Das Geisterhaus
»Mein Blut schmerzt.
Ich muss es loswerden
und durch neues ersetzen.«
AUS DEM TAGEBUCH
VON BATUMDOR DE ZENRA
Das Gebäude, das ihnen fortan als Unterschlupf dienen sollte, sah aus, als hätte ein Magier es aus einem gruseligen Bilderbuch in die wirkliche Welt geholt. Das Dach aus dunkelgrauem Schiefer saß schief, einige der Schindeln waren herabgefallen und türmten sich vor den bemoosten, unter Kletterpflanzen verborgenen Wänden. Der Schornstein war nur noch eine schmale Silhouette vor dem hellblauen Himmel, halb zusammengefallen. Obenauf thronte ein zerfleddertes und verlassenes Vogelnest. Die Fenster wirkten wie die Augenhöhlen eines Toten, schwarz und leer, am Rand umgeben von Wimpern aus spitzen Glaskanten. Das Innere war von der Straße aus nicht zu erkennen, obwohl ein flackernder Lichtstrahl durch den Spalt zwischen Türrahmen und vernageltem Holzbrett fiel, das zuvor offenbar das Haus versiegelt gehalten hatte.
Das Unheimlichste war jedoch nicht das Gebäude selbst, sondern das Grundstück, auf dem es stand. Während alle Häuser im Armenviertel dicht an dicht gebaut waren, teilweise auch ineinander übergingen und keine Gärten oder Hinterhöfe besaßen, hatte dieses eine breite, leere Fläche vor sich, die früher wohl mit Gras bewachsen gewesen war. Ein schmaler, kaum erkennbarer Pfad führte zum Eingang.
»Was, bei...« Tara biss sich auf die Lippen, bevor ihr der Name des Todesgottes Rizout entweichen konnte. Yatepa und Nurov rechts und links von ihr starrten nicht weniger fassungslos auf die staubige Fläche und das brüchige Haus vor ihnen.
»Das kann nicht sein Ernst sein!«, schimpfte Yatepa sogleich drauf los. Nur ein warnender Blick seitens der Jägerin brachte ihn dazu, nicht laut zu fluchen. Sein Kinn bebte trotzdem und tiefe Furchen hatten sich auf seiner Stirn gebildet, die seinen Ärger nur zu deutlich widerspiegelten.
Als der General ihnen gesagt hatte, dass er einen neuen Unterschlupf gefunden hatte, waren sie davon ausgegangen, dass es ein Haus war, das er jemandem auf die Schnelle abgekauft hatte. Dieses Gebäude aber musste schon mehrere Jahre leer gestanden haben. Ein Geisterhaus, fuhr es Tara durch den Kopf.
Auf einmal schwang das Brett, das den Eingang halb versperrt hatte, zur Seite und eine Gestalt erschien. Der Entfernung wegen erkannte Tara nicht sofort, um wen es sich handelte, doch als Thac ins Freie trat, atmete sie erleichtert auf. Der eher friedvolle Mann bedeutete ihnen mit einer Handgeste, zu ihm zu kommen.
Die kleine Seherin zögerte. Schließlich war es Yatepa, der den ersten Schritt tat. Tara und Nurov folgten in einigem Abstand. Bei Thac angekommen, huschten die Drei schnell ins Innere des Gebäudes, erleichtert, die wüste Fläche hinter sich gelassen zu haben.
Drinnen war es mindestens genauso furchteinflößend wie draußen. In jeder Ecke befanden sich dicke Polster aus weißen Spinnenweben und der teilweise zerstörte Boden aus Holzbrettern war mit grauem Staub bedeckt, der bei jeder Bewegung hochwirbelte. Die Wände, die das Haus zuvor in einige Räume geteilt hatten, waren entweder abgerissen oder mit großen Löchern versehen, sodass Teile des Holzgerüsts wie die Rippen eines Tierkadavers herausragten. Der Großteil der Möbelstücke war in graue – früher bestimmt weiße – Laken gehüllt. Nur gegenüber des Eingangs hatte man zwei Betten freigeräumt und ordentlich nebeneinander aufgestellt. Dazwischen brannte eine Fackel, die in einem Halter an der Wand steckte, und warf ein flackerndes Licht auf ihre Umgebung.
