Blutrote Federn

»Ich gebe dir Macht.

Du gibst mir dein Leben.«

PERGAMENT,

GEFUNDEN IM OSTTURMDES GOLDENEN PALASTES

Aktur hielt sich beide Händen auf die Ohren und schloss gequält die Augen. Das Geheul war unerträglich. Er öffnete den Mund, um zu schreien, doch es drang kein Laut heraus. Seine Kehle vibrierte unter dem Lärm und warme Tränen liefen seine Wangen hinab. Für einen kurzen Moment schwoll das Geheul ab. Nur, um sich danach noch lauter und durchdringender über die Schreie der Palastbewohner zu erheben.

Was ist das? Es hört sich an wie ein Wolf, aber es tut so weh! Der Elf hatte schon von Geschichten über Werwölfe gehört, die bei ihrer ersten Verwandlung vor Qualen so markerschütternd geschrien hatten, dass ganze Dörfer die Nacht nicht überlebt hatten. Aktur presste die Hände stärker auf seine Ohren und hoffte, dass dies hier nicht passieren würde.

Auf einmal packte jemand ihn an den Schultern und schüttelte ihn. Eine Hand versuchte seine Finger auseinander zu biegen. Wer war dieser Narr? Er würde sterben, wenn er dem vollen Ausmaß des Geheuls ausgeliefert war. Das durfte nicht passieren! Er musste den Wolkenleser Cor finden und mit seiner Hilfe die Königin ketten, die vermutlich der Ursprung allen Übels war.

Eine schallende Ohrfeige brachte Aktur zu Besinnung und flammender Schmerz schoss in seine Wange. Wieder stiegen Tränen in ihm hoch. Unwillig schüttelte er den Kopf. Dieses Geheul! Er konnte es nicht mehr ertragen! Es sollte aufhören! Ein weiterer Schlag in sein Gesicht und er riss die Augen auf. Vor ihm stand ein schwarzhaariger Elf, der ihn an den Schultern gepackt hatte und ihn wild durchschüttelte. Auch sein Gesicht war schmerzverzerrt. Plötzlich brach das Geheul abrupt ab, als hätte jemand die Tür zu einer schalldichten Kammer zugeschlagen. Totenstille legte sich über den Goldenen Palast. Aktur zitterte am ganzen Leib und der Schock saß immer noch tief in seinen Gliedern. Hoffentlich fing das Heulen nicht wieder an. Er würde es nicht überleben. Schon jetzt hatte er Mühe, bei Sinnen zu bleiben. Seine Augenlider wurden schwer, doch eine weitere Ohrfeige katapultierte ihn zurück in die Wirklichkeit.

»Du musst sofort fliehen«, presste der Elf vor ihm hervor und schubste Aktur in Richtung des bereits offen stehenden Fensters. Im Flur vor der Tür ertönte lautes Gepolter wie von Rüstungen, deren Eisenkanten aufeinander krachten. Es kam immer näher. »Ich halte sie auf.« Der Elf sah gehetzt über seine Schulter zur roten Tür und plötzlich erschien eine schwebende Feuerkugel über seiner Handfläche. Er ist ein Magier!

»Was ist denn los?«, fragte Aktur den Schwarzhaarigen verwirrt. Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Habe ich etwas falsch gemacht? Hat Nadir diesmal genug von mir und lässt mich von der höchsten Railess werfen? Das kann doch nicht sein! Er hatte sich diesmal besser angestellt als die Tage vorher. Das Gespräch mit Akla hatte ihm etwas mehr Sicherheit gegeben. Es war Pech gewesen, dass er dann ausgerechnet gegen Rielle hatte kämpfen müssen, die ihn so schnell zu Boden geschickt hatte wie beim ersten Mal und ihm noch ein paar Fußtritte versetzt hatte. Aus Versehen, wie sie dem General versichert hatte.

