Der Elf und der Fisch
»Folge der Spur.
Die Purpurmuscheln weisen dir den Weg
an den Ort deines Schicksals.
Jedes Mal.
Vertraue.
Glaube.
Und du wirst sehen.«
AUFZEICHNUNG EINES UNBEKANNTEN VERFASSERS,
10 DGW
Es erschien ihm, als würde die Dunkelheit alles Licht verschlingen. Aktur hielt mitten im Schwimmzug inne und breitete die Arme etwas aus, um nicht gegen eine der Tunnelwände zu stoßen. Seit er die Schicksalsschwestern verlassen hatte, waren mehrere solcher Augenblicke vergangen. Augenblicke der Orientierungslosigkeit. Es tat ihm wirklich nicht gut, so lange in vollkommener Finsternis umher zu irren. Doch er musste weiter, immer weiter und weiter. Bloß hinaus aus diesem Loch!
Die beiden Nixen hatten ihm sein Schicksal gezeigt – warum auch immer – und es hatte ihm nicht gefallen. Hals über Kopf war er aus dieser schrecklichen Höhle geflohen, begleitet von ihrem Lachen. Besonders der Rothaarigen schien es Freude bereitet zu haben, ihn leiden zu sehen. Sie war es gewesen, die ihm die Visionen seiner Zukunft geschickt hatte. Einer Zukunft voller Kampf, Blut und Tod. Nun wusste Aktur, wie er sterben würde. Er wusste um seinen Tod. Zwar hatte der Elf nur eine Hand gesehen, die das Schwert gehalten hatte, doch das war ihm genug. Mehr wollte er auch nicht wissen.
Nach dem nächsten Schwimmzug war immer noch alles dunkel. Wo ist dieser verdammte Ausgang? Aktur atmete noch einmal durch die Kiemen ein und aus. Dieser Zauber war sehr praktisch für ihn. Ob er wohl aufhören würde, sobald er den nicht enden wollenden Tunnel verlassen hatte? Nicht daran denken!, schwor der Elf sich und schwamm weiter. Ich werde die Wasseroberfläche erreichen und nicht in dieser Grotte ertrinken!
Er konnte nichts sehen und orientierte sich daher allein an seinem Gehör. Unter Wasser schien es sogar noch besser zu funktionieren als außerhalb. Das lag wohl allein an den Wellen, die hier überall irgendwo gegen brandeten.
Die Tunnelwände rückten immer mehr zusammen, sodass Aktur aufpassen musste, nirgendwo gegen zu stoßen. Oder war das nur eine Illusion? Er hatte ja am eigenen Leib gespürt bekommen, wie machtvoll die Magie der beiden Wasserfeen waren. Ob sie jetzt vielleicht versuchten, ihn zur Rückkehr zu bewegen? Nein, sicher nicht. Und wenn schon, er würde der Rothaarigen keinen Anlass mehr dazu geben, ihn zu quälen. Allein ihre Worte konnten ihn schon in tiefe Trauer stürzen.
Mione, dachte er stumm. Hat sie wirklich die beiden Schwestern darum gebeten, sie umzubringen, nur damit sie keine Besessene der Schwarzen Magie wurde? Ist so etwas überhaupt möglich? Kann eine Form der Magie jemandem wirklich schaden? Oder haben die Schicksalsschwestern sich das einfach nur ausgedacht? Wobei, ich habe den Nadgore am eigenen Leib erlebt...
Aktur seufzte und ließ kleine Luftblasen aus seinen Kiemen aufsteigen, die ihn auf der Haut kitzelten. Diese Dunkelheit! Hätte er doch bloß einige der leuchtenden Fische mitgenommen! Dann könnte er wenigstens etwas sehen! Doch so...
Der Elf schloss die Augen. Genauso gut könnte er auch blind durch den Tunnel schwimmen. Es machte sowieso keinen Unterschied. Aber nach etwa zehn Herzschlägen öffnete er sie wieder. Er fühlte sich einfach nicht sicher genug. Und falls es hier irgendwelche verborgenen Abzweigungen gab, würde er sie sicher verpassen.
Aktur neigte leicht den Kopf zur Seite, um seinen Nacken zu entspannen und plötzlich blitzte ein kleinen Licht in seinem Augenwinkel auf. Sofort blieb er stehen. War hier irgendwo der Ausgang? Vorsichtig tastete der Elf mit den Füßen nach dem Tunnelboden, um besseren Halt zu haben. Schwammige Algen strichen über seine Haut und er erschauerte. Er war das Leben im Wasser einfach nicht gewöhnt.
