Auf Schwebenden Inseln
»Dort, wo die Railess schweben,
über den Schwebewassern.
Dort, wo die Adler leben,
über den Schwebewassern.
Dort lebt ein großer König.
Im ganzen Land einmalig.
Held für Kinder der Elfen.
Geboren, um zu helfen.«
LETZTE STROPHE DES GEDICHTS
»KÖNIG ZEFALO, HERZOG DER LÜFTE«
Aktur sah zum Himmel. Er konnte sich zwar nicht mehr an seine Eltern erinnern, doch er wusste, dass sie es waren, die ihm von den Schwebenden Inseln erzählt hatten, den Railess, wie sie in der Sprache der Magie hießen. Viele Male hatte er sich gewünscht, dort zu sein und voller Ehrfurcht den Goldenen Palast zu betreten, wo die Götterkinder Jeovi, der Erschafferin allen Lebens, dienten. Er hatte davon geträumt, den Himmlischen Tempel von innen zu bewundern. Das alles war weit entfernt gewesen. Zu weit, um es zu erreichen, doch jetzt...
Der Elf sah die Schwebenden Inseln vor sich. Wie herausgerissene Landstücke hingen sie über dem blauen Meer in der Luft. Sein Traum schien zum Greifen nah. Voller Sehnsucht streckte Aktur seine Hand aus, um den Railess näher zu sein. Ein Kribbeln wie von Schmetterlingsflügeln, die über seine Haut strichen, breitete sich von seinen Fingerspitzen im ganzen Körper aus. Zum ersten Mal, seit er die Nachricht von Mione gehört hatte, fühlte er sich wieder sicher und geborgen.
Ich muss Cor finden. Und wenn ich das getan habe und mit seiner Hilfe den Herren der Schwarzen Magie gefunden und getötet habe, wenn Miones Brüder und Schwester gerettet sind, wenn ich das schaffe ohne zu sterben, dann wird mir vielleicht die Ehre zuteil, die Schwebenden Inseln betreten zu dürfen.
Aktur zog die Hand weg und biss sich auf die Lippen. Noch ist es nicht so weit. Während er mit weit ausholenden Schritten den Strand weiter in Richtung Süden ging, wanderten seine Gedanken immer wieder