Blut auf den Lippen
»In der Zeit, als die Nacht hell leuchtete
und niemand die Wörter Krieg, Not und Leid kannte,
gab es zwei Brüder.
Ihre Namen waren zwei Seiten der Sonne
und ihre Haare waren schwarz wie Kohlen...«
AUS DEM KINDERMÄRCHEN
»DIE KOHLENBRÜDER«
Aktur hielt sich stöhnend den Kopf und blinzelte. Jemand oder etwas hatte ihn in der Heilerhütte der Wolfsleute aufgesucht. Es war niemand gewesen, den er kannte. Keine Schritte waren erklungen, nicht einmal der Perlenvorhang hatte geklimpert. Da war nur dieser plötzliche Geruch von Reptilienhaut und Sumpfmoder gewesen und der Windhauch, der ihn mit sich gebracht hatte. Er hatte überrascht den Mund geöffnet, um zu fragen, wer da war, doch auf einmal waren nadelspitze Zähne an seinem Hals gewesen und er war betäubt zusammengesunken.
Der Elf wunderte sich erst jetzt, warum er seine Hand und seinen Kopf ohne Schmerzen bewegen konnte. Fassungslos öffnete er die Augen und starrte an sich herab. Er trug erstaunlicherweise neue Kleidung. Die Hose bestand aus Leinen und wurde nach unten hin etwas weiter. Auch sein Hemd war ähnlich weit geschnitten. Überrascht bemerkte er eine Wunde an seiner Brust, die sich in Sekundenschnelle schloss. Bald war an dieser Stelle nur noch eine blasse Linie, die aber auch schon langsam verblasste. Verwirrt blinzelte er. Auch meine Augen sind nicht mehr verletzt. Ich kann wieder sehen! Und es ist alles so scharf! Es kam ihm fast vor, als würde er jetzt mehr Einzelheiten seiner Umgebung erkennen, aber vielleicht lag es auch daran, dass seine Welt so lange nur aus Dunkelheit bestanden hatte.
»Überrascht?«, fragte plötzlich eine Stimme. Der Elf drehte seinen Kopf. Er lag im Inneren eines ausgehöhlten Baumes. Doch es kam ihm vor, als hätte jemand diesen Baum aus eigener Kraft erschaffen, denn auf dem Boden, wo normalerweise Holz hätte sein müssen, wuchs Gras. Die fremde Stimme kam aus einem Bereich, der vollkommen in Dunkelheit getaucht war. Er dachte an die Schatten, von denen König Zefalo erzählt hatte und kniff die Augen zusammen, um etwas zu erkennen. Doch die Finsternis war undurchdringlich.
»Wer seid Ihr?«, fragte er höflich und wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Stattdessen flammten plötzlich kleine Lichter auf, ähnlich Glühwürmchen, die sich über die Innenwände des Baumes bewegten. Der Bereich, aus dem die Stimme gekommen war, blieb dunkel.
»Was wollt Ihr von mir?«, wollte Aktur wissen.
»Was willst du von mir, ist hier eher die Frage.«
Der Elf runzelte verwirrt die Stirn. »Ich habe nicht verlangt, dass Ihr mich hierher verschleppt.«
»Nicht?« Die Stimme klang sehr herablassend. »Wer hat denn gefragt, ob es eine Möglichkeit gibt, schneller zu heilen? Wer hat darum gebeten, gerettet zu werden?« Sie verstummte kurz. »Du warst das, Aktur. Du wolltest unbedingt geheilt werden und ich habe dir deinen Wunsch erfüllt. Ich habe sogar noch ein Geschenk für dich, das dich erfreuen wird.«
Aktur verengte seine Augen misstrauisch zu Schlitzen. Er wusste nicht, ob er dieses Geschenk wirklich haben wollte. »Tretet ins Licht!«, verlangte er.
»Ich glaube nicht, dass dir gefallen wird, was du siehst, Elf.« Das letzte Wort zischte die Stimme, als wäre es eine Beleidigung.
