Das Götterkind
»Wir sollen euch verschonen?
Euch, die ihr so schwach seid.
Euch, die ihr uns die Berge streitig macht.
Euch, die ihr uns hasst.
Nein.
Ihr zahlt ein Zwölftel eurer Ernte an uns
und wir werden euch armselige Würmer leben lassen.«
SCHWESTER GOLDPFEIL,
FÜNFTE ANFÜHRERIN DER DORONEN,
BEI DEM PAKT DER FÜNF
Beria schrak hoch. Kälte umringte sie, versuchte, sie wieder zum Einschlafen zu bringen, um ihren Körper zu vereisen. Langgliedrige Finger streckten sich nach ihr aus und ein eisiger Schauer jagte ihr dort über den Körper, wo sie die Dryade berührten. Langsam wurde sie müde. Ihre Augenlider schlossen sich wie von selbst und sie atmete die kalte Luft tief in sich ein.
Nein, nicht erneut einschlafen! Das wäre mein Tod! Ich muss leben, ich muss...
Die Erdfee versuchte ihre Augen offen zu halten, kämpfte gegen die Trägheit an, die sie plötzlich überfallen hatte. Wie schön es doch wäre, einfach einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen. Keine Sorgen mehr, keine Ungerechtigkeiten und niemand, der ihr etwas vorschrieb.
Und kein Leben, verdammt! Beria stemmte sich mit den Armen hoch und fiel wieder zurück. Sie konnte weder ihre Hände noch etwas anderes von ihrem Körper spüren. Da war nur die Kälte. Die Dryade versuchte erneut, sich aufzurichten, was jedoch nicht klappte. Ihre Arme knickten unter ihr weg und ihr Kopf stieß hart gegen etwas Kaltes, etwas Festes. Was war das? Jedenfalls kein Schnee.
Wo bin ich? Und wer hat mich hier hin gebracht, nur damit ich verrecke?
Eine unbändige Wut packte die Fee und mit einem Ruck richtete sie sich auf. Dabei stieß sie mit dem Kopf gegen ein paar Eiszapfen, die von der Decke hingen. Einer Decke. Sie war in einer Höhle, die nur aus Eis zu bestehen schien. Fassungslos hob Beria die Hand und brach einen Eiszapfen ab, um sich zu vergewissern, dass er echt war. Und das war er.
Die Dryade schmiss ihn achtlos beiseite und rieb die Hände aneinander, um wieder Wärme zu spüren. Immer noch drehte sich ihr die Frage im Kopf, wo sie denn war. Und wo ist der Ausgang von dieser Höhle? Wenn ich hier rein gekommen bin, kann ich auch wieder rauskommen.
Beria überlegte einen kurzen Moment, ob sie aufstehen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie traute ihren Beinen nicht zu, dass sie sie trugen. Und noch mehr Verletzungen wollte sie sich nicht holen. Die Fee drehte ihren Kopf gerade so weit, dass sie einen Blick auf ihre linke Schulter werfen konnte. Der Fetzen Leinenhemd war in Ordnung, nur der Streifen an ihrer rechten Schulter hatte sich etwas Rot verfärbt. Diese Wunde war anscheinend wieder aufgebrochen, obwohl sie es nicht spürte und es auch nicht schmerzte.
Plötzlich hörte die Dryade mehrere Stimmen, die sich ihr näherten. Eine dunkle Gestalt, etwas verzerrt von den ganzen Eiszapfen und Eissäulen, schlurfte durch die Höhle, gefolgt von weiteren Silhouetten. Schnell legte Beria sich wieder auf das kalte Eis und konzentrierte sich. Rassou hatte ihr mal einen Zauber beigebracht, mit dem sie fremde Sprachen sprechen und verstehen konnte, denn niemand außer den Feen selbst und einigen Auserwählten verstand Jouze, die Sprache der Magie.
Als die Stimmen lauter wurden, hatte die Erdfee bereits diesen Zauber gewirkt. Ohne auch nur eine Regung zu zeigen und mit geschlossenen Augen lauschte sie dem Gespräch. Es waren offenbar Menschen, die eine rege Diskussion führten.
