Der Wolkenleser
»Wie die Farben des Regenbogens
sehen Wolkenleser die Wahrheit.«
AUS DEM WERK
»GEHEIMNISSE DES WISSENS«
Cor lächelte. Nicht, weil etwas Gutes passiert war, sondern weil er jetzt Gewissheit hatte. Schon bei dem ersten Waldbrand hatte der Wolkenleser gespürt, dass Tara etwas Besonderes war. Damals hatte er in ihrer Aura nur das Grün der Entschlossenheit gesehen, ein tiefes und sehr intensives Smaragdgrün. Eine überaus seltene Farbe, die er nur ein einziges Mal gesehen hatte und danach nicht mehr. Bis jetzt.
Tara regte sich leicht in ihrem tiefen Schlaf, in den sie verfallen war, nachdem Cor ihr etwas Baldriantee zu Trinken gegeben hatte. Schon seit Langem benutzten die Wolkenleser dieses Kraut, um Verletzte zu beruhigen. Er wusste nicht, wer von ihnen diese Wirkung herausgefunden hatte. Er wollte es auch nicht wissen. Er wusste auch schon so zu viel. Deshalb hatten sie auch nach seinem Tod getrachtet. Erst als Cor sich ins Exil zurückgezogen und das Gerücht in Umlauf gebracht hatte, er sei gestorben, hatte er Ruhe gehabt. Ruhe vor den anderen Wolkenlesern.
Der alte Mann beugte sich leicht über Tara und strich ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht. Ja, sie war etwas Besonderes. Würde sie auch eine Wolkenleserin werden? Er wusste nicht, ob das wirklich möglich war, aber falls doch, so wäre es das erste Mal in tausend Jahren. Cor hatte sie auch nie danach gefragt, ob sie Zeichen in den Wolken sah und an den Auren der Leute um sie herum deren Gefühle ablesen konnte. Er selbst wusste auch nicht, ob es in einem so jungen Alter überhaupt schon möglich war, diese Fähigkeiten zu entwickeln. Jedenfalls konnte der Wolkenleser sich nicht daran erinnern. Und auch an nichts Anderes. Es war, als hätte es ihn nie gegeben bis zu diesem einen Moment am Ufer des Sees.
Cor konnte sich noch ganz genau daran erinnern, an diesen ersten Moment seines Lebens, wie er es kannte. Es war Nacht gewesen. Damals hatte er keine Sterne gesehen und war furchtbar traurig und ja, erschrocken gewesen. Nur warum? Wie konnte er traurig gewesen sein, wenn er doch wusste, dass es sie trotzdem gab, die Sterne? Da war etwas in seinen Gedanken gewesen. Etwas, dass ihn dazu gebracht hatte, traurig zu sein. Eine schlimme Befürchtung. Was war passiert vor diesem einen Moment am See? Er konnte doch nicht einfach den Wellen entstiegen sein. Oder doch? War er ein Kind des Wassers? Doch warum hatte er dann keinen Fischschwanz wie die Nixen? Nein, er war ein Wolkenleser. Kein Zweifel.
Wieder bewegte Tara sich und murmelte leise etwas vor sich hin. Das hatte sie beim ersten Waldbrand auch getan. Was sie wohl dazu gebracht hatte, Yatepa und den anderen Kriegern zu folgen? Und dann auch noch auf einem jungen Pferd, das nicht eingeritten war? Semal hatte ihn auf den schwarzen Hengst aufmerksam gemacht, der alleine, aber gesattelt und voller Schweiß, im Lager aufgetaucht war. Eigentlich hätte Cor dann schon Schlimmes befürchten müssen, doch dem war nicht so. Er hatte dem blonden Jungen befohlen, hier zu bleiben. Schließlich befand sich Tara in Limacs Obhut; so dachte er jedenfalls. Doch nun waren alle gestorben, die mit dem Anführer oder dem Bote der Bärenleute losgezogen waren. Alle, bis auf Tara.
