Bittere Wahrheit

»Die überzeugendste Lüge

besteht zu großen Teilen

aus der Wahrheit.«

AZOREAH ETH KHAMAL,

ZWEITE FÜRSTIN VON ATALCA,

208 DGW

Aktur erzählte Cor alles. Bis ins kleinste Detail. Von seiner ersten Begegnung mit Mione bis zur Nacht der drei Monde, in der er von ihrem Tod erfahren hatte. Von ihrer Bitte, Cor zu finden. Von dem Schicksal, das die zwei Schicksalsschwestern ihm offenbart hatten. Von seiner Zeit im Goldenen Palast, wie er dann geflohen und bei den Wolfsleuten gelandet ist. Von der Schlangenfrau und ihrer Wildheit, sobald er Cor auch nur erwähnte. Davon, dass sie die Lehrerin der dunklen Königin war und ihm dabei helfen wollte, sie zu besiegen, wie die Prophezeiung besagte, dann jedoch auf ihn losgegangen war. Von ihrem Tod und dem Verschwinden ihres Leichnams. Von dem Massaker an den Wolfsleuten, das Cor schwer zu betreffen schien. Er endete mit Akla und Ethajon, die ihm diese Hütte überlassen und selbst abgereist waren.

Cor hörte die ganze Zeit über aufmerksam zu. Seine unheimlichen Augen, das linke zusätzlich von weißen Narben umrahmt, musterten ihn durchdringend als würde er versuchen herauszufinden, ob er log. Selbst als Aktur geendet hatte, saß er noch eine Weile still da und schien nachzudenken, während der Junge, den er mitgebracht hatte, gelangweilt auf seinem Stuhl saß und die Beine baumeln ließ.

»Ich habe so lange gehofft, auf Euch zu treffen«, wagte Aktur es, die Stille zu brechen. »Glaubt Ihr mir? Werdet Ihr mir helfen, die dunkle Königin zu ketten?«

Cor schwieg einige Augenblicke, bevor er mit nachdenklicher Stimme sagte: »Ich glaube Euch.«

Erleichtert atmete Aktur aus und wartete darauf, dass der Wolkenleser noch etwas sagte, doch es kam nichts. Habe ich etwas falsch gemacht? Nervös knetete er seine Hände unter dem Tisch, wo niemand es sehen konnte. Er hatte gedacht, sein Treffen mit Cor würde anders verlaufen. So wie in den Geschichten und Märchen, die sich erzählt wurden. Es war ihm vorherbestimmt, der Held zu sein, der Alarchia rettete. Sein Bild war in der Halle der Säulen im Goldenen Palast. Wenn Cor ihn nicht haben wollte, wenn er sich weigerte, ihm zu helfen, wer war er dann noch?

»Die Schlangenfrau, von der Ihr gesprochen habt«, hob der Wolkenleser endlich wieder an. »Sie schien mich zu kennen. Ich erinnere mich jedoch nicht an sie. Hat sie etwas über mich gesagt?«

Aktur schluckte, erinnerte sich daran, wie seine frühere Lehrerin die Wolkenleser beschimpft hatte, weil sie die Goldene Welt im Stich gelassen hatten. »Nicht direkt«, erwiderte er etwas ausweichend, doch Cor verstand anscheinend, welche Art von Sachen sie von sich gegeben hatte.

»Sie scheint gefährlich zu sein«, meinte der Wolkenleser nach einigem Zögern. »Und vermutlich ist sie noch nicht tot. Wir sollten wachsam sein.«

»Wir?« Aktur hielt sich gerade noch rechtzeitig davon ab, vor Freude aufzuspringen. Zwar war die Wirkung des Gifts schon fast vollständig verflogen, doch zu schnelle Bewegungen taten ihm immer noch nicht gut. »Bedeutet das, Ihr werdet mir helfen?«

»Ich sehe nichts, was dagegen spricht«, erklärte Cor.

Aktur spürte, wie sich wieder Tränen in seinen Augenwinkeln sammelten, die er hastig wegwischte. Alles wird gut, beruhigte er sich und lächelte in sich hinein. Mione, wenn du mich hörst, ich habe ihn gefunden. Ich werde deine letzte Bitte erfüllen, die dunkle Königin besiegen und die Nadgore aus dem Silberwald vertreiben, damit deine Brüder und Schwestern nicht mehr leiden.