»Hast du nicht ihre spitzen Ohren gesehen, Eleasar? Wie kannst du nur glauben, dass sie die ist, die wir brauchen?« Es war die Stimme einer Frau. Ein fremder Akzent haftete ihren Worten an. Offenbar gab es unter den Menschen ebenfalls verschiedene Sprachen. Was der Sinn davon war, verstand Beria nicht. Warum sprachen die Menschen nicht alle eine Sprache, so wie die Feen, obwohl es Hüterinnen verschiedener Elemente gab?
»Schweig! Ich bin der Seher und nicht du, somit trage ich die volle Verantwortung für mein Volk!« Diesmal hatte ein Mann gesprochen. Er schien noch sehr jung zu sein, was sich auch in seiner Stimme widerspiegelte.
»Eleasar, bei allem Respekt, der Euch gebührt, hört Eure Beraterin doch mal an!«, erhob sich die Stimme eines weiteren Mannes, der wesentlich älter zu sein schien, als dieser Eleasar, der vorher gesprochen hatte.
»Ich weiß, was Maia sagen wird. Sie möchte nicht, dass ich den Göttern wieder etwas opfere, das sie erzürnen wird. Doch bedenke: Nicht ich war es, der wollte, dass das Götterkind geopfert wird! Es ist nicht meine Schuld! Ich versuche nur, etwas wieder gut zu machen, was du uns eingebrockt hast!« Eleasar, wie die Dryade mittlerweile wusste, war ziemlich aufgebracht, als er das sagte. Anscheinend hatte er wild mit den Händen gestikuliert, denn irgendwo schabte ein eiserner Gegenstand, wahrscheinlich ein Ring, über das Eis. Eine Weile herrschte Stille, dann meldete sich wieder der ältere Mann, dessen Namen Beria noch nicht kannte.
»Eleasar, Seher des Schneevolkes und Herrscher über die Eishöhle, verzeiht mir für meine Unwissenheit damals. Es war richtig von Euch, mich aus Eurem Dienst zu entlassen.«
Etwas Eisernes knirschte über das Eis, begleitet von einem qualvollen Stöhnen. Dann ertönte wieder die Stimme von dem Seher Eleasar.
»Erhebe dich, Giwax und verlasse diese Höhle. Geh zum Volk und sage ihm, dass die Hungersnot bald vorbei sein wird. Nach diesem Opfer an die Götter wird Jel wieder Licht und Wärme in unser Tal schicken, auf dass die Pflanzen dort erneut wachsen und wir in einem Jahr eine reiche Ernte haben werden. Es werden wieder Böcke und Ziegen durch die Berge streifen und eine gute Beute für uns sein. Wir werden genug Nahrung für alle haben, die unter meiner Herrschaft stehen.«
Der ältere Mann, Giwax, murrte etwas und Schritte entfernten sich. Nach einer Weile hörte Beria laute Stimmen von außerhalb der Höhle, die jemanden bejubelten. Sie konnte nur den Namen ›Eleasar‹ heraushören, den Rest verstand sie nicht. Doch auch so drehten sich schon genug Fragen in ihrem Kopf, die sie aber versuchte zu verdrängen, um dem weiteren Gesprächsverlauf zu lauschen.
»Eleasar, höre mich an. Als deine Beraterin warne ich dich vor großem Unheil, das unser Volk heimsuchen wird, wenn wir diese Frau opfern. Sie hat spitze Ohren, genauso wie das Götterkind. Möchtest du, dass alles noch schlimmer wird, als es jetzt schon ist?« Es war die Frau, die gesprochen hatte. Der Seher hatte sie mit dem Namen Maia angesprochen. Seltsam, dachte die Dryade. Auf Jouze bedeutet Ma Ia Sonnentochter.
