Arme vor der Brust. Sie wollte ihm gerade sagen, dass sie diesen Namen nicht ausstehen konnte, als plötzlich ein lauter Knall ertönte und irgendwo eine gigantische Staubwolke zur Decke stieg. Fast zeitgleich erschien Besqu wieder über den Regalen. Der Quatto schien ziemlich aufgebracht zu sein.

»Herr, es gab einen Vorfall in der Abteilung für Waffen, Gang zwölf, Schrank hundertdreiundvierzig bis hundertfünfundvierzig. Ein Krieger hat wieder versucht, seinen Morgenstern auf Regal eins abzulegen, woraufhin die Schränke umgekippt sind.«

»Danke, Besqu.« Nurov sah Tara entschuldigend an und seufzte. »Die Arbeit ruft. Aber ich glaube, du findest allein zu Cor. Du bist schon in der richtigen Abteilung. Er müsste drei oder vier Gänge weiter sein. Die Zahlen stehen auf den dunklen Fliesen, die in den Boden eingelassen sind.« Mit diesen Worten drehte er sich um und entfernte sich schnellen Schrittes in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Na toll, dachte Tara nachdem er in einen anderen Gang abgebogen war. Eine Analphabetin wie ich kann natürlich auch Zahlen lesen. Auf einmal fiel ihr jedoch ein, dass der Quatto ja noch über ihr schweben musste. Sie sah hoch und blinzelte erleichtert. Das graue Geschöpf hing kopfüber an einem der unzähligen Kronleuchter in der Bibliothek und murmelte etwas in einer fremden Sprache vor sich hin.

»Besqu!«, rief sie hoch und sogleich löste der Quatto sich von seinem ungewöhnlichen Ruheplatz. Mit aufgeregt leuchtenden Augen blieb er schließlich direkt vor ihr in der Luft hängen.

»Die Herrin wünscht etwas?«

Tara fühlte sich geschmeichelt bei dieser Anrede, ließ sich jedoch nichts anmerken und nickte einfach nur. »Könntest du mich zu Cor bringen?«

»Natürlich. Folgt mir.«

Besqu setzte sich in Bewegung und die Jägerin mit ihm. Sie kamen an einigen Schränken vorbei, deren Bücher nach der Farbe ihrer Einbänder sortiert waren. Kurz darauf bogen sie in einen schmalen Gang ein. Während der Quatto keine Schwierigkeiten hatte, hindurch zu fliegen, musste Tara aufpassen, wo sie hintrat. Hier lagen überall aufgeschlagene Bücher auf dem Boden, deren Seiten mit einer gedrungenen, krakeligen Schrift beschrieben waren. Ihr Blick fiel auf eine Pergamentrolle, die an beiden Seiten mit kleinen Gewichten fixiert war, sodass sie sich nicht wieder zusammen rollen konnte. Auf dem Schriftstück war eine Zeichnung zu erkennen, vermutlich mit Kohle gemalt. Sie zeigte einen Mann, der vor einer Gestalt kniete, die nur aus Licht zu bestehen schien. Aus seinen Schulterblättern ragten Flügel. Jede Feder war einzeln per Hand gezeichnet worden. Mit viel Mühe und Geduld.

Die Jägerin stieg darüber hinweg, vergewisserte sich, dass Besqu immer noch da war und folgte ihm dann weiter. Die Bücher und Papierfetzen stapelten sich nun mittlerweile auf dem Boden. Es gab fast kein Durchkommen mehr. Als sie beinahe auf einen aufgeschlagenen Wälzer trat und an einem der Schränke Halt suchte, der daraufhin ein lautes Knacken von sich gab, blieb sie seufzend stehen. Hier kommt man ja gar nicht mehr durch!

»Ist es noch weit?«, fragte sie den Quatto etwas niedergeschlagen.