»Ihr wisst also, dass Tara eine kleine Seherin ist«, fragte Cor auf einmal.

Der Elf nickte zögerlich.

»Sie ist nicht tot, wie Theresa es Euch gesagt hat.«

Aktur traute seinen Ohren nicht. Das war zu viel Glück auf einmal! Er öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Unfähig, etwas von sich zu geben. Schließlich keuchte er: »Ihr wisst, wo sie ist?«

Cor nickte. »Aber ich kann Euch nicht zu ihr führen. Sie hat genug eigene Probleme und hat ihre Gabe auch noch nicht unter Kontrolle. Doch keine Sorge, sie sollte außer Gefahr sein. Ich habe jemanden bei ihr zurückgelassen, der sie beschützen wird.«

»Dann...« Aktur sah ihn ratlos an und wusste nicht, was er vorschlagen sollte. Er hatte gedacht, dass Tara ihm helfen würde, die Vergangenheit der dunklen Königin und somit ihre verborgene Schwäche herauszufinden, damit er sie besiegen konnte. Wenn die kleine Seherin ihre Gabe nicht kontrollieren konnte, war das allerdings nicht mehr möglich. Erst recht nicht, wenn Cor ihn nicht zu ihr führen wollte.

»Ursprünglich bin ich nach Otequ gekommen, um etwas über meine eigene Vergangenheit zu erfahren«, erklärte der Wolkenleser. »Ich habe gehofft, jemanden zu finden, der die Schattenschlacht überlebt hat und mir erzählen kann, was ich damals hier gemacht habe.«

Aktur erinnerte sich daran, dass eine der Schicksalschwestern behauptet hatte, Cor wäre während der Schattenschlacht gestorben, und nickte als Bestätigung, dass er ihm folgte.

»Da es hier aber niemanden mehr zu geben scheint und Ihr nicht wisst, wohin Akla und Ethajon gezogen sind, fällt diese Spur weg«, fuhr er fort. »Ich bezweifle auch, dass es in irgendwelchen Bibliotheken Aufzeichnungen gibt, die in allen Einzelheiten über die Geschehnisse während der Schattenschlacht berichten. Jedenfalls keine, die mir weiterhelfen würden.«

»Könnt Ihr Euch denn selbst nicht mehr erinnern?«, fragte Aktur vorsichtig.

Cor schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich vermute, dass ein Schatten damals alle meine Erinnerungen hinter einer Wand weggeschlossen hat. Ich weiß noch alles, was nach der Schattenschlacht passiert ist. Davor ist nur eine düstere Leere.«

»Könnt Ihr diese Wand nicht durchbrechen? Ihr seid schließlich eines der mächtigsten Geschöpfe der Goldenen Welt.«

Der Wolkenleser schmunzelte leicht. »Wie ein alter Freund von mir einst gesagt hat: Nur derjenige, der sie errichtet hat, kann sie auch wieder niederreißen. Da ich keine Hinweise auf den Schatten habe, der das damals getan hat, kann ich ihn auch nicht finden. Somit sind meine Erinnerungen vermutlich für immer verloren.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie schrecklich das für Euch sein muss«, erklärte Aktur bedauernd. »Was werden wir dann tun?«

Cor seufzte und schien eine Weile mit sich zu hadern, bis er entschlossen nickte. »Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl als meine Ordensbrüder aus ihrem Versteck zu holen.«

Aktur riss erstaunt die Augen auf. »Ihr meint... die anderen Wolkenleser?«

»Ja«, bestätigte Cor. »In einem hatte die Schlangenfrau recht. Wir haben uns zu lange vor den Problemen der Goldenen Welt verschlossen. Das muss nun ein Ende haben. Wenn wir nicht an die Vergangenheit der dunklen Königin rankommen, um sie mit Wissen und List zu besiegen, müssen wir es mit Stärke und mächtiger Magie versuchen. Wer eignet sich da besser als die mächtigsten Wesen der Goldenen Welt?«

»Aber... sind die Wolkenleser nicht verschwunden? Habt Ihr... Haben Eure Ordensbrüder sich nicht so gut versteckt, dass niemand sie finden kann? So viele haben es versucht und alle sind gescheitert.«

