Bücher in Flammen

»Zaisha, Mehrsha un Deborsha.«

AUS DEM BUCH DER SECHSTEN PIXIE

Das Klirren von splitterndem Glas und der darauf folgende dumpfe Laut eines hinabgefallenen Körpers lockte Tara aus ihrem Versteck im Hinterhof. Zeitgleich ertönte ein ohrenbetäubendes Zischen. Für einen kurzen Moment verdunkelte sich der Himmel über ihr. Sie schaute hoch. »Der Schatten!«, schrie sie erschrocken auf. Yatepa hatte es ebenfalls bemerkt.

»Ich erledige das!«

Bevor sie ihn davon abhalten konnte, sprintete er auf den niedrigen Zaun zu, der den Hinterhof der Bibliothek von der Straße abgrenzte. Geschickt kletterte er auf die andere Seite, blickte nach oben und verschwand kurz darauf um die Ecke. Die Menschen, die den Schatten auch entdeckt hatten, waren blitzschnell in ihre Häuser geflohen oder hatten sich zu Boden geworfen, wo sie mit ihren Händen den Kopf bedeckten.

Tara spürte, wie ihr kalter Angstschweiß auf die Stirn trat. Tief holte sie Luft und trat dann in die enge Gasse zwischen der Bibliothek und dem Wirtshaus Zum brodelnden Giftkessel. Beim Anblick der Dryade setzte ihr Herz beinahe aus. Sie hatte erwartet, den Soldaten dort liegen zu sehen, der nach der Erdfee gesucht hatte.

Die Jägerin stürzte zu ihr. »Bleib wach, bleib bei uns«, murmelte sie vor sich hin, während sie mit den Händen ihren Körper abtastete. Überall in ihrer Haut steckten kleine und große Glasscherben. Einer ihrer Arme schien gebrochen zu sein. Aus einer Kopfverletzung quoll ununterbrochen Blut und tränkte ihre Haare und ihr Kleid in eine tiefrote Farbe. Sie rührte sich nicht. Nur ihre Augenlider flatterten etwas.

»Nein, nein, nein.« Tara hatte in ihrem Leben schon viele Verletzungen gesehen – schließlich war Cors Heilerhütte ihr Zuhause gewesen – doch sie hatte ihm nie bei der Versorgung der Kranken und Verwundeten geholfen. Das war stets seine Aufgabe gewesen. Nun fühlte sie sich vollkommen hilflos und verfluchte die Jahre, in denen sie angeekelt das Gesicht verzogen hatte, sobald ein neuer Patient ihr Lager belegte und sie deshalb im Bett der Nachbarn übernachten musste. Meistens hatte sie jedoch keinen Schlaf gefunden und war heimlich zu der Lichtung gegangen, wo früher das Haus ihrer Eltern gestanden hatte. Heiße Tränen stiegen in ihr auf, die sie sofort wieder wegwischte.

»Verdammte Scheiße, was ist passiert?« Bei Rhiwors rauer Stimme hob die kleine Seherin den Kopf. Der Krieger eilte in großen Schritten auf sie zu, wobei sein langes, schwarzes Haar wild hin und her schwang. »Geh da weg«, befahl er und stieß sie grob beiseite. Erst jetzt nahm Tara wahr, dass sie inmitten der spitzen Scherben gehockt hatte. Die Glassplitter knirschten, als sie schwankend auf die Beine kam. Stumm beobachtete sie wie der Mann sein Oberteil auszog, es in zwei lange Streifen riss und anfing, mit einem davon die Scherben heraus zu ziehen. Noch mehr Blut strömte aus den Wunden.

»Du machst es nur noch schlimmer!«, rief Tara verärgert.

Rhiwor stöhnte genervt, hielt inne und wandte sich ihr zu. »Die Schnitte müssen genäht werden. Dafür muss alles raus.«

»Aber...«

»Hast du nichts Besseres zu tun als unnötige Einwände zu erheben?«, fuhr er sie an. »Hol lieber einen Heiler, Narbengesicht!«

Bei dem letzten Wort hätte die Jägerin ihm am liebsten einen Schlag ins Gesicht verpasst, doch es ging um das Leben der Dryade. Mit geballten Fäusten, stampfte sie an dem Mann vorbei und rannte los, sobald sie die Straße betreten hatte. Sie wusste nicht, wohin, also hoffte sie, dass ihr früher oder später ein Laden mit vielen Kräutern ins Auge fiel. Das dauert zu lange!, schalt sie sich.