»Schweig!«, fuhr der Mann sie an. »Ich habe keine gute Erfahrung mit Beratern gemacht. Und nun geh!«
»Ich werde nur mit der Gewissheit gehen, dass du dieser Frau nichts antust.«
»Diese Gewissheit kann ich dir nicht geben!«, blaffte Eleasar. »Ich werde sie den Göttern opfern und dann wird diese Hungersnot aufhören. Ich bin der Seher und ich entscheide, was getan wird. Ich und kein Anderer!«
»Wann bin ich für dich so unwichtig geworden?«, erklang Maias Stimme nach einer kleinen Pause. Trauer war in ihrer Stimme zu hören. »Wann bin ich für dich so wie die Anderen geworden? Ich war immer an deiner Seite und habe dir immer geholfen, wenn du in Not warst. Doch seit du der neue Seher geworden bist, hast du dich verändert. Du wolltest mich nicht einmal zur Frau nehmen...«
»Magie hat ihren Preis«, war das Einzige, was Eleasar darauf antwortete. »Vergiss die Vergangenheit. Was war, ist jetzt nicht mehr.«
»Und warum hast du mich dann zu deiner Beraterin ernannt? War es nicht aus Zuneigung? War es nicht, weil du mich liebst?«
»Nein.« Härter konnte man einfach nicht antworten. Doch statt schluchzend wegzulaufen, stieß Maia einen Wutschrei aus. Darauf folgte ein Krachen, als würde eine riesige Lawine gerade von einem Berg hinabrollen.
Erschrocken öffnete Beria die Augen und starrte in die Richtung, aus der der Wutschrei gekommen war. Dort hockte Maia. Sie war in ein dickes Wollkleid gekleidet, das ihr bis zu den Füßen hinabfiel. Da die Beraterin auf dem Boden hockte, waren ihre gefütterten Stiefel zu sehen. Ihr dunkelbraunes Haar fiel offen auf ihre Schultern. Vor ihr lag Eleasar. Der Seher hatte ebenfalls warme Sachen an, doch sein Haar war pechschwarz und er hatte die Augen vor Panik weit geöffnet.
Erst verstand die Dryade nicht, was passiert war, bis ihr Blick zu der Hand des Mannes glitt, der sie auf eine stark blutende Wunde in seinem Bauch hielt. Ein leises Klirren hallte durch die Höhle, als Maia einen Dolch fallen ließ, der über das Eis schlitterte und vor Berias seltsamen Eispodest zum Stehen kam. Es war ihr Dolch! Die Erdfee erkannte ihn auf den ersten Blick.
»Was hast du getan?«, keuchte Eleasar und starrte die Frau vor ihm fassungslos an. Er hustete und spuckte Blut, das sofort von dem Wollhemd eingezogen wurde.
»Nicht ich«, flüsterte Maia so leise, dass Beria sie kaum hören konnte. »Nicht ich, sondern das Götterkind.«
Der Erdfee stockte der Atem, als sie das hörte. Offenbar wollte die Beraterin den Mord an dem Seher, der wahrscheinlich der Anführer dieses seltsamen Volkes war, ihr zuschieben. Nun tastete die Frau nach dem Dolch, der aber zu weit von ihr weg lag, und drehte ihren Kopf, um nach ihm zu sehen.
Ihr Blick begegnete dem von Beria und Überraschung verwandelte sich in Mordlust. Reflexartig sprang die Dryade auf, strauchelte, fing sich aber wieder und hob den Dolch auf, während Maia sich auf die Füße erhob und fordernd die Hand ausstreckte.
»Gib mir dieses Messer, Elende«, befahl sie und funkelte die Erdfee wütend an.
»Nein«, rief Beria und rannte davon. Bei jedem Schritt hoffte sie, dass ihr die Beine nicht weg knicken würden. Beinahe wäre sie auf dem glatten Eis ausgerutscht, das auch den Boden bedeckte. Die ganze Höhle schien vollkommen aus gefrorenem Wasser zu bestehen. Sie konnte nicht mal ein anderes Material darunter ausmachen. Alles war vollkommen Weiß und Blau bis auf sie, die Leiche von Eleasar und Maia, die nun die Verfolgung aufgenommen hatte.
Doch die Beraterin hatte Schwierigkeiten mit ihrem Kleid, das ihr nicht erlaubte, so große Schritte wie Beria zu tun. Wütend schrie die Dryade auf, als sie das Gleichgewicht verlor und gegen eine Eiswand prallte. Die Erdfee blickte wieder nach vorne und schwor sich, nicht wieder nach hinten zu gucken. Sie lauschte auf die lauten Stimmen außerhalb der Höhle, um den Ausgang zu finden. Da! Hinter einer Eissäule mit eingeritzten Gesichtern klaffte ein Spalt, der bei jedem Schritt breiter wurde.