»Das stimmt«, entgegnete Cor. »Aber sie haben falsch gesucht. Die Wolkenleser verstecken sich nicht in dieser Welt.«

Der Elf spürte, wie sein Herz anfing, schneller zu schlagen. »In welcher dann?«

»In der Welt der Magie«, antwortete Cor. »Deshalb kann niemand sie finden. Zwar können einige diese Welt sehen und sie sogar betreten, aber keiner kommt auf die Idee, dort nach den Wolkenlesern zu suchen.«

»Bedeutet das, Ihr werdet mir zeigen, wie ich mit meiner Magie umgehen kann?« Die Frage war so schnell über seine Lippen gekommen, dass er gleich darauf die Zähne fest zusammenbiss. War das zu früh? Hätte ich warten sollen? Sein größter Traum würde in Erfüllung gehen, wenn Cor zustimmte. Die Welt der Magie... So oft hatte er sich vorgestellt, sie zu sehen. Wenigstens für einen kurzen Augenblick. Offenbar hatte die Schlangenfrau das erkannt und ihn dann mit ihren falschen Versprechen bei sich behalten. Als der Wolkenleser bedauernd den Kopf schüttelte, verpuffte all seine Hoffnung jedoch wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aktur riss sich zusammen, um nicht enttäuscht in sich zusammen zu sinken.

»Tut mir leid, Aktur.« Es war das erste Mal, dass Cor ihn mit seinem Namen ansprach. »Deine Innere Magie ist zu schwach. Damit hatte die Schlangenfrau ebenfalls recht. Egal wie fleißig du übst und wie viel ich dir beibringe, du wirst die Welt der Magie nie sehen können.«

»Aber die Schlangenfrau hat auch gesagt, dass es einen Zauber gibt, den man wirken kann, damit man seine Innere Magie besser kontrollieren kann!« Verzweifelt blickte er dem Wolkenleser abwechselnd in das schwarze und in das weiße Auge.

»Es tut mir leid«, antwortete Cor nur. »So einen Zauber gibt es nicht. Sie hat dich angelogen.«

Es war, als würde Akturs gesamte Welt zusammenbrechen. Er sackte in seinem Stuhl zusammen und kämpfte damit, nicht vor Enttäuschung aufzuschreien. Alle seine Träume waren innerhalb von Herzschlägen zersplittert wie ein Spiegel, den man gegen eine Wand warf. Nur Scherben waren übrig. Scherben, in denen seine zerstörten Hoffnungen sich nur noch schwach spiegelten. Ich werde die Welt der Magie nie sehen können. Der Satz brannte sich in seine Gedanken wie ein glühender Eisenstab.

»Nicht alle Elfen sind dafür gemacht, mit ihrer Inneren Magie umgehen zu können«, hörte er Cors Stimme wie aus weiter Ferne. »Das ist nichts Ungewöhnliches. Du solltest dir keine Vorwürfe machen. Ich bin mir sicher, dass du andere Begabungen hast. Jeder hat sie. Du musst deine nur noch finden.«

Wie betäubt schüttelte Aktur den Kopf. Es fühlte sich falsch an, sich bei einem Wolkenleser, bei so einem mächtigen Wesen zu beklagen, aber er konnte nicht anders. »Ich bin kein Schwertkämpfer.« Seine Stimme zitterte leicht. »Ich bin kein Krieger. Ich bin ein einfacher Professor aus Ihany. Ich habe keine Ahnung, wie ich die dunkle Königin so, wie ich jetzt bin, besiegen soll.«

Er nahm wahr, wie Cor aufstand, zu ihm rüber ging und ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Auf der Welt existiert nicht nur Stärke und Magie. Das darfst du nicht falsch verstehen. Auch Klugheit und Erfahrung ist gefragt. Jetzt, wo du weißt, wie es ist, zu Unrecht beschuldigt, zu etwas gezwungen und angelogen zu werden, bist du ein ganzes Stück weiser geworden. Du musst geduldig sein. Schau dich um. Es gibt Leute, denen es schlechter geht als dir.« Er deutete auf den Straßenjungen, der gelangweilt Löcher in die Luft starrte. »Er lebt auf der Straße und ist trotzdem voller Lebensfreude. Lass dich nicht unterkriegen. Jetzt, wo du das Schlimmste hinter dir hast, wird es nur noch besser werden.«

