Der Puppenspieler
»Strategie hat oberste Priorität
in einem Gunzar-Spiel.
Opfert eine Fee, wenn nötig,
aber lasst den Feind nie
an den König heran.«
AUS DEM WERK
»DIE KUNST DES GUNZAR«
Der Weg vom Armenviertel bis zum Stadttor war nicht lang gewesen. Dafür war die Straße so voller Menschen und sogar einigen Elfen und Zwergen, dass Yudra unmöglich sichergehen konnte, keinen Verfolger hinter sich zu haben. Eher würde ihr Verfolger ausgezeichnet getarnt sein. Sie hatte das Seidenkleid gegen ihre Lederkleidung ausgetauscht, die sie auch schon beim Einbruch ins Haus des Generals getragen hatte, und ihre Haare schwarz gefärbt. Hadamars Handlanger würde sie damit vielleicht täuschen können, aber nicht Zenit Schwarzbart und seine Leute.
»Pass auf, wo du hinläufst!«, motzte ein vorbeigehender Mann sie an. Schnell senkte die Dryade den Blick und eilte weiter, Cors Stab dicht an sich gepresst. Er war die einzige Waffe, die ihr geblieben war, nachdem der Schatten Hadamars Dolch zerstört hatte.
Die Schlange vor dem Stadttor war so kurz, dass Yudra fast sofort an die Reihe kam. Ein erleichtertes Aufseufzen entwich ihr, als sie feststellte, dass keiner der Soldaten das verräterische Blau unter seiner Rüstung trug. Nachdem sie einen gebrechlichen Alten mit einem Wagen voller Stroh durchgewinkt hatten, wandten sie sich ihr zu. Sie rang sich ein freundliches Lächeln ab.
»Ihr wollt Zowuza doch wohl nicht so kurz vor dem Fest der Geister verlassen, meine Dame?«, sprach einer der Wachmänner sie an.
»Meine Mutter liegt im Sterben«, log sie und bat Jeovi um Vergebung, sich so einer dreisten Ausrede zu bedienen.
Der Soldat wirkte ehrlich betroffen. »Mein Beileid.« Er räusperte sich und langte nach dem dicken Buch, das in einer Mauernische lag. »Wie lautet Euer Name?«
Aus Reflex wäre die Erdfee beinahe aus ihrer Haut gefahren, konnte sich jedoch gerade noch rechtzeitig zusammenreißen. »Yudra«, antwortete sie mit dem Namen, den Cor bei ihrer Ankunft angegeben hatte.
»Ich meine den Nachnamen.«
Der Nachname. Yudra kannte ihn. Cor hatte sie alle als Mitglieder der Familie Nan Monar vorgestellt. Trotzdem zögerte sie. Warum dauert das so lange? Der Soldat musste ihre Unsicherheit bemerkt haben, denn er ließ das Buch sinken. Sein Kollege trat näher heran. Seine Hand ruhte auf dem Schwertgriff, bereit, es jederzeit zu ziehen, falls nötig.
»Nun?«, hakte der Mann mit dem Buch nach. Seine Stimme hörte sich keineswegs mehr freundlich an. »Ich warte.«
Yudra setzte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf als könnte sie sich nicht erinnern, um die Zeit etwas in die Länge zu ziehen, als sich plötzlich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte. »Entschuldigt meine Schwester, werte Herrschaften. Sie leidet unter geistiger Verwirrung. Eine Krankheit. Keine Sorge, sie ist nicht ansteckend.«
Die Dryade wirbelte herum und riss vor Schreck die Augen auf. Vor ihr stand Bodayas, neben ihm wedelte ein schwarzer Hund, dessen Gesicht seltsam plattgedrückt war, mit dem kurzen Schwanz. »Es ist nicht...«, brachte sie noch heraus, bevor der Elf sie unsanft am Arm packte und mit sich zog.
»Es ist nicht, wonach es aussieht!«, beendete die Erdfee ihren Satz, sobald sie sich weit genug entfernt hatten. Unweit des östlichen Wachturms blieben sie stehen und funkelten sich gegenseitig wütend an.