»Yudra geht es gut«, erklärte Thac leise. Die bedrückende Atmosphäre hatte die unmittelbare Wirkung, dass jeder im Flüsterton sprechen musste.
»Und Cor?« Tara sah besorgt zum anderen Bett hinüber, in dem der Wolkenleser ruhen musste.
»Alles bestens.« Der Mann führte die Neuankömmlinge zu den zwei Schlafenden. »Meiner Einschätzung zufolge, müsste Yudra in drei Tagen wieder wohlauf sein.«
Tara besah sich die Dryade näher. Thac hatte recht. Ihre Schnittwunden verheilten durch das Vernähen ungewöhnlich schnell. Vermutlich lag es zusätzlich auch noch daran, dass sie eine Magiebegabte war. Ihre Kopfverletzung hatte sich beinahe geschlossen. Der Bruch, den Tara zuerst bei ihr vermutet hatte, hatte sich als einfache Ausrenkung der Schulter erwiesen, sodass auch diese bald der Vergangenheit angehören würde. Dabei war der Vorfall erst vor zwei Tagen gewesen. Mittlerweile wusste die Dryade auch schon von ihrem Vorhaben, Zowuza zu verlassen und Schwarzbart und seine Leute als Verbündete aufzugeben. Nurov hatte es ihr erzählt, nachdem Tara und Yatepa ihn eingeweiht hatten. Der Mann hatte ihnen versprochen, sich einen sicheren Plan für ihre Flucht auszudenken, da er sich von ihnen am besten in Zowuza auskannte, bisher jedoch mit wenig Erfolg. Vielleicht brachte ihn die Nachricht von der schnellen Heilung der Dryade auf neue Ideen.
»Was ist eigentlich genau mit ihr passiert? Ist sie wirklich aus dem Fenster gesprungen? Warum?«, fragte Thac. Als keiner antwortete, zuckte er ratlos die Schultern. »Ihr wollt nichts verraten, verstehe.«
»Wir wissen ehrlich gesagt selber nicht, warum sie das getan hat«, versuchte Nurov, die Situation zu retten.
»Sie ist vor dem Soldaten geflohen, der sie gesucht hat«, kam Yatepa seinem Bruder zu Hilfe. »Er hat behauptet, sie wäre dem Mann mit der blauen Tunika abhanden gekommen und er wolle sie unbedingt wieder zurück.«
»Der Mann mit der blauen Tunika?« Thac schrak bei der Erwähnung dieses Namens hoch. »Etwa Hadamar de Zuut?«
»Wahrscheinlich.«
»Kennt Ihr ihn?«, fragte Tara und versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen.
Der Mann nickte leicht. »Er ist einer der reichsten Männer Zowuzas. Beinahe alle... Freudenhäuser der Stadt gehören ihm. Aber er spendet auch regelmäßig an das Waisenhaus ›Mohnglück‹ hier in der Nähe. Einige behaupten, er wäre ein Auserwählter Jeovis. Andere sehen in ihm einfach einen guten Geschäftsmann, der es versteht, sich bei den Leuten beliebt zu machen. Seine Versprechen hält er immer und in den wenigen Fällen, in denen er es nicht tut, bezahlt er seine Schulden in bar aus. Manchmal hilft er auch freiwillig in der Stadtverwaltung. Als Wachposten beim Eingangstor, der alle Reisenden registriert, oder als Buchführer über die Handelsschiffe zum Beispiel.« Er hielt inne. »Was hat Yudra mit ihm zu schaffen?«
Das ist eine gute Frage, überlegte Tara.
»Das geht Euch nichts an.« In der Stimme der Dryade schwang der Hauch einer Drohung mit. Die kleine Seherin hatte gar nicht mitbekommen, dass die Erdfee erwacht war. Sie hielt sich den Kopf, als sie sich im Bett aufsetzte und die Beine über die Kante bewegte, bis sie festen Boden berührten. Aufzustehen wagte sie aber nicht.