Nochmal schaute er sich um und ja, wieder blitzte für einen kurzen Moment Licht auf. Diesmal jedoch etwas heller. Es schien zu flackern wie eine Fackel, die stetigem Wind ausgesetzt war. Was war das? Es konnte jedenfalls nicht der Ausgang sein, sonst würde das Licht nicht Ab und Zu aufleuchten und dann wieder verschwinden. Der Elf wartete noch etwas und schaute ganz genau hin, als es zum dritten Mal aufblitzte und nun weder flackerte noch erlosch.
Was er sah, war einer der leuchtenden Fische, die er bisher nur in den Höhlen und nicht in den Tunneln gesehen hatte. Vorsichtig streckte Aktur seine Hand nach dem Lebewesen aus, es rührte sich nicht von der Stelle. Erst, als er seine Schuppen berühren wollte, wich der Fisch zurück und hielt etwas weiter wieder inne.
»Hast du dich auch verschwommen?«, fragte der Elf, obwohl er wusste, dass der Fisch ihm nicht antworten konnte. Er gehörte nicht zu den Wesen, denen die Gabe, zu sprechen geschenkt wurde. Stumm wie ein Fisch eben. Dennoch schien der Kleine ihn zu verstehen. Für einen kurzen Augenblick verlosch das Licht und entflammte erneut. Dann fing der Fisch an, wie verrückt im Kreis zu schwimmen, nur um dann stehen zu bleiben und wild zu blinken. Er erinnerte Aktur etwas an die seltsamen fliegenden Quallen, denen er im Silberwald begegnet war.
Das muss ich mir notieren, sobald ich hier raus bin, beschloss der Elf, nahm es jedoch sofort wieder zurück, als ihm einfiel, dass er sein Notizbuch ja in den Wald geworfen hatte. Er musste seine Gefühle besser beherrschen, wenn er wirklich nach diesem Wolkenleser suchen wollte. Und das wollte er. Die Einwände der beiden Nixen hatten ihn keineswegs beeindruckt. Im Gegenteil, er wollte ihnen beweisen, dass er es schaffen konnte Cor zu finden. Und überhaupt, warum hätte Mione ihn auf eine Suche geschickt, die Vergebens wäre? Nein, so etwas traute er ihr nicht zu.
Mittlerweile hatte der Fisch sein Blinken eingestellt und starrte Aktur aus seinen bewegungslosen Augen herausfordernd an. Konnten Fische herausfordernd gucken? Der Elf schüttelte den Kopf. Ich bilde mir das alles nur ein. Oder aber die beiden Schicksalsschwestern wirken irgendeinen tückischen Zauber. So oder so, ich muss dringend hier raus.
Er blickte den Fisch abschätzend an. Konnte er ihn wirklich verstehen? Einen Versuch war es wert. »Lieber Fisch, könntest du mit deinem Licht vielleicht den ganzen Tunnel erhellen? Dann komme ich schneller hier raus. Ich könnte dich auch mitnehmen bis nach draußen. Das möchtest du doch sicher. Warum sonst würdest du hier allein in den Tunneln umher schwimmen?«
Als hätte der Fisch ihn verstanden, blinkte er mehrmals und verstärkte sein Licht um gerade so viel, dass Aktur seine Füße und die Wände um ihn herum sehen konnte. Wenigstens etwas.
Mit weit ausholenden Armbewegungen schwamm der Elf weiter und kam wesentlich schneller voran als vorher, da er jetzt nicht mehr darauf achten musste, gegen keine der Tunnelwände zu schwimmen. Nun konnte er auch die grünlich-braunen Algen erkennen, die fast überall auf dem Stein wuchsen. Im eisblauen Licht des Fisches sahen sie etwas unwirklich aus. Aus einigen Löchern in den Wänden schauten Muränenköpfe, ihre Mäuler mit den spitzen Zähnen waren gierig geöffnet. Es war ein Wunder, dass er noch nicht von ihnen gebissen worden war. Andererseits konnten die Muränen sich jederzeit schnell in ihre Grotte zurückziehen.
Grotte, so konnte man das Zuhause der Schicksalsschwestern am besten bezeichnen mit ihren vielen Tunneln, Höhlen und Löchern. Der leuchtende Fisch wies Aktur den Weg und hatte sich ein paar Armlängen vor ihn begeben, sodass der Elf seine Arme weit genug nach vorne strecken konnte, um zu schwimmen.