Kurzerhand blieb sie stehen und sprach gehetzt einen vorbeikommenden Mann an: »Wo ist der nächste Heiler?«

Völlig verwirrt deutete er wortlos in Richtung Marktplatz. Tara lief weiter. Sie brauchte nicht lange, um das besagte Haus ausfindig zu machen. Vor dessen Türen hatte man eine Bühne aufgebaut, auf der ein älterer Herr sich mit einer riesigen Zange in der Hand über eine Frau beugte, die sich ängstlich an den Lehnen ihres Stuhles festklammerte. Mit einer ruckartigen Bewegung zog er die Zange zurück, zwischen deren Spitzen ein fauliger Zahn zum Vorschein kam. Die Frau gab keinen Laut von sich, öffnete nur überrascht die vorher zusammengekniffenen Augen. Ein erstauntes Raunen ging durch die versammelte Menge.

Ungeduldig drängelte Tara sich nach vorne durch, rammte einem sturen Mann den Ellenbogen in die Seite, bis auch er ihr Platz machte und fand sich in der ersten Reihe wieder. Sie fluchte angesichts der doch ziemlich hohen Bühne leise, während der Heiler sich mit einer dramatischen Geste an die Zuschauer wandte: »Wie ihr seht, liebe Leute, wirkt mein Betäubungsmittel bis zum kleinsten Zahnnerv!«

Das reichte ihr. Sie hatte keine Zeit. Die Dryade hatte keine Zeit! Mit weiterem Benutzen ihrer Ellenbogen kam Tara bis zum Rand der Menge durch – wobei sie versehentlich auf den Schwanz eines schwarzen Hund trat, der jaulend zurücksprang – und erklomm die Bühne. Die Versammelten stellten den Jubel bei ihrem Anblick sofort ein. Der Mann drehte sich verwundert zu ihr um, lächelte dann aber breit. »Da habe ich wohl eine neue Verehrerin gefunden!«, rief er belustigt und deutete mit einer einladenden Geste auf die Eingangstür zu seinem Laden. »Nicht so schüchtern, wir finden sicher etwas, das deinen Schmerz stillt.« Die Menge grölte.

Wütend trat die Jägerin einige Schritte vor, bis sie direkt vor ihm stand. Zu ihrer Beruhigung wehte ihr der Geruch getrockneter Kräuter entgegen, er war also wirklich ein Heiler. Sie packte ihn fest am Unterarm. »Du kommst mit mir! Eine Freundin von mir hat Scherben in ihrer Haut stecken und ist vom zweiten Stock gefallen! Pack dein Zeug ein!«

Das Grinsen des Mannes erlosch wie auf einen Schlag. »Wie viel bietet Ihr?«, fragte er misstrauisch.

»Dein Leben, wenn du deine Arbeit gut machst«, entfuhr es ihr und wünschte gleichzeitig, sie hätte es nicht gesagt. Erst denken, dann handeln! Doch ihre Drohung schien zu wirken.

Ohne die Augen von ihr – und ihrem Feuermal – abzuwenden, verkündete er laut: »Es tut mir aufrichtig leid, meine Lieben. Der Laden ist kurzzeitig geschlossen.« Enttäuschte Rufe und Pfiffe ertönten, die der Heiler jedoch nicht beachtete. Stattdessen riss er sich aus Taras Griff los und eilte in das Geschäft. Die kleine Seherin seufzte erleichtert auf.

Sie brauchte nicht lange zu warten. Der Mann tauchte schon bald wieder auf, einen braunen Lederkoffer in der Hand. »Führ mich hin«, forderte er sie auf. »Aber glaub ja nicht, dass das immer mit mir klappt. Ich lasse mich nicht so einfach einschüchtern.«

»Ja, ja«, sagte die Jägerin ungeduldig, sprang die Bühne hinunter und rannte voraus. Mit einem gelegentlichen Blick nach hinten vergewisserte sich sich, dass der Heiler ihr folgen konnte. Nachdem sie einem Betrunkenen erfolgreich ausgewichen waren, kamen sie endlich in der Seitengasse an. Tara zeigte auf Rhiwor, der sich immer noch über die Dryade beugte. Zum ersten Mal fielen ihr die hellen Narben auf seinem Rücken auf. »Da.«

Der Mann hastete an ihr vorbei und scheuchte Rhiwor davon, der sich im Gehen ein paar Glasscherben von der Hose pflückte. Mit einem unguten Gefühl im Magen starrte die kleine Seherin auf den blutverschmierten Stofffetzen in seinen Händen, gab aber keinen Laut von sich. Sie fürchtete die Antwort, die er ihr geben würde.