»Nein. Gleich um die Ecke befindet sich Cor. Er sollte uns schon gehört haben, aber er ist zurzeit sehr gereizt. Wahrscheinlich möchte er nicht, dass Ihr ihn von seiner Suche ablenkt.«

»Er sucht etwas? Was?«

»Der Grund des Besuchs der Bibliothek ist geheim. Es steht mir nicht zu, diese Information preiszugeben.«

Tara nickte und deutete schließlich mit ihrer freien Hand auf ihre Umgebung. Es standen kaum noch Bücher in den Schränken. Cor kann doch nicht alles ausgeräumt haben! »War er das?«

»Teilweise. Yatepa hat ihm geholfen. Er hilft ihm auch jetzt.«

»Yatepa?« Ihre Gedanken überschlugen sich. Ich habe doch versucht zu sagen, dass man ihm nicht vertrauen kann. Nicht, solange er von einem Schatten besessen ist! Er hat versucht, mich zu töten! Wir sind dann praktisch schon in Lebensgefahr! Und wo ist die Dryade? Verdammt, warum war ich nur so lange in dieser Trance?

»Herrin, alles in Ordnung?« Die helle Stimme des Quattos riss sie aus ihren Gedanken.

»Ja«, antwortete sie und zögerte. Ihr Blick wanderte zu dem Schrank, an dem sie sich festhielt. Die Regale waren sowieso fast ganz leer. Sicher könnte sie sich daran entlang hangeln und so zu Cor und Yatepa kommen. Besqu, der ihre Augenbewegung gesehen hatte, machte erschrocken einen Satz auf sie zu.

»Nein, Herrin! Das könnt Ihr nicht tun! Die Schränke dieser Bibliothek sind sehr instabil! Sie können nur die Last der Bücher ertragen, die ihnen anvertraut wurden!«

Entschlossen setzte Tara ihren rechten Fuß auf das unterste Regal, den linken daneben. Für einen kurzen Augenblick hing sie auf der Kante, bis sie nach oben griff und ihre Fingernägel in das weiche Holz bohrte. Der Schrank knarzte bei dem zusätzlichen Gewicht. Langsam schob sie sich seitwärts. Erste Schweißperlen traten auf ihre Stirn, während der Quatto hinter ihr fluchte und etwas auf seiner Sprache herunter ratterte. Ihre Arme zitterten. Auf einmal gab das unterste Regalbrett, auf dem ihre Füße standen, mit einem lauten Knacken etwas nach. Sie hielt erschrocken die Luft an und verlagerte ihr Gewicht nun etwas gleichmäßiger auf Arme und Beine.

Die Jägerin sah nach links und bemerkte, dass es nicht mehr weit bis zu der angekündigten Ecke war. Dort lagen auch weniger Bücher auf dem Boden. Schnell brachte sie den Rest der Strecke hinter sich und atmete erleichtert auf. Zufrieden mit dem, was sie getan hatte, schaute sie zu Besqu. Der Quatto hielt sich die Hände vor die Augen und schwebte wimmernd in der Luft.

»Ich bin durch«, sagte Tara, woraufhin das graue Geschöpf wieder eine normale Haltung annahm. Dennoch war er nicht begeistert.

»Wenn der Herr das erfährt. Bei Jeovi, wenn er es erfährt! Wenn er erfährt, dass ich dabei war! Bei Jeovi, dann bin ich meine Arbeit los. Bei Jeovi!«

»Alles gut. Ich werde Nurov nichts davon erzählen«, beruhigte sie Besqu. Mit einer Hand bedeutete Tara ihm, zu ihr zu fliegen, was er auch tat. »Wenn er fragt, was mit dem untersten Regal passiert ist, dann sag ihm einfach, dass es ein Krieger war. Wie vorhin.«

»Aber hier ist keiner!«

»Dann sag ihm, dass das Regalbrett schon morsch war. Die Schränke hier sind doch sicher schon sehr alt.«

Besqu nickte begeistert. »Einige über hundert Jahre! Danke, Herrin! Ich werde ihm sofort Bericht erstatten.« Mit diesen Worten flog der Quatto davon und ließ die Jägerin alleine zurück. Diese fuhr sich mit den Händen kurz durch die Haare und trat ohne zu zögern um die Ecke.

Ihr offenbarte sich eine sehr skurrile Szene. Yatepa saß an einem Schreibtisch, hielt eine Feder in der Hand und schrieb konzentriert etwas auf ein Stück vergilbten Papiers. Cor stand etwas weiter abseits, nahm wahllos Bücher aus den Schränken und stapelte sie neben dem Boten der Bärenleute auf dem Boden. Beide schienen sie nicht zu bemerken, bis sie einen weiteren Schritt nach vorne tat. Yatepa hob den Kopf und grinste.