Beria hastete darauf zu, doch in dem Moment traf sie etwas hart im Rücken. Sie schrie kurz auf und schnappte nach Luft, als sie von der Wucht des Aufpralls gegen die Eissäule geschleudert wurde. Eine herausragende Eiszacke hinterließ eine blutende Wunde an ihrer Stirn, die die Fee jedoch kaum spürte.
Mit einem wütenden Aufschrei fasste sie den Dolch fester und drehte sich herum. Dabei ließ sie die Waffe los, die genau auf Maia zu sauste. Erst im letzten Augenblick konnte die Frau sich ducken und dem tödlichen Geschoss ausweichen, das mit einem dumpfen Laut in der Eiswand einschlug.
Nun begriff Beria, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Während Maia nach dem Dolch griff, um ihn herauszuziehen, sprintete die Dryade um die Eissäule herum und stieß mit einem älteren Mann zusammen. Dieser starrte sie seltsam verwirrt an.
»Du?«, brachte er noch über die Lippen, bevor die Erdfee ihn beiseite stieß, um die Treppe hinunter zu fliehen, die von den Menschen in den Stein geschlagen worden war. Sobald Beria diese Höhle verlassen hatte, bemerkte sie, dass das Eis hier von massivem Fels abgelöst worden war.
Hinter ihr ertönte die zornige Stimme von Maia: »Haltet sie! Mörderin! Sie hat Eleasar umgebracht!«
Verzweifelt sah die Fee zu der Menschenmenge hinunter, die sich unter der kleinen Steinplattform versammelt hatte, auf der Giwax sich nun gefasst hatte und anklagend mit dem Finger auf sie zeigte. Den alten Mann hatte sie sofort an der Stimme erkannt.
»Dort ist sie! Fangt sie! Fesselt sie! Bringt sie zu mir herauf!«, schrie er, während hinter ihm Maia auftauchte, immer noch den Dolch in der Hand.
Beria sah wieder hinunter zu der Menschenmenge, die sich mittlerweile wild schreiend am Fuß der Treppe versammelt hatten. Vermutlich war es ihnen verboten, die Stufen zu ihr hochzusteigen. Dennoch blieb ihr nicht viel Zeit, denn hinter ihr hatten sich Giwax und Maia in Bewegung gesetzt und drängten sie immer weiter der aufgebrachten Menge entgegen.
Erste Hände griffen nach ihren Füßen, die sie aber sofort wegzog. Die Dryade fasste einen Entschluss. Hier ist es wärmer als in dieser verfluchten Eishöhle. Vielleicht habe ich genug Kraft, um meine Magie wirken zu lassen. Aber es sind zu viele Menschen. Nein, das geht nicht.
Panisch blickte Beria erneut zu Giwax und der Beraterin hoch. Sie waren auf ihren Tod aus. Sie wollten sie für eine fruchtbare Ernte irgendeinem Gott opfern. Voller Hass schaute sie Maia an. Diese Schlange! Sonnentochter, dass ich nicht lache!
In dem Moment schleuderte die Frau ihr den Dolch entgegen. Die Erdfee duckte sich gerade noch rechtzeitig, verlor aber das Gleichgewicht und stürzte die letzten Stufen der Treppe hinab. Dreckige Hände griffen nach ihr, zogen sie an den Haaren und Füße traten ihr in die Seite. Beria streckte die Hand nach ihrem Dolch aus, der nur etwa eine Armlänge von ihr entfernt auf der ersten Stufe aufgekommen war, als er von der Wand abgeprallt war. Ihre Finger bekamen den Schaft zu fassen und sie packte zu.
Mit einem lauten Aufschrei bohrte sie die Waffe in die Hand, die sich an dem Lederriemen zu schaffen machte, der ihre Brüste zusammen hielt. Ein Mann schrie vor Schmerz laut auf und zog die blutende Hand zurück. Mit dem Dolch beschrieb die Dryade einen silbernen Bannkreis und wurde immer schneller, bis ihre Bewegungen verschwammen und sie sich in einer schillernden Kuppel zu befinden schien, die jeden verletzte, der ihr zu nah kam. Die Menschen wichen ängstlich zurück und ein Raunen ging durch die Menge.