»Was ist passiert?«, wiederholte Rhiwor die Frage, die er schon vorher gestellt hatte.

»Wahrscheinlich ist sie aus dem Fenster gesprungen.« Tara knetete nervös ihre Hände. Hat der General seinen ›interessierten Leuten‹ den Grund genannt, warum die Bibliothek eigentlich geschlossen ist? Wissen sie, dass dort ein Schatten war?

»Warum sollte sie aus dem Fenster springen?«, fragte Rhiwor mit gerunzelter Stirn und überließ ihr die Schlussfolgerung, dass er keine Ahnung hatte. »Lag es an dem Soldaten? Sie hätte sich auch verstecken können, dieses Miststück!«

»Ich habe keine Ahnung!«, motzte die Jägerin ihn an. »Ich weiß nur, dass wir jetzt verdammt große Probleme haben!«

»Ja, die Bibliothek als Treffpunkt können wir jetzt vergessen«, stimmte er ihr zu und fuhr sich seufzend mit der Hand, die fast schon an eine Pranke erinnerte, durch die schwarzen Haare. »Yudra wird so schnell nicht wieder auf die Beine kommen. Ich bezweifle, dass wir einen Schmuggler finden werden, der eine Verletzte mitnimmt. Zu großes Risiko, dass er auffliegt.«

Ach, jetzt denken sie plötzlich an die Flucht?, dachte Tara verbittert. Sie machen sich mehr Sorgen darum, dass sie nicht aus der Stadt kommen könnten, als dass die Dryade womöglich stirbt! Yatepa hat recht gehabt! Ihnen ist nicht zu trauen und es wäre besser, wenn wir Zowuza ohne sie verlassen! Aber Cor... Sorgenvoll blickte sie die Leiter hinauf. Er lag dort oben, immer noch in seinen tiefen Schlaf versunken. Wird er jemals aufwachen?

Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke, der alles andere unwichtig machte. Voller Entsetzen über diese Möglichkeit griff sie nach der Leiter und kletterte so schnell wie möglich hinauf. Rhiwor rief ihr von unten noch etwas zu, doch sie hörte ihn schon nicht mehr. Eilig stieg sie über das Fenstersims ins halbrunde Zimmer, huschte zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Zwar glommen die Symbole, die Beihun angebracht hatte, immer noch, aber das hinderte niemanden daran, die Bibliothek zu betreten. Nur verlassen konnte man sie dann nicht mehr.

Tara nahm sich einen der Stühle und klemmte ihn hinter sich zwischen Klinke und Türrahmen, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Ihren Weg ins Innere der Bibliothek. Es erstaunte sie keineswegs, die zerfetzten Bücher und Schriftrollen zu sehen. Bei dem Krach, den der Schatten nachts veranstaltet hatte, wunderte sie sich sogar, dass das Papier nicht zu winzigen Schnipseln zerrissen war. Die ganzen Werke hätte sie sowieso nicht lesen können, es tat ihr aber trotzdem leid, dass sie so schwer beschädigt auf dem Boden herumlagen. Durch das zerstörte Fenster fiel gerade so viel Licht herein, dass die kleine Seherin die Treppe erkennen konnte, mehr aber auch nicht.

Enttäuscht kehrte sie in das Lesezimmer zurück, klaubte ein paar Buchseiten zusammen, nahm sich die zwei Feuersteine, die auf dem Kaminstein lagen und zündete das Ganze an. Bei dem hellen Feuerschein zuckte sie mit klopfendem Herzen zurück. Sie meinte, die Hitze auf ihrer Haut erneut zu spüren. Erneut zu erleben, wie Ximou den gesamten Wald abfackelte. Fest biss Tara die Zähne zusammen, hielt die brennenden Seiten weit von sich weg und machte sich auf den Weg hinunter in den ersten Stock. Sie musste wissen, ob ihre Befürchtung sich bewahrheitet hatte.

Unten war die Luft ungewöhnlich kühl. Überrascht blickte die Jägerin auf Cors Stab hinab, der inmitten zerrissener Bücher auf den Fliesen lag. Der Stein an seiner Spitze funkelte hell im Licht der zuckenden Flammen. Sie beschloss, ihn später mitzunehmen. Langsam kam die Erinnerung an das Innere der Bibliothek zurück. Geschickt schlängelte sie sich an den teilweise zusammengefallenen Regalen vorbei. Jedes Mal, wenn das Feuer der provisorischen Fackel ihr zu nahe kam, griff sie sich ein paar neue Seiten vom Boden und ersetzte so die alten durch die neuen. Bei dem Chaos würde sich sicher niemand die Mühe machen und alle ausgerissenen Blätter wieder in die richtigen Bücher zu kleben.