»Es gab einen Mordanschlag auf den König. Sie vermuten, du warst das«, antwortete der fremde Elf. Im selben Moment wurde die Tür aufgerissen und zwei Himmelskrieger in voller Rüstung und mit zwei Schwertern in der Hand tauchten in der Öffnung auf. Kurzerhand schleuderte der Magier ihnen den Feuerball entgegen, sodass sie die Tür schnell wieder zuschlugen, um sich nicht zu verbrennen. Flüche und geschriene Befehle flogen durch die Luft.

»Warum ich? Ich war doch die ganze Zeit hier!«, wollte Aktur wissen. Sein Kopf schien überzuquellen vor Fragen und sein Herz hämmerte wie wild in seiner Brust. Er saß in der Falle. »Woher weißt du das überhaupt? Warum hilfst du mir?«

»Ich weiß, dass du es nicht warst«, war die schlichte Antwort des Elfen auf die letzte Frage. Er drehte sich zu ihm um. »Nimm dein Schwert und klettere durch das Fenster nach draußen. Ich habe Himmelstürmer gerufen. Wenn du springst, wird er dich auffangen.«

»Ich soll springen?«, fragte er fassungslos.

»Vertrau mir. Und jetzt nimm dein verdammtes Schwert!« Der Magier drehte sich wieder um, als die Tür erneut aufgerissen wurde, und bildete eine weitere Flammenkugel, die er vor die Füße des Himmelskriegers warf, der als Erster das Zimmer betrat. Der Teppich fing Feuer und die Flammen loderten hoch auf. Fluchend schlug der Krieger um sich, stolperte nach hinten und zog die Tür hinter sich erneut zu. Das Feuer leckte fast sanft über die rote Farbe, die innerhalb weniger Augenblicke verglühte und in Asche zu Boden fiel. Das Holz darunter färbte sich schwarz.

»Nimm dein Schwert!«

Die Worte des Magiers rissen Aktur aus seiner Starre. Er stürzte vor und griff sich seine Waffe. Dann eilte er zum Fenster und warf einen letzten Blick zurück. Erst jetzt hatte er in dem Schwarzhaarigen den Elfen erkannt, der im Flur gestanden hatte, als König Zefalo ihn am ersten Tag zu seinem Zimmer geführt hatte. Er, umringt von den Flammen, erinnerte Aktur an den Brand von Yaari, bei dem seine Familie gestorben war. Das Feuer war verheerend gewesen, alles verzehrend und gigantisch. Er erinnerte sich noch an den schwarzen Umriss seines Vaters, der seine Frau und seine beiden Töchter verzweifelt umklammert hatte. Die Augen von der Hitze nur noch zwei leere Höhlen. Die Haare verbrannt. Die Haut schwarz verkohlt.

»Komm, mein Sohn, komm! Und brenne, brenne, brenne mit uns!«, hatte er geschrien, hysterisch, verzweifelt. Dann war alles explodiert und zurückgeblieben war nur die Erinnerung. Jedes Mal, wenn er ins Feuer schaute, hörte er die Rufe seines Vaters, der den Verstand verloren hatte. So auch jetzt.

»Jetzt!«

Aktur zuckte heftig zusammen und wich vor dem schwarzhaarigen Elfen zurück. Über dessen Händen schwebte bereits eine weitere Feuerkugel.

»Jetzt! Bevor sie den obersten Magier holen!«

Mit klopfendem Herzen kletterte Aktur durch das Fenster und ließ sich in die Tiefe fallen, während hinter ihm ein lautes Krachen, Splittern und Schreien ertönte. Der Wind riss an seinen Kleidern und Haaren und ihm wurde bewusst, dass er, wenn der Elf gelogen hatte, wie ein Ei auf der Meeresoberfläche zerschellen würde. Panisch ruderte er mit den Armen und blickte zur Seite. Die Erde der Schwebenden Insel, auf der sich der Goldene Palast befand war schwarz und kleine Pflanzen klammerten sich verzweifelt an die wenigen Vorsprünge, die es dort gab.