Nach einer ganzen Weile erblickte er ein schwaches Licht vor sich. Nicht so hell wie das des Fisches, aber doch hell genug, um es deutlich zu sehen. Aktur beschleunigte seine Schwimmbewegungen und eilte dem Ausgang entgegen. Bald könnte er sich in Ruhe auf die Suche nach dem Wolkenleser begeben. Er wusste zwar immer noch nicht, wo genau er mit seiner Suche beginnen sollte, doch das würde er bald herausfinden. Die Rothaarige hatte eine Schattenschlacht erwähnt. Er musste jemanden finden, den er danach fragen konnte. Aber bloß keine Nixe.
Aktur dachte zurück an die Wasserfee aus dem Teich, die ihm den Weg zu den beiden Schwestern beschrieben hatte. Arif hatte zwar einen netten Eindruck gemacht, doch er würde nicht zu ihr zurückkehren. Einerseits, weil er den Weg nicht finden würde und andererseits befürchtete er, dass sie von ihm etwas als Gegenleistung für ihre Hilfe verlangte. Sie war schließlich eine Nixe, eine Hüterin des Wassers, Geschöpfe, die niemand wirklich verstand.
Der Elf tat einen letzten Schwimmzug und atmete erleichtert auf. Er hatte die Dunkelheit des Tunnels verlassen und sich in die leichte Strömung des Meeres begeben. Auch der kleine Fisch schien glücklich, seinem Gefängnis entflohen zu sein, und schwamm in freudigem Zick-Zack durch das Wasser.
Aktur lächelte und sah dann geradeaus. Etwas weiter vor ihm konnte er eine schöne, leicht violette Muschel im weißen Sand erkennen. Sie war länglich und wand sich in einer Spirale bis zum spitzen Ende. Der Elf ließ sich von der Strömung näher zu ihr hin treiben, um sie von Nahem zu betrachten. Sie war etwa so groß wie seine Hand und als er sie aufhob konnte er kleine weiß glitzernde Punkte in ihrer Schale erkennen. Er würde sie mitnehmen und an irgendeinen Händler verkaufen. Sicher würde man ihm viel Geld für dieses Prachtexemplar bieten. Hastig riss er den oberen Teil einer länglichen Alge ab und wickelte sie wie einen Faden um die Muschel, sodass eine Kette entstand, die er sich um den Hals hängen konnte.
Dann sah Aktur sich nach dem kleinen Fisch um, doch der war schon lange in den Weiten des Meeres verschwunden. Er würde den kleinen Kerl vermissen. Schließlich hatte er ihm den Weg bis zum Ausgang erleuchtet.
Die Muschel an der Alge um den Hals gehängt bewegte der Elf sich langsam in Richtung Wasseroberfläche und tauchte auf. Nicht weit von ihm entfernt befanden sich zwei Felsen, die auf der Seite des Meeres mit grünem Moos überwuchert waren. Ungewöhnlich, dachte er. In salzigem Wasser wächst kein Moos. Er streckte die Zunge aus und probierte das nasse Element. Der Elf verzog angeekelt das Gesicht. Eindeutig salzig. Also muss es ein Moos sein, das auch in Salzwasser wächst. Ich brauche unbedingt ein neues Notizbuch.
Mit leichten Armbewegungen schwamm Aktur auf die beiden Felsen zu und zog sich ächzend aus dem Meer. Er hinterließ schwarze Abdrücke auf dem grauen Stein, als er darüber ging. Doch er scheute davor, den Sand auch nur zu berühren. Er war vollkommen nass und die kleinen Körner würden an seiner Kleidung festkleben.
Aktur setzte sich auf den Felsen, legte die Muschel neben sich und schaute der strahlenden Sonne entgegen. Er würde erst seine Kleider trocknen und, wenn er sich geschickt anstellte, einen großen Fisch fangen, den er essen konnte. Sein Magen war so leer wie schon lange nicht mehr und knurrte beinahe ununterbrochen. Er schloss die Augen und genoss die Wärme auf seiner Haut. Wo Cor auch ist, ich werde ihn finden und mit seiner Hilfe den Herren der Schwarzen Magie finden, der an Miones Tod Schuld ist. Ich werde ihre letzte Bitte erfüllen. Das schwöre ich.
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