Endlich erreichte sie den Ort, an dem sie sein wollte. Der Tisch war vollkommen unberührt. Genauso wie das Buch, das darauf ruhte. Es lag genau so da, wie Tara es in Erinnerung gehabt hatte. Eine vergilbte Doppelseite aufgeschlagen, mit Blutflecken besprenkelt, irgendwo weiter vorne ragten immer noch die Blätter heraus, auf denen Yatepa und sie das Schreiben geübt hatten. Die Zeichen der sechsten Pixie in den beiden unteren Ecken der aufgeschlagenen Seiten schienen in den Schatten, die ihre Fackel warf, zu tanzen.

Er hat es also nicht mitgenommen, stellte die kleine Seherin erleichtert fest. Ganz langsam legte sie ihre Hand auf eine der Seiten. Kurz zuckte sie zusammen, weil sie fürchtete, es könnte erneut etwas Schreckliches geschehen wie mit Cor, doch allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag. Wenigstens jetzt ist es ein Vorteil, nicht lesen zu können. Mit spitzen Fingern blätterte sie etwas in dem Wälzer herum. Sie musste sichergehen, dass der Schatten nichts herausgerissen hatte, um es Gasoka zu bringen.

Dann führte sie die brennende Fackel an das Papier, bis das Feuer darauf übergriff. Niemand sollte mehr leiden, nur, weil er die Worte der sechsten Pixie gelesen oder verstanden hatte. Mit großen Augen beobachtete Tara die hellen Flammen, die immer weiter anwuchsen und die kalte Luft um sie herum erwärmten. Sie wich einen Schritt zurück, um der Hitze nicht allzu nahe zu sein.

Dieses Feuer war ganz anders als das von Ximou. Der Waldbrand war ungestüm und wild gewesen, hatte existiert, um so viel Leben wie möglich auszulöschen. Die Flammen, die aus den Seiten des Buches der sechsten Pixie schlugen, waren dagegen wie Kinder. Unbeholfen und schwach zuckten sie hin und her, bildeten sinnlose Muster. Das Wichtigste war jedoch, dass sie dem Guten dienten. Sie merzten die Schwarze Magie einer grausamen Fee aus.

Tara verlor sich beinahe im Anblick der fröhlichen Feuerzungen und als sie aus ihrer Starre erwachte, fand sie sich vor einem glühenden Ledereinband wieder, der beinahe mit dem Tisch verschmolzen war. Schwarze Rußspuren bedeckten die hölzerne Platte. Die Seiten in ihrer Hand waren schon lange abgebrannt, sodass sie sich blind zum Treppenaufgang tasten musste. Ein pochender Schmerz an ihrem rechten Schulterblatt begleitete jeder ihrer Bewegungen, doch konnte die Jägerin nicht sagen, was der Grund dafür war.

Als sie über den Stuhl kletterte, um wieder in das halbkreisförmige Zimmer zu gelangen, erklangen von draußen aufgebrachte Stimmen. Verwirrt lehnte sie Cors Stab an die Wand, den sie wieder hinaufgebracht hatte, und eilte zum Fenster, um die Leiter hinunterzusteigen. Doch gerade hatte sie sich auf die erste Sprosse gestellt, da wusste sie schon, was los war.

»Wartet!«, rief sie von oben und hoffte, dass der General auf sie hören würde. Das letzte Stück zum Boden brachte sie mit einem Sprung hinter sich. Sogleich wandte sie sich um, rannte zu Zenit Schwarzbart und schlug ihm mit einer flinken Handbewegung das Messer aus der Hand, das er auf die Kehle des Heilers gerichtet hatte.

»Was soll das?«, fuhr er sie erbost an. Seine braunen Augen funkelten sie bedrohlich an. Es war offensichtlich, dass er ihre Aktion nicht gut hieß.

»Dasselbe könnte ich Euch fragen«, entgegnete Tara und kickte das Messer weg, als der General sich danach bücken wollte. »Welchen Nutzen hat es, ihn zu töten?« Sie zeigte auf den Heiler, der völlig aufgelöst und mit Tränen in den Augen auf dem Boden kniete. Rhiwor hielt ihn an den Schultern fest, damit er halbwegs aufrecht blieb. Die kleine Seherin wollte gar nicht wissen, mit welchen Mitteln Schwarzbart ihn dazu bewegt hatte, seinen Befehlen genau Folge zu leisten.