»Auch schon wach, Narbengesicht? Hat ja lange genug gedauert. Im Gegensatz zu mir musstest du die Bibliothek einen Tag weniger ertragen als ich.«

»Nenn mich nicht Narbengesicht«, zischte Tara, auch wenn sie sich sicher war, dass sie ihn nicht mehr davon abbringen konnte, sie so zu nennen. Gedankenverloren strich sie sich über die rechte Wange, auf der das Feuermal prangte.

»Yatepa, mach weiter«, befahl Cor mit barscher Stimme. Die Jägerin sah den Wolkenleser überrascht an. Normalerweise war er immer ziemlich ruhig und beherrscht. Diese Strenge passte gar nicht zu ihm. Sie wunderte sich erneut, als der Bote sich tatsächlich wieder über das Papier beugte, die Feder in ein kleines Tintenfass tauchte und weiter schrieb. Seine Bewegungen waren stockend, sodass jedes Zeichen eckiger aussah als es vermutlich sein sollte.

»Komm her!« Auch jetzt war Cors Tonfall befehlend und duldete keine Widerrede. Zögernd trat sie zu dem Heiler heran und erschrak, als er sie am Arm packte, sodass es fast weh tat und zu sich heran zog. »Ich habe alles gehört, was du gesagt hast«, zischte er ihr ins Ohr. »Wir reden, wenn der Schatten fort und die Fee da ist. Keine Fragen!« Sein Griff lockerte sich und für jeden Außenstehenden muss es so aussehen, als wäre Tara gerade erst bei Cor angekommen.

»Hilf mir mit den Büchern. Nimm die rechte Seite von Yatepas Buch und schreibe alles ab«, sagte der Wolkenleser nun in normaler Lautstärke.

»Was? Aber...«

»Du wirst tun, was ich sage«, unterbrach er sie. »Eine Kriegerin, die weder lesen noch schreiben kann, bringt mir nichts im Kampf.«

»Kampf? Welcher Kampf? Ich verstehe nicht...« Tara drehte sich verwirrt zu Cor um und versuchte, in seinen verschiedenfarbigen Augen nach einer Antwort zu suchen. Doch sie sah nur Schwarz und Weiß. »Was geht hier vor?«

»Es wird Krieg kommen. Und nur diejenigen, die darauf vorbereitet sind, werden überleben. Ich habe mich umgehört. Schatten ziehen durch das Land. Der Perlenwald wurde von Ximou angegriffen. Im Gion-Gebirge sind Löwen mit Vogelköpfen und Flügeln gesichtet worden. Es gibt Gerüchte über einen Mordanschlag auf den König. All dies sind Zeichen, die in einem Gedicht aus der Zeit erwähnt werden, als es noch viel mehr magiebegabte Wesen gab. Aus der Zeit nach der Zerstörung des Großen Tors, durch das alle Wesen in die Goldene Welt gekommen sind. Und du Tara, wirst noch eine wichtige Rolle spielen. Du bist eine kleine Seherin, wie du schon festgestellt hast. Nur du hast die Möglichkeit, Geheimnisse zu lüften, die schon in Vergessenheit geraten sind.« Der Wolkenleser schob sie drängend zu dem Schreibtisch. »Setz dich neben Yatepa und schreibe alles auf der rechten Seite ab. Die linke gehört Yatepa. So werdet ihr schneller fertig.«

»Aber ich verstehe nicht einmal, was da steht! Und ich kann nicht schreiben!«

»Das wirst du.« Cor lächelte sie zum ersten Mal seit ihrem Erwachen an. Sie nickte ergeben und drehte sich um. Beim Weggehen spürte sie den Blick des Heilers in ihrem Rücken und sie hatte das Gefühl, er könnte durch ihre Kleidung hindurch sehen, was sich durch ihre Haut gebohrt hatte. Sie war sich sicher: Es war etwas, das sie kannte. Doch konnte sie es nicht einordnen. Es war zu absurd.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top