Beria lächelte zufrieden. Sie hatte die Kampflektionen, die Rassou ihr gegeben hatte, nicht vergessen. Langsam erhob sie sich, wobei sie nun auch darauf achtete, ihren Rücken mit dem Dolch zu schützen. Besser wäre es natürlich gewesen, wenn sie zwei Waffen hätte, denn so waren eine Körperstellen weniger geschützt als andere, doch das musste reichen. Sicher dachten die Menschen ohnehin so schon, es wäre Magie.
Während die Erdfee sich einen Weg durch die Menge bahnte, die immer weiter zurückwich, sobald sie einen Schritt tat, wurden Rufe laut.
»Götterkind!«, rief eine rothaarige Frau ganz in ihrer Nähe, die sie unheimlich an ihre Lehrerin erinnerte.
»Wir dürfen sie nicht opfern!«
»Sie ist ein Götterkind!«
»Ihr Ungläubigen!«
»Eleasar ist ein Schwindler! Er wollte uns reinlegen!«
»Die Götter haben uns zurecht bestraft! Wir hatten einen Ungläubigen als Seher!«
Die ersten Menschen sanken auf die Knie und neigten ehrfürchtig ihr Haupt vor ihr. Beria lächelte. Wie dumm sie doch waren, dass sie an die Götter glaubten. Es gab gar keine außer Jeovi, der Erschafferin allen Lebens.
»Meine Kinder«, erhob sich plötzlich Maias Stimme über alle anderen. Etwas in ihrem Blick hatte sich geändert. Er war härter geworden, hinterlistiger... »Nun seht ihr es mit eigenen Augen! Vor euch steht ein Götterkind! Ein Geschöpf der Magie, geschaffen, um Gutes zu tun! Doch schaut nur! In seiner Hand hält es einen Dolch, von dessen Spitze immer noch Blut herab tropft!«
Erstaunte Rufe wurden laut. Noch ließen die Menschen sie passieren, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Beraterin alle gegen sie aufgebracht hatte. Dann könnte es durchaus gefährlich für die Erdfee werden. Ich darf ihnen kein Leid antun. Sie stehen ebenso unter Jeovis Schutz wie die Bewohner der Ohawa-Wüste. Ich muss mich beeilen. Vorsichtshalber, um keinen ernsthaft zu verletzen, gab sie ihren Bannkreis auf, denn hier standen die Menschen dichter beieinander. Langsam aber stetig bewegte sich die Erdfee auf den Ausgang der großen Steinhöhle zu, während Maia weiter ihre Rede hielt. Sie hatte Giwax beiseite gestoßen, der nun leicht desorientiert an ihrer Seite stand und etwas fehl am Platz wirkte.
»Ich weiß, meine Kinder, es ist kaum vorstellbar, dass ein Götterkind zu so etwas fähig ist, doch dieses Exemplar«, Beria hielt den Atem an und stoppte mitten in ihrer Bewegung, als Maia mit dem Finger auf sie zeigte und die Menschenmenge sich nach ihr umdrehte, doch dann galt deren Aufmerksamkeit wieder der Beraterin, sodass die Fee ihren Weg fortsetzen konnte, »hat euren geliebten Seher Eleasar kaltblütig ermordet! Anscheinend ist es unser Schicksal, dass wir nur Böses von den Götterkindern zu erwarten haben! Das erste nahm uns unsere Ernte, das zweite unseren Anführer!«
Entsetzensschreie und wütende Rufe wurden laut. Plötzlich drängte die gesamte Menschenmenge sich ihr entgegen, um sie zu fassen, doch dabei waren sie so chaotisch, dass sie sich gegenseitig behinderten. Beria wurde grob hin und her geschubst. Ein harter Ellenbogenstoß in ihre Seite ließ sie vor Schmerz aufstöhnen. Und dann war sie plötzlich allein. Der Ausgang war nur einen Schritt entfernt.