»Ach ja? Und was soll es sonst sein? Ein kurzer Rundgang außerhalb der Stadt, von dem du nicht mehr wiederkommst?« Bodayas trat so dicht an sie heran, dass sie jeden seiner Atemzüge auf ihrer Haut spüren konnte. »Ich wusste, dass Elfen keine Loyalität kennen, aber dass du selbst deine eigenen Freunde im Stich lässt, hätte ich nie erwartet!«
Du weißt gar nichts, dachte sie grimmig. »Du bist selber ein Elf und redest so über dein eigenes Volk?«
Das hätte sie besser nicht sagen sollen. Bodayas schrie frustriert auf, packte sie an der Kehle und rammte ihren Kopf grob gegen das harte Gemäuer. Ihr Sichtfeld wurde für einen kurzen Moment schwarz und sie spürte, wie die Wunde wieder aufriss. Cors Stab fiel ihr aus den Händen, während sie versuchte, ihrem Widersacher einen Tritt zu verpassen. Bodayas drückte zu. Panisch schnappte Yudra nach Luft und umfasste die Handgelenke des Elfen, um ihn von sich zu stemmen, doch es war hoffnungslos. Er war zu stark. In seinen dunkelbraunen Augen loderte eine ungebändigte Wut.
»Ich gehöre nicht mehr zu meinem Volk«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Sie haben mich verstoßen und verraten. Sie haben mir alles genommen, was ich je hatte.«
Die Dryade war der Bewusstlosigkeit nahe. Ihre Augenlider flatterten und sie spürte warmes Blut ihren Nacken hinablaufen.
»Ich bin der einzige meiner Art, der noch weiß, was die Wörter Loyalität und Ehre bedeuten. Man bleibt seinen Verbündeten treu. Bis zum Schluss. Bis in den Tod.«
Endlich ließ Bodayas von ihr ab. Hustend und keuchend brach Yudra zusammen. Ihre Arme zitterten, ihr Kopf war schwer. Ungläubig tastete sie über ihren Hals und ihren Hinterkopf. Vor Schmerz zuckte sie zusammen. Schwankend erhob sie sich auf die Beine, wobei sie Halt am Stein des Turms suchen musste. Der Krieger stand einige Schritte von ihr entfernt und drehte ihr den Rücken zu. Der schwarze Hund hockte brav neben ihm.
»Und was wirst du jetzt tun?«, krächzte die Erdfee. Jedes Wort war eine Qual für ihre geschwundene Kehle. »Mich umbringen?«
Bodayas reagierte nicht. Hat er mich nicht gehört? Ihr Blick huschte zu der Menschenmenge, die sich durch die Straße bewegte. Keiner war stehen geblieben, um ihr zu helfen. Vielleicht waren sie zu vertieft in ihre eigenen Gespräche gewesen. Oder sowas gehört einfach zu Zowuzas Stadtleben, dachte sie verbittert. Wenn sie es schaffte, sich unter die Leute zu mischen und zum Marktplatz zu kommen, hätte sie eine Chance, ihm zu entkommen. Aber das war es nicht, was sie wollte... Zeit, ich brauche Zeit. Tara, Yatepa und Nurov brauchen Zeit.
»Nicht umbringen«, sagte der Elf plötzlich und drehte sich wieder zu ihr um. »Der General möchte dich lebend.« Die Fee wollte zurückweichen, doch in ihrem Rücken befand sich nur kalter Stein. »Wahrscheinlich hast du schon geahnt, dass die zwölf ›interessierten Leute‹, wie der General uns vorgestellt hat, eigentlich für ihn arbeiten. Wir sind Ausgestoßene, Verratene, Dreck in den Augen anderer. Aber er hat uns geholfen, hat an uns geglaubt. Deswegen haben wir ihm die Treue geschworen. Du fragst dich sicher, warum ich mich ihm angeschlossen habe. Warum er in mir die Größe sieht, die für mein Volk eine Schande ist. Soll ich es dir zeigen?«
Er wartete gar nicht auf ihre Antwort. Stattdessen schloss er einfach nur die Augen. Ihr Blick richtete sich auf den schwarzen Hund. Sie erwartete, endlich das bestätigt zu bekommen, was sie bereits vermutet hatte, aber das Tier blieb vollkommen ruhig. Verwirrt schaute sie zurück zu Bodayas. Was tut er? Mit einem Mal spürte sie, wie ihr schwindelig wurde. Erst glaubte sie, das wären die Nachwirkungen des harten Schlags gegen die Wand, doch als sie ohne es zu wollen die Hand hob und damit dem Elfen vor ihr sanft über die Wange fuhr, fing sie allmählich an, zu begreifen. »Mich mögen alle Tiere«, hatte er gesagt, aber in seinen Augen... In seinen Augen sind alle anderen Tiere. Er kann nicht nur Hunden und Pferden seinen Willen aufzwingen, sondern jedem Beliebigen.