»Es hat den Nutzen«, knurrte der General, »zu verhindern, dass der Kräutermischer allen weitererzählt, wem er heute das Leben gerettet hat. Das Miststück hat schon genug Schaden angerichtet. Aber wir brauchen sie. Und zwar ohne etwaige Anhängsel, die ihr hinterher spionieren und unser ganzes Vorhaben in Gefahr bringen.«

»Ich flehe Euch an«, wimmerte der Heiler. Vor Todesangst hatte sich offenbar seine Blase entleert, denn ein schrecklicher Gestank zog auf. »Ich werde nichts erzählen. Bitte! Lasst mich gehen! Ich habe eine Frau! Und Kinder! Fünf Stück! Bitte!« Er schluchzte herzerweichend auf. »Ich werde nichts sagen! Kein Wort!«

»Schweigen wirst du!«, bestätigte Zenit Schwarzbart. »Wie ein Grab!«

»Nein! Bitte!« Der Heiler zitterte am ganzen Körper. Immer mehr Tränen liefen seine Wangen hinab und versickerten in seinem ergrauten Bart.

Der General zog aus dem Innersten seines Wamses ein anderes Messer hervor, dessen gezackte Klinge noch entsetzlicher aussah als die des vorherigen. Der verzweifelte Mann gab ein ersticktes Keuchen von sich und wand sich in Rhiwors Griff ohne sich befreien zu können. Kurzerhand stellte Tara sich zwischen Schwarzbart uns sein Opfer.

»Geh mir aus dem Weg!«, schnauzte er sie an. Drohend hob er die Waffe. »Ich scheue nicht, das hier zu benutzen.«

Eingeschüchtert trat die kleine Seherin beiseite. Sie war enttäuscht von sich selber, aber sie würde dem General alles zutrauen. Streng dich an, denk nach! »Man wird sich fragen, wo er geblieben ist«, versuchte sie es ein letztes Mal. »Eine ganze Menge Leute hat gesehen, wie ich ihn mit mir genommen habe.« Zu ihrer Erleichterung zögerte Zenit Schwarzbart, also sprach sie schnell weiter: »Man wird mich verdächtigen, ihn ermordet zu haben und nach mir suchen. Zu finden bin ich leicht, jedem fällt sofort mein Feuermal auf.«

»Geh mir aus dem Weg!«

»Ich werde verhaftet und befragt werden«, fuhr sie ruhig fort. »Es wird keine Schwierigkeit für mich darstellen, dem Fürsten von Zowuza von Eurer geplanten Flucht aus der Stadt zu erzählen. Was denkt Ihr, wie schnell werden sie Euch finden und hinrichten?«

»Du miese, kleine Schlampe«, knurrte der General, ließ jedoch von dem Heiler ab. Nun richtete er das Messer auf Tara. »Und was soll ich deiner Meinung nach machen, he? Ihn einfach laufen lassen?«

»Er hat doch schon versprochen, dass er nichts sagen wird.«

»Ja! Ja!« Der Mann nickte wild, sodass ihm die ergrauten Haare um den Kopf flogen. »Ich schwöre! Ich schwöre!«

Unzufrieden rümpfte Zenit Schwarzbart die Nase. Plötzlich stürzte er vor. Die Spitze des Messers verharrte nur Haaresbreite vor der Nase des Heilers, der ein erschrockenes Quieken von sich gab und entsetzt die Augen aufriss. Tara tat der Mann mittlerweile einfach nur leid. »Kein Wort darüber, was hier passiert ist. Ich habe überall meine Augen und Ohren. Ich werde es also herausfinden, wenn du deinen Schwur brichst und dann werde ich kommen, um dir persönlich die Zunge herauszureißen. Hast du verstanden?«

»Ja!«, jammerte der Mann unter Tränen.

»Gut.« Der General steckte das Messer ein und gab Rhiwor mit einer flüchtigen Handbewegung zu verstehen, dass er den Heiler loslassen konnte. Ohne seine Stütze fiel der Mann vornüber und konnte sich gerade noch mit den Händen abfangen, bevor er mit dem Kopf auf den harten Stein geprallt wäre.