»Ich möchte dennoch sehen, wer die Frau ist, die mich geheilt hat.«
»Du hast es so gewollt.«
Aktur duckte sich leicht, als einige der Lichter sich von der Wand lösten und auf die Dunkelheit zuflogen. Schon bald erkannte er die Schemen einer großen Gestalt, deren gelbe Augen genauso hell herausstachen wie die Sterne in der Nacht. Seltsam strähnige Haare umrahmten ihr schmales Gesicht und erst auf den zweiten Blick erkannte der Elf, dass es Schlangen waren, die sich um ihren Kopf schlängelten. Er wich zurück, bis sein Rücken gegen die Wand stieß. Statt Beinen hatte seine Heilerin einen dicken Schlangenleib, der dem einer Anakonda glich, von denen es in Rabû, dem Land der Wälder, nur so wimmelte. Irgendwo in seinem Hinterkopf brummte die Information, dass Anakondas keine Giftschlangen waren, als er ihre spitzen Eckzähne sah, die über ihre Unterlippe hinaus ragten und ihr eine animalische Erscheinung gaben. Um ihren Hals und ihre Handgelenke hatte sie Dutzende von goldenen Ketten und Reifen geschlungen, die so dicht beieinander waren, dass sie keinen Laut erzeugten. Nur das Schaben von Schlangenschuppen über das Holz der Wände war zu hören. Ein Geruch von Sumpfmoder begleitete jede ihrer Bewegungen, als würde sie solch ein Parfum benutzen.
»Erschrocken?«, fragte die seltsame Frau und richtete sich hoch auf, bis ihr Kopf fast an die Decke stieß, die sich wie eine Kuppel über ihnen erhob. Als Aktur nicht antwortete, lächelte sie leicht. Dabei schnitten ihre Eckzähne leicht in ihre Unterlippe und eine gespaltene Zunge schnellte heraus, um den Bluttropfen abzulecken.
»Wer seid Ihr?«
»Du kannst mich Schlangenfrau nennen.« Ihre Antwort war schlicht und passte auch zu ihrem Aussehen, doch Aktur war damit nicht zufrieden. Langsam erhob er sich auf die Füße, um seiner Heilerin annähernd ins Gesicht sehen zu können. Ihre schwarzen Pupillen verengten sich zu Schlitzen. »Du meinst nicht nur meinen Namen und meine Fähigkeiten, sondern alles über mich...« Ihre Zunge schoss vor und wieder zurück. »Nicht jeder hat sich getraut, mich danach zu fragen.«
»Dann tue ich es hiermit.« Der Elf verlieh seiner Stimme einen ernsten Ton und sah die Frau erwartungsvoll an. »Warum habt Ihr mir geholfen?«
»Wird das etwa eine Befragung?«, zischte die Schlangenfrau. »Denk daran, du stehst in meiner Schuld. Du hast kein Recht dazu, mir zu sagen, was ich zu tun habe. Nur, weil du einer der wenigen bist, der sich etwas getraut hat, bedeutet das nicht, dass du mutig bist.«
Aktur öffnete den Mund, um zu widersprechen. Er wollte ihr von den Schicksalsschwestern erzählen, von dem Gespräch mit König Zefalo und von den Lektionen beim General, aber sie war schneller.
»Ich weiß, dass du ein Held bist. Vielleicht sollte ich auch der Held sagen. Schließlich wirst du es sein, der die dunkle Königin ketten wird. So steht es in der Halle der Säulen, nicht wahr?«
»Woher...?«
»Ich weiß vieles, was du nicht weißt. Meine Magie ist mächtig. Und ich besitze sehr viel davon. Ich habe dich geheilt, schon vergessen?«
Der Elf nickte. »Dafür danke ich Euch.«
Die Schlangenfrau schnaubte und das Ende ihres Schwanzes donnerte auf den Boden. »Worte nützen mir nichts. Ich habe dich nicht gerettet, um mit einem einfachen ›Danke‹ entlohnt zu werden.«
»Warum habt Ihr es dann getan? Was wollt Ihr von mir?«
»Ich habe dich gerettet, weil du der Held bist. Ich werde dich lehren, wie man richtig kämpft. Mit allen Waffen. Ich werde dir Kampftricks zeigen, die nicht einmal der General des Königs kennt. Ich werde dir beibringen, was es heißt, der Beste zu sein. Das einzige, was ich von dir erwarte, ist deine Treue. So wie du es geschworen hast.«
»Meine Treue?« Aktur sah sie irritiert an.
»Deine Treue«, sagte seine Heilerin. »Bis zu deinem Tod bist du mir zu Treue verpflichtet. Du tust was ich sage und genau so wie ich es sage. Hast du nicht behauptet, du würdest deinem Retter ewige Treue bis in den Tod schwören?«
Aktur presste die Lippen zusammen. In seiner Verzweiflung hatte er das tatsächlich behauptet. Nachdem er erfahren hatte, dass es keine Möglichkeit gab, schneller geheilt zu werden. »Wenn es jemanden gibt, der mich retten kann, bitte, finde einen Weg zu mir. Ich werde bis zu meinem Tod dankbar sein und ewige Treue schwören.« Die Worte hallten in seinem Kopf wieder, unwirklich, als wäre nicht er es, der sie gesagt hatte. Aber er konnte es trotzdem nicht abstreiten. Was einmal ausgesprochen war, blieb ausgesprochen. Woher hätte er wissen sollen, dass ausgerechnet so eine eigenartige Frau die Macht hatte, ihn zu heilen und ihm sein Augenlicht wiederzugeben.