Es war wie ein Wunder gewesen, dass sie die Flammen überlebt und nur mit ein Paar Brandwunden am Rücken davongekommen war. Dabei wäre das eigentlich unmöglich gewesen. Cor selbst war überrascht gewesen, als er sie ohnmächtig direkt vor der Tür seiner Hütte aufgefunden hatte. Wie war sie dorthin gekommen? Es konnte doch nicht sein, dass sie sich die ganze Strecke vom Verbotenen Tal bis hierhin geschleppt hatte! Sie hatte nicht die Kraft dazu, noch nicht. Jemand muss ihr geholfen haben. Jemand hatte sie getragen, ja, so muss es gewesen sein. Nur wer? Wer war so ehrenhaft gewesen, mit einer wehrlosen Jägerin auf dem Rücken vor dem Waldbrand zu fliehen und doch zu bescheiden, um als Held und Retter da zu stehen? Es muss einfach ein Mann gewesen sein. Keine Frau hätte die Kraft gehabt, mit einer Last auf dem Rücken schnell genug vor dem Feuer zu fliehen. Jemand musste den Waldbrand überlebt haben. Aber wer?
Cors Gedanken wurden von einer Aura unterbrochen, die sich in sein Wahrnehmungsfeld schob. Blendendes Weiß vermischte sich mit einem hellen Blau. Die Farben der Liebe und der Angst. Der Wolkenleser war nicht überrascht, Semal zwischen den langen Schnüren des Perlenvorhangs zu sehen. Der junge Krieger hatte sich schon lange in Tara verguckt. Doch sie hatte das nicht bemerkt und nahm seine Gefühle als feste Freundschaft auf. Der alte Mann wusste, dass Semal sich etwas mehr erhoffte, als das, aber daraus würde nichts werden. Cor kannte Tara zu gut und wusste, dass der blonde Junge immer ein Freund für sie bleiben würde. Nicht mehr und nicht weniger.
Mittlerweile hatte Semal seine Hütte betreten und das Blau der Angst in seiner Aura verstärkte sich, als er Tara auf dem Krankenbett liegen sah. Langsam streckte er seine Hand nach ihr aus und strich ihr zärtlich über das schwarze Haar, zog sie jedoch sofort wieder zurück, als er den Blick des Heilers bemerkte. Das Rosa der Verlegenheit mischte sich nun mit den anderen beiden Farben.
»Wird sie überleben? Ich möchte nicht, dass sie... Ich hoffe... Ich...« Nun bildete sich ein Hauch von Trauer um seine Aura und verdrängte die Verlegenheit. Der junge Krieger sah den Heiler hoffnungsvoll an.
Der Wolkenleser lächelte ihm aufmunternd zu, wie er es an diesem Morgen schon vielen anderen getan hatte. »Sorge dich nicht. Es ist nur eine kleine Verbrennung an ihrem Rücken.« Cor wusste, dass er untertrieb, doch Untertreibungen waren immer besser, wenn die Leute, die zu ihm kamen, voller Sorge um einen ihrer Freunde waren.