Plötzlich schoss ein grauer Adler mit einer weißen Brustbefiederung hinter einer kleinen Railess hervor. Mit kräftigen Flügelschlägen flog der Adler auf Aktur zu und unter ihm hindurch, sodass der Elf sanft auf seinem Rücken zwischen den mächtigen Schwingen landete. Sofort versuchte Himmelstürmer wieder an Höhe zu gewinnen und wich dabei geschickt den Pfeilen aus, die plötzlich in Salven auf sie niedergingen. Ein Geschoss mit auffällig roten Federn versank im rechten Flügel von Himmelstürmer, der einen seltsam gepressten Laut von sich gab, etwas trudelte, dann jedoch beharrlich weiterflog.

Ein weiterer rot befiederter Pfeil streifte Akturs Wange und hinterließ eine blutige Schramme. Dieser Schütze ist außergewöhnlich gut, dachte er. Auch der Adler war wohl zu dieser Schlussfolgerung gekommen, denn er flog auf eine dichte, weiße Wolke zu, durch die die Bogenschützen sie sicher nicht sehen würden.

Feine Wassertropfen kondensierten auf seiner Haut, als sie in den fliegenden Nebel eindrangen. Es gab kaum genug Luft zum Atmen, doch schon bald hatten sie die Wolke wieder verlassen und versteckten sich nun zwischen kleineren Schwebenden Inseln. Sie flogen bereits etwas tiefer, sodass Aktur das dunkle Blau des Meerwassers unter ihnen erkennen konnte. Der Abstand zwischen dem Goldenen Palast und ihnen wurde immer größer, doch je weiter sie sich von ihm entfernten, desto weniger Deckung gab es für sie.

Himmelstürmer stieg wieder etwas höher und schoss dann in einer Art Sturzflug auf das rettende Land zu. Ein einsamer Pfeil, wieder mit roten Federn, kam zu kurz und fiel hinab ins Wasser. Plötzlich ertönte hinter ihnen ein lautes Krächzen. Aktur brauchte nicht nach hinten zu sehen, um zu wissen, dass es Adlerreiter waren, die ihre Verfolgung aufgenommen hatten. Offenbar hatten sie damit gerechnet, dass er fliehen würde.

Sein Adler beschleunigte die Geschwindigkeit. Das Geschoss, das in seinem rechten Flügel gesteckt hatte, war abgefallen, doch nun strömte ein rotes Rinnsal aus der dadurch entstandenen Wunde. Himmelstürmer warf den Kopf herum und nahm Kurs auf das nicht abgebrannte Waldstück der Landzunge. Dort würde Aktur sich gut verstecken können, sollten die Adlerreiter sie einholen. Himmelstürmer jedoch... Der Elf wagte es nicht, daran zu denken, was den Adler erwarten würde, wenn die Himmelskrieger ihn in die Finger bekämen.

Plötzlich war die Luft wieder von Pfeilen erfüllt. Einer von ihnen traf Himmelstürmer in das Fluggelenk seines linken Flügels. Der Adler warf seinen Kopf gequält zurück. Seine Augen waren vor Schmerz weit aufgerissen. Ein Geschoss mit roter Befiederung bohrte sich tief in das andere Gelenk. Der Adler trudelte. Seine Flügel klappten zu und sie stürzten.

Vor Schreck entglitt Aktur sein Schwert, das schneller als er in die Tiefe stürzte. Verzweifelt versuchte er, sich an etwas festzuhalten, doch da war nichts. Nur die Luft um ihn herum und die Pfeile, die weiter auf ihn und den Adler herab regneten. Der Elf breitete die Arme weit aus, um so seinen Sturz abzufangen, was jedoch aus solch einer Höhe nicht helfen würde. Das war sein Ende. Über ihm kreisten die Adler der Adlerreiter wie die Raben über einem Schlachtfeld und krächzten laut triumphierend. Da entdeckte er einen Elfen, dessen hellgelbe Flügel hinter ihm aus den Schulterblättern ragten. Seine dunkelbraunen Haare wehten im Flugwind. Prinz Mirap saß auf einem pechschwarzen Adler und hob seinen Bogen. Ein Pfeil mit blutroten Federn lag auf der Sehne. Der Prinz zielte, lächelte und schoss.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top