Die Dryade sah hinter sich. Die Menschen hatten angefangen, sich gegenseitig zur Seite zu stoßen, um sie als Erster zu fassen. Dabei hatten sie ihr Ziel allerdings vollkommen aus den Augen verloren. Schnell, bevor jemand sie doch noch bemerken konnte, schlüpfte sie hinaus und drückte sich sofort wieder an die Felswand. Vor ihr erstreckte sich ein riesiger Abgrund, den sie beinahe hinunter gefallen wäre. Doch Beria atmete erleichtert auf, als sie neben sich erneut eine Treppe entdeckte. Nicht unähnlich der, auf der sie vor Giwax und Maia geflohen war. Aber diese Treppe führte nicht hinunter in das Tal, sondern nach oben.
Die Erdfee setzte ihren rechten Fuß auf die erste Stufe und begann den Aufstieg. Es gab, so wie auch bei der anderen Treppe, kein Geländer, weshalb sie sich wie ein Hund mit den Händen an den Stufen etwas weiter oben abstützen musste. Nach einer Weile kehrte der Schmerz in ihren Schultern wieder und die Wunde an ihrer Stirn pochte unangenehm. Sie sah nach oben. Nur noch fünf Stufen, dann könnte sie sich über die Kante hieven.
Gerade hatte Beria den Kopf wieder gesenkt, als ein paar kleine Steine neben ihr hinunter fielen und eine tiefe Stimme über ihr ertönte: »Wer seid Ihr, junge Dame?«
Die Dryade sah hoch und blickte in das Gesicht eines Mannes. Er trug einen Helm aus heller Bronze, der mit einem Rosshaarbüschel geschmückt war. Seine Augen lagen im Dunkeln, genauso wie sein Mund. Nur seine Nase schaute heraus, doch die war vom Nasenschutz des Helms bedeckt.
»Ich bin Beria«, sagte die Erdfee und versuchte möglichst gelassen auszusehen.
»Beria? Seltsamer Name für eine Dame aus dem Schneevolk. Soll ich Euch hoch helfen?«, fragte der Mann und streckte ihr die Hand hin, die sie dankend annahm, und zog sie dann hoch. »Ihr habt Glück, der Arenakampf hat gerade erst angefangen.«
»Arenakampf?«, wunderte sich Beria und biss sich gleich danach auf die Lippen. Warum habe ich das gesagt? Ein Mitglied dieses Schneevolks muss doch wissen, was das ist! Wie erwartet legte der Wachmann den Kopf schief, doch bevor er etwas sagen konnte, wandte die Erdfee schnell ein: »Ach so, der Arenakampf. Nein, zu dem wollte ich nicht.«
»Wohin wolltest du dann? Der Weg führt sonst nirgendwo hin.« Der Mann hob nun die Hände und setzte seinen Helm ab. Darunter kam dunkelbraunes, etwas verstrubbeltes Haar zum Vorschein und eisblaue Augen funkelten Beria an.
Die Dryade versuchte verzweifelt, sich eine Ausrede einfallen zu lassen, doch ihr fiel nichts anderes ein, als... Blitzschnell zückte die Fee ihren Dolch und schlug den Knauf gegen die Schläfe des Wächters, der nur noch einen verdutzten Laut von sich gab und sofort zusammensackte. Gerade wollte sie wieder die Treppe hinab steigen, als von dort plötzlich ein lauter Ruf ertönte. Es war Maias Stimme.
»Wo ist das Götterkind? Holt es mir! Es darf nicht fliehen!«
Im selben Moment hörte Beria Schritte ganz in ihrer Nähe und als sie aufsah, kam ein anderer Wachmann um die Ecke gebogen. Er hielt verwirrt inne und sein Blick fiel auf seinen betäubten Kumpanen. Dann zog er das Schwert, das an seinem Gürtel hing und richtete es drohend auf die Fee, während er zum Abgrund trat.
»Hier ist sie! Hier oben ist das Götterkind!«, schrie er aus voller Kehle. Beria funkelte den Wachmann an und ihre Hand wanderte zu ihrem Gürtel, wo der Dolch steckte. Doch da war nichts. Ihre einzige Waffe war ihr aus den Fingern geglitten und lag außerhalb ihrer Reichweite neben dem bewusstlosen Wächter.
Es gab kein Entkommen.
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