Die Schlangenfrau schien sein Zögern zu bemerken. »Du willst nicht?« Ihre ohnehin schon geschlitzten Pupillen wurden noch schmaler. »Bist du also jemand, der nicht zu seinem Wort steht?«
»Doch!« Aktur sah sie erschrocken an. »Ich stehe zu meinem Wort! Es ist nur... Ich habe nicht damit gerechnet, dass es wirklich jemanden gibt, der meinen Ruf hören könnte.«
»Nun, ich habe ihn gehört«, entgegnete die Schlangenfrau kalt. »Und jetzt bist du hier. Schwörst du mir also die Treue oder nicht? Denk daran, ich habe dich geheilt und ich habe dir angeboten, dich zu einem Krieger auszubilden, der du sein musst, um die dunkle Königin zu ketten. Ich verfüge über Wissen, von dem die weisesten Personen der Goldenen Welt nur träumen können.«
»Werde ich Magie beherrschen können?« Die Worte kamen schneller über Akturs Lippen, als er es gewollt hatte. Beschämt und erschrocken zugleich blickte er ihr in die Augen. Ihr Mund verzogen sich zu einem Lächeln und wieder sammelte ihre Zunge das Blut von den Lippen.
»Magie ist nur ein kleiner Teil von dem, was du lernen wirst. Ich sehe, dass Magie in dir steckt. Nicht so viel wie bei denen, die von der Nymphe Alarchias persönlich belehrt werden, aber dennoch etwas. Ein kleiner Zauber von meiner Seite und du wirst sie benutzen können.« Die Schlangenfrau beugte sich zu ihm hinunter und streckte ihm ihre Hand hin. Ihre Fingernägel waren lang wie bei einer Hexe, erinnerten aber mehr an die Klauen einer Echse. »Schwöre mir deine Treue und ich werde dir alles geben, was du dir wünschst. Meine Magie ist stark.«
Etwas regte sich in Aktur. Er dachte an Mione und ihre Bitte, die dunkle Königin zu besiegen, um die Baumgeister zu retten. Es geht nicht nur um die Baumgeister, dachte er. Es geht um Alarchia und vielleicht sogar um die ganze Goldene Welt. Ich darf mein Wort nicht brechen. Der Elf hob ebenfalls seine Hand und bewegte sie auf die Schlangenfrau zu. Sie verschränkten die Finger ineinander. Anscheinend wuchsen auch auf ihrer Hautfläche Schuppen, denn als er die Hand zurück zog, prangten drei dünne Schnitte darin. Kein Blut quoll daraus hervor und auch Schmerz hatte er keinen gespürt.
»Nur eine Versicherung«, erklärte die Schlangenfrau leise, als sie seinen nachdenklichen Blick bemerkte. »Du hast deine Schuld für die Heilung beglichen und dein Wort gehalten. Nimm dein Schwert und folge mir hinaus. Ich werde dir deine erste richtige Lektion im Schwertkampf geben.«
»Mein Schwert?« Aktur blickte seine Heilerin unsicher an. Doch sie hatte ihre Hände auf die Holzwand gelegt und murmelte Sätze, die er nicht verstand. Es schien Jouze zu sein, denn schon nach einigen Worten bog sich das Holz auseinander, als würden unsichtbare Hände einen Vorhang öffnen. Von draußen wehte Wind herein und beförderte halb verbrannte Blätter ins Innere des Baumes. Regen prasselte auf das Gras nieder.
»Dein Schwert ist in der Wand«, rief die Schlangenfrau ihm zu, bevor ihr Leib sich nach draußen schlängelte. Ihr Gewicht drückte das Gras platt und so hinterließ sie eine breite Spur. Die Schlangen auf ihrem Kopf zischten verärgert, als sie dem Regen ausgesetzt wurden. Dann war sie aus seinem Blickfeld verschwunden.
Aktur schaute sich suchend in dem Baum um. Er lächelte. Die Waffe, die König Zefalo ihm zur Verfügung gestellt hatte, war unverwechselbar. Die Klinge des namenlosen Schwertes war halb in dem Holz versunken. Nur noch der obere Teil und das Heft waren zu sehen. Als der Elf den Griff umfasste, machte sich ein Prickeln in seinem ganzen Körper breit. Der Baum gab die Waffe frei und Aktur keuchte unter dem Gewicht. Er hatte es nicht so schwer in Erinnerung. Ich werde gut auf dich aufpassen. Du wirst mich nicht töten, denn ich werde dich nie aus den Augen lassen.
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