Semal nickte leicht und sah Tara nochmal an. Dann wandte er sich wieder an den alten Mann. »Wenn du irgendwelche Kräuter brauchst, kannst du es mir gerne sagen. Ich laufe dann in den Wald und hole welche.«
»In welchen Wald?«, fragte Cor schmunzelnd. »Das Drachenfeuer hat alles vernichtet, was uns lieb und teuer war. Es gibt keine Bäume mehr, keine Pflanzen und keine Tiere. Die Hitze hat das Wasser in den Bächen und Flüssen verdampfen lassen und Felsen geschmolzen. Das ist kein normaler Waldbrand gewesen, Junge. Das war die Wut des Drachen Ximou, die auf uns zurückgefallen ist. Denn so wie wir damals seine Brut vernichtet und ihn geschwächt hatten, so hat er es auch mit uns getan.«
Der junge Krieger sah ihn zweifelnd an, was sich auch in seiner Aura widerspiegelte. Sie färbte sich Orange. »Irgendwo muss es aber noch Leben geben. Wir können doch nicht die einzigen Überlebenden sein? Wo sind denn die Bärenleute? Sie haben den Waldbrand sicher überlebt! Ich könnte sie um Kräuter bitten!«
Cor schüttelte den Kopf. Er hatte die Zeichen in den Wolken gesehen. Keiner durfte das Lager verlassen. Nicht einer. Schlimmes würde passieren. Ximou würde sie alle auslöschen. Für immer. So wie er es mit den Bärenleuten getan hatte. Nur einer von ihnen lebte noch, das hatte ihm eine große Sturmwolke gesagt. Die Wolke, die in der Nacht das Feuer gelöscht hatte. Als Gegenleistung für ihre Dienste musste er dafür sorgen, dass niemand das Lager der Wolfsleute verließ.
»Semal, das einzige, was Tara jetzt braucht, ist Ruhe. Sie braucht keine Kräuter und du darfst nicht in den Wald gehen, hörst du?« Den letzten Satz hatte Cor zu fordernd ausgesprochen, das sah er an dem Orange in der Aura des Jungen. Der Wolkenleser seufzte. »Geh lieber zu deinen Eltern und hilf ihnen, die verbrannten Stellen eures Hauses zu reparieren«, sagte er, nun etwas freundlicher.
Der Zweifel verschwand, genauso wie die Trauer und die Angst. Nur das Weiß der Liebe blieb, als Semal die Hütte des Heilers verließ. Hinter ihm schlugen die Schnüre des Perlenvorhangs wieder zusammen und nach und nach wurden ihre Schwingungen immer ruhiger.
Cor sah wieder zu Tara. Immer noch war dieses Smaragdgrün der Entschlossenheit in ihrer Aura zu sehen. Das war nicht normal. Niemand der Wolfsleute hatte diese Farbe je in seiner Aura gehabt. Niemand, bis auf Tara. Etwas an ihr war Besonders. Und er würde herausfinden, was.
Ächzend erhob der Wolkenleser sich von dem Stuhl und ging hinaus. Draußen erwartete ihn ein reges Treiben. Die meisten Familien flickten provisorisch ihre Häuser und die, die fertig waren, halfen anderen. Einige drehten sich nach ihm um, als er heraustrat, und winkten ihm freundlich zu. Er winkte zurück.
Die meisten von ihnen hatten einen gewissen Respekt vor dem Wolkenleser. Cor wusste auch, warum. Er brauchte nur in den Spiegel zu schauen, um das leere, glasige Auge zu sehen. Drei wulstige Narben zogen sich parallel zueinander von seinem Haaransatz bis über die Wange hinunter zum Kinn. Und trotzdem konnte er mit diesem Auge sehen, auch wenn er es keinem sagte. Es war einfach nur seltsam. Er hatte diese Narben schon gehabt, als er damals am Seeufer erwacht war. Der Wolkenleser hatte ins Wasser gesehen und war seltsamerweise völlig ruhig gewesen. Als wüsste er, dass dieser Makel da sein würde. Er war auch nicht überrascht gewesen, als er die langen, weißen Haare gesehen hatte, die auf seine Schultern fielen. Durchsetzt von einigen schwarzen Strähnen. Auch über den Bart schien er Bescheid gewusst zu haben. Nur eins hatte ihn erschrocken. Das andere Auge. Dieses Auge beschäftigte ihn immer noch. Wie konnte das sein? Wie war so etwas möglich? Sein anderes Auge, es war vollkommen Schwarz. Ohne Pupille, ohne das Weiße und ohne die Lichtreflexe, die eigentlich auf jedem Auge zu sehen sein müssten. Nur bei ihm nicht. Es erschien ihm, als würde die Schwärze alles Licht verschlingen.
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