Aktur fühlte, wie eine seltsame Ruhe ihn erfasste. Der Wolkenleser hatte recht. Er durfte jetzt nicht aufgeben. Er hatte Cor gerade erst gefunden. Es war unwichtig, ob er Magie wirken konnte oder nicht. Sein Bild war in der Halle der Säulen, also war schon lange vorherbestimmt, dass alles so passieren würde, wie es in der Prophezeiung stand. Er würde die dunkle Königin besiegen, ob er wollte oder nicht. Doch trotzdem pochte der Zweifel in seinen Gedanken. Das Bild der Hand, die ihn mit seinem eigenen Schwert durchstach, ging ihm nicht aus dem Kopf.

»Ihr werdet also Eure Ordensbrüder davon überzeugen, ihr Versteck zu verlassen«, hörte Aktur sich kaum hörbar sagen. »Und was werde ich tun?«

»Du wirst mit mir aus Otequ fortreisen«, erklärte Cor.

Der Elf blinzelte überrascht, doch bevor er fragen konnte, fügte der Wolkenleser hinzu:

»Du kannst nicht hier bleiben. Überall hängen deine Fahndungsplakate und früher oder später werden die Menschen hier misstrauisch werden und dich erkennen. Es ist besser, wenn du Otequ verlässt.«

»Und wohin gehen wir?«

»In eine etwas ruhigere Gegend.« Cor überlegte. »Den Norden schließen wir aus. Die königliche Armee ist dorthin unterwegs. Vermutlich wird es dort in nächster Zeit nicht sicher sein. Im Gion-Gebirge halten sich den Gerüchten nach Bestien auf, denen wir besser nicht begegnen sollten. Im Perlenwald sind finstere Gestalten unterwegs und Zowuza schließe ich ebenfalls aus. Bleibt noch der Westen Alarchias.«

»Ihr wollt in die Ohawa-Wüste?«

»In eine der Städte am Rand der Wüste. Die Menschen dort sind nicht so zivilisiert wie hier und kümmern sich auch nicht um die Anliegen des Königs, aber das ist diesmal nur zu unserem Vorteil.«

Aktur zögerte etwas. Er war noch nie in Jami oder Zyra gewesen und wusste auch nicht, wie die Menschen dort zu Elfen standen. Aber die Argumente des Wolkenlesers klangen überzeugend. Langsam nickte er. »In Ordnung.«

»Dann ist das beschlossen. Sobald wir dort sind und unsere Ruhe haben, werde ich meine Ordensbrüder aufsuchen.« Cor klopfte ihm ein weiteres Mal auf die Schulter. »Mach dich bereit, sofort aufzubrechen. Nimm nicht zu viele Sachen mit.« Der Wolkenleser war gerade einige Schritte gegangen, als der Straßenjunge aufgeregt vom Stuhl kletterte, zu ihm lief und ihn mehrmals an der Kleidung zog, während er wild auf ihn einredete. Cor erwiderte etwas, was Aktur nicht verstand, woraufhin der Junge heftig nickte. Dann gab der Wolkenleser ihm einen Beutel voller Münzen und das Kind rannte zur Tür hinaus.

»Er wird dir ein Pferd und sich ein Pony kaufen«, erklärte Cor dem Elfen. »Sein Name ist Kawa. Er möchte mit uns kommen und uns helfen.« Ein belustigtes Schmunzeln wanderte über seine Lippen. »Obwohl er nicht weiß, wo es hingeht.«

Aktur konnte sich das Lächeln ebenfalls nicht verkneifen. Der Junge erinnerte ihn ein wenig an Rako. Eilig ging er in sein Zimmer, um einige Kleider, die früher wohl Ethajon gehört hatten, und sein Schwert zu holen. Eine leichte Aufregung machte sich in ihm breit. Cor ist eines der ältesten Geschöpfe der Goldenen Welt. Wie viel Wissen er haben muss! Selbst wenn er sich an die Sachen vor der Schattenschlacht nicht erinnert, er ist sehr weise. Danke, Mione, dass du mich zu ihm geführt hast. Oder ihn zu mir. 

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