»Wenn du Probleme mit De Zuut hast, solltest du es uns besser mitteilen«, riet Thac. »Der General kennt ihn und könnte ihn beschwichtigen, bevor De Zuut dafür sorgt, dass unsere Flucht undurchführbar wird. Man kann von Glück sprechen, dass wir überhaupt diesen Ort zur Verfügung haben.«
»Inwiefern?«, fragte Tara, nachdem die Dryade verärgert mit der Hand abgewunken hatte.
»Ich bin Alchimist«, hob der Mann zur Erklärung an. »Mein Laden und meine Werkstatt befinden sich in der Nähe des Armenviertels und viele meiner Kunden wohnen hier. Manchmal komme ich zu ihnen nach Hause, um ihren Liebsten zu helfen. Zum Beispiel habe ich die Tochter von Abraxas, der sowas wie der Anführer der armen Menschen hier ist, von der Weißen Rose geheilt. Seitdem darf ich das Armenviertel durchqueren, wann es mir gefällt. Glück war es insofern, dass ich versucht habe die Tochter mit unwirksamen Kräutern zu kurieren. Wie durch ein Wunder ist sie trotzdem genesen. Als die Bibliothek als Unterschlupf weggefallen ist«, er warf der Erdfee einen raschen Blick zu, den sie glücklicherweise nicht bemerkte, »musste schnell Ersatz her. Da ist mir dieses Gebäude eingefallen.«
»Wer hat hier vorher gewohnt?«, wollte Yatepa wissen. »Was ist passiert, dass es jetzt leer steht?«
»Siehst du nicht, dass es ein Geisterhaus ist?«, fuhr die Dryade ihn an. Seit Schwarzbart ihr befohlen hatte, im Bett zu bleiben und sich auszuruhen, bis ihre schlimmsten Schnitte verheilt waren, war sie leicht reizbar geworden. Während der zwei Tage im Gasthaus Schwarzes Lamm – das sie verdammt viele Arcs von Saapabias Gewinn gekostet hatte, weswegen sie Cabricho und Kanesso hatten verkaufen müssen – war sie beinahe durchgängig schlechter Laune gewesen und hatte sich geweigert, ihre Gründe für den Sprung aus dem Fenster zu nennen. So blieb es bei vagen Spekulationen. Zusätzlich schien sie sich die Schuld dafür zu geben, dass sie verletzt war und ihnen daher keine große Hilfe sein könnte, wenn sie wirklich bald aus Zowuza fliehen würden.
»Doch, klar, aber...«
»Dann ist die Frage damit beantwortet«, unterbrach die Erdfee Yatepa. »Oder möchtest du den Geist aufwecken?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf, woraufhin die Dryade sich abwandte und mit ihren Fingern über jede einzelne Naht an ihrem Körper fuhr. Besonders ihre Arme waren zerkratzt und zerschnitten gewesen. Eine weitere Wunde zog sich knapp unterhalb des Schlüsselbeins über die Brust und verschwand unter dem sandfarbenen Seidenkleid.
»Ich denke, wir sollten sie alleine lassen«, raunte Thac Tara, Yatepa und Nurov zu. »Die Karte haben wir im Zimmer nebenan ausgebreitet. Der General hat endlich einen Schmuggler gefunden. Wir müssen jetzt nur noch planen, wie wir von dort wegkommen, wo er uns aussetzen wird.«
Die kleine Seherin hörte ihr Herz schneller schlagen. Sie wechselte einen Blick mit Yatepa und Nurov. Letzterer tat sein Bestes, um seinen Schreck zu verbergen, aber trotzdem blitzte kurz ein Ausdruck der Furcht und des Entsetzens über sein Gesicht. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass der General plötzlich solche Fortschritte machte, wo er sich zuvor doch so viel Zeit gelassen hatte. Mit aller Kraft hielt sie sich davon ab, zu Cor und der Dryade zu schauen, damit Thac keinen Verdacht schöpfte. Ein Schauer fuhr ihn über den Rücken. Bitte, Cor, komm wieder zu dir, damit wir fliehen können!
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