»Habt Dank, habt Dank«, stotterte er, während er mit zitternden Händen seinen Koffer aufnahm und davon stolperte. Tara blickte ihm nach, bis er um die Ecke war. Sie wollte sich gerade zu Zenit Schwarzbart umwenden und ihm dankbar zunicken, da spürte sie plötzlich kaltes Eisen an ihrem Hals. Der General riss ihren Kopf an den Haaren so heftig zurück, dass sie das Gefühl hatte, er würde sie ihr gleich ausreißen.

»Ich werde es nicht dulden, dass du dich noch ein Mal in meiner Gegenwart so großschnäuzig verhältst, ist das klar?«, zischte er ihr ins Ohr.

»Lass sie sofort los!«

Die kleine Seherin konnte sich ein freudiges Lächeln nicht verkneifen. Schwarzbart senkte das Messer und schubste sie nach vorne, sodass sie direkt in Yatepas Arme lief, der nun ebenfalls in der Gasse aufgetaucht war. Er war gerade rechtzeitig zurückgekommen. Unverletzt, wie sie nach einem genaueren Blick feststellte.

»Habe ich nicht gesagt, dass du ihm aus dem Weg gehen solltest?«, wisperte er ihr zu. Ohne den General aus den Augen zu lassen bewegte er sich langsam rückwärts und zog sie mit sich auf die Straße. Dort atmete er tief durch. Pure Erleichterung lag in seinem Blick. »Was ist da passiert?«, wollte er wissen.

»Die Dryade ist aus dem Fenster gesprungen«, erklärte Tara und fügte bei seinem betroffenen Gesicht schnell noch hinzu: »Ihr geht es soweit gut. Ein Heiler hat sie behandelt. Zenit Schwarzbart hatte jedoch Angst, dass er allen weitererzählt, wo sie sich aufhält. Deshalb wollte er ihn töten.«

»Und du warst dagegen«, schlussfolgerte Yatepa. Er schmunzelte und hob die Hand, ließ sie jedoch schnell wieder sinken. »Du hättest auf mich warten müssen.«

»Dann wäre es zu spät gewesen«, entgegnete die Jägerin und strich sich eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht. »Was ist mit dem Schatten?«

Der ehemalige Bote zuckte hilflos mit den Schultern. »Weg. Ich konnte ihn bis zur Stadtmauer verfolgen. Er ist in Richtung Norden abgehauen.« Er runzelte besorgt die Stirn. »Denkst du, er hat es mitgenommen? Das Buch, meine ich.«

Die kleine Seherin musste auflachen, froh darüber, dass es nicht so war. »Nein. Ich war schon in der Bibliothek und habe nachgeguckt. Es war immer noch da und ich habe es verbrannt. Jetzt brauchen wir uns keine Sorgen mehr darum zu machen.«

»Wenigstens eine gute Nachricht.« Yatepa lächelte leicht. »Wir sollten trotzdem besser aufpassen und Schwarzbart aus dem Weg gehen.«

»Ich denke, deine Idee mit dem Aussteigen war doch nicht so schlecht«, flüsterte Tara ihm leise zu und beugte sich dafür leicht vor.

Der ehemalige Bote weitete überrascht die Augen. »Wirklich?«

»Ja, aber wir werden uns etwas wegen Cor überlegen müssen. Und Nurov und die Dryade... Wir können sie nicht einfach zurücklassen.«

Yatepa nickte zustimmend. Sie meinte, ein warmes Funkeln in seinen Augen zusehen, doch wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht. »Du hast recht«, sagte er. »Nurov ist ziemlich schlau. Bestimmt hat er eine Idee, wie wir uns davonstehlen können ohne dass Schwarzbart oder einer seiner Leute es bemerkt.« Er hielt kurz inne, bevor er stockend fortfuhr. »Die Dryade ist verletzt.« Sie wird sich nicht verteidigen können, falls es zu einem Kampf kommt. Er sprach die Worte zwar nicht aus, aber Tara dachte dasselbe. Wir gehen mit dieser Entscheidung ein großes Risiko ein, doch was können wir machen? Schwarzbart würde offensichtlich nicht zögern, jemanden zu verletzen oder sogar zu töten, um sein Ziel zu erreichen, obwohl es auch andere Möglichkeiten geben könnte. Er hat geschworen, uns zu helfen, aber wollen wir wirklich so eine Person als Verbündeten? Eine Person, die Gewalt vorzieht, um Probleme zu lösen?

»Wir überlegen uns etwas«, entgegnete Tara nachdenklich. »Etwas Gutes.«


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