Verzweifelt versuchte Yudra, sich zu wehren. Irgendwie. Sie wollte das nicht. Sie wollte ihn nicht streicheln, sie wollte ihm nicht so nahe sein. Wie eine Puppe zur Belustigung des Puppenspielers an ihren Fäden tanzte, tanzte sie nun an Bodayas' eisernem Willen. Die Dryade fühlte seine unweigerliche Präsenz in ihrem Kopf, in ihren Gedanken. Er lenkte sie auf sich zu. Sie könnte sich übergeben vor Ekel, doch er verbot es ihr. Sagte ihr, dass sie ihn küssen sollte.
Mit aller Kraft stemmte Yudra sich gegen seine Magie. Aber ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Er gehörte ihr nicht mehr. Sie war eine leere Hülle. Nur die Tränen in den Augen waren noch ihre, als sie die Lippen auf die seinen presste. Das genügte ihm. Ungelenkig, dann immer kontrollierter, lenkte Bodayas ihren Körper vom Turm weg. Sie passierte die Pfandleihe mit den Wappen des Schneevolkes, den Laden eines Heilers und einen Schuster, überquerte eine Straße und fand sich im Zentrum der Stadt wieder. Ihre Füße führten sie zu einem Haus, das sie am liebsten niederbrennen würde. Das Haus des Generals. Sie befahl sich selber, umzudrehen. Jetzt sofort! Hoffnungslos. Ihre Schritte wurden nicht einmal kleiner.
Heiße Tränen rannen ihre Wangen hinab, als sie klopfte. Der kahlköpfige Sklave, der Nurov und ihr auch schon bei ihrem ersten Besuch geöffnet hatte, erschien im Türspalt. »Zenit Schwarzbart, General von Zowuza empfängt keine...«
»Halt dein schändliches Maul, Nack, und hol sofort den General«, unterbrach die Dryade den Mann. Auch ihre Stimme war nicht mehr dieselbe. Sie klang rauer, tiefer, männlicher. Vor Verzweiflung wollte sie am liebsten laut schreien. Unmöglich.
Der Sklave hingegen schien nicht überrascht zu sein. »Hast du also wieder ein Spielzeug gefunden, Bodayas?« Yudras Ohrfeige traf ihn so hart, dass er gegen den Türrahmen geschleudert wurde. »Der General wird sofort hier sein«, grummelte der Mann und eilte davon, wobei er sich die gerötete Wange rieb.
Es dauerte nicht lange, bis Zenit Schwarzbart auftauchte. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Dann hat einer von ihnen also doch versucht, zu fliehen«, knurrte er. »Schick das Miststück schlafen, Bodayas, ich kümmere mich um sie.«
Die Dryade sah nur noch, wie die Augen des Generals wütend aufblitzten. Dann versank alles in tiefer Dunkelheit.
***
Als sie wieder zu sich kam, war ihr furchtbar kalt und sie hatte schreckliche Kopfschmerzen. Für einen kurzen Moment wallte Verwirrung in ihr auf, bis ihr alles wieder einfiel und Panik die Kontrolle übernahm. Wohin hat er mich gebracht? Wo bin ich? Haben Tara, Yatepa und Nurov es geschafft? Verzweifelt tastete sie sich durch die Finsternis und fühlte sich so hilflos wie damals kurz vor dem Arenakampf beim Schneevolk. Nur dass ihr jetzt nicht mal ihre Magie helfen konnte.
Es dauerte nicht lange, bis ihre Finger auf die erste Wand stießen. Glatter Stein. Sehr robust. Nach einigem Umherrutschen auf dem Boden kam sie zu dem Schluss, dass ihr Gefängnis eine viereckige Kammer tief unter der Erde war. Auf einer Seite des Raumes befand sich eine Eisentür. Jedenfalls vermutete sie, dass es eine war. Sie war nur ein Umriss aus Spalten im Stein.
Plötzlich knirschte es. Ein heller Lichtstrahl durchstach die Dunkelheit und blendete sie. Schnell hielt Yudra eine Hand vors Gesicht und kniff die Augen zusammen.
»Ich hoffe, Bodayas war nicht zu grob zu dir«, ertönte die Stimme des Generals. »Manchmal erlaubt er sich einen Spaß mit seinen Puppen, bevor er sie zu mir bringt.«
Langsam gewöhnte die Dryade sich an die Helligkeit und konnte die Hand wegnehmen. Schwarzbart musste eine Klappe in der oberen Hälfte der Tür geöffnet haben, denn nur in einem kleinen Rechteck flackerte das Feuer einer Fackel. Trotzig starrte sie der Öffnung entgegen in dem Bewusstsein, dass der General jede ihrer Bewegungen beobachtete.
»Also hat er es diesmal gelassen.« Zenit Schwarzbart lachte auf. »Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ich euch die Zeit, in der ich nicht da bin, unbeobachtet lasse, oder? Bist du wirklich so dumm? Ich habe dich klüger in Erinnerung. Als Nurov und du bei mir ankamt und von einem Kampf gegen Gasoka gefaselt habt: Herrlich war das! Ihr hättet euch besser über meine Hintergrundgeschichte erkundigen sollen. Das war euer erster Fehler.«
»Ich nehme an, wo es einen ersten Fehler gibt, gibt es auch einen zweiten und dritten?«, feixte Yudra.
Das Lachen des Generals hallte laut von den Wänden wider. »Ihr habt durchgängig nur Fehler gemacht! Zum Beispiel dein Freund, der Wächter des Wissens.«
Die Erdfee erstarrte. Er ist auf dem Weg nach Chala, alles ist gut. Er versucht nur, dich zu verunsichern. Lass ihn reden.
»Er hat doch tatsächlich geglaubt, dass es so leicht ist, in mein Haus einzubrechen!«
»Und du hast doch tatsächlich geglaubt, der Schlauste von allen zu sein«, konnte Yudra sich nicht zurückhalten. Sie verdrängte die Sorge um Beihun in die hintersten Winkel ihrer Gedanken. Das konnte warten. Jetzt zählte nur, dass ihr Plan aufging. Ihr eigener, geheimer Plan, den sie sich in der ersten Nacht im Geisterhaus erdacht hatte. Nurov kannte nur den Teil, den sie ihm erzählt hatte. Er und die anderen dachten, dass sie den General und seine Leute ablenken, ihnen aber entkommen und später außerhalb von Zowuza mit ihnen zusammentreffen würde. Aber das würde nicht so sein. Sie musste sichergehen, dass die anderen drei sicher fliehen konnten und das ging nur, wenn sie Schwarzbart und vor allem Bodayas lange genug beschäftigte. Ihr war klar gewesen, dass sie wahrscheinlich gefangen genommen werden würde, aber das war ihr egal. Wichtig war nur, dass die anderen, dass Tara in Sicherheit war.
Die Fackel vor der Tür schwenkte etwas zur Seite und das Gesicht des Generals kam zum Vorschein. »Was hast du gesagt, Miststück?«
»Ich weiß, dass du Tara beobachten lässt«, verkündete sie mit einem schiefen Lächeln auf dem Gesicht. »Bodayas hat die Fähigkeit, anderen Wesen ihren Willen aufzuzwingen, habe ich recht? Cabricho hätte nie freiwillig zugelassen, dass er ihn streichelt.«
»Was für ein... Wovon redest du?« Die Stimme des Generals wurde schärfer, wütender.
Beschäftige ihn weiter, sagte Yudra zu sich selbst. Zeit, erkaufe ihnen mehr Zeit. »Cabricho ist der Hengst, dem Bodayas einst seinen Willen aufgezwungen hat. Er hätte das nicht tun dürfen. Mit seinen eigenen Fähigkeiten anzugeben gehört sich nicht. Außerdem war es doch recht auffällig, dass immer ein Hund in Taras Nähe war, wenn sie aus der Bibliothek oder dem Geisterhaus ging. Ich frage mich, warum du sie überhaupt im Auge behalten wolltest?«
Eine Weile regte sich nichts. Dann schlug die Klappe der Tür zu und ließ sie alleine in der Finsternis. Erschrocken fuhr Yudra zusammen. Eine leichte Panik stieg in ihr auf. Warum hat er nicht geantwortet? Habe ich... Das Entsetzen traf sie wie ein harter Schlag. »Ich frage mich, warum du sie überhaupt im Auge behalten wolltest?«, hatte sie gefragt. Ohne es zu wissen, hatte sie dem General einen Hinweis darauf gegeben, was sie vorgehabt hatte. Ihn und Bodayas abzulenken, um Tara, Yatepa und Nurov die Flucht zu ermöglichen. Seine Auffassungsgabe war nicht zu unterschätzen. Ihre Hände ballten sich fast von allein zu Fäusten. Die Fingernägel gruben sich schmerzhaft in ihre Haut. Bitte, Jeovi, mach, dass sie Zowuza schon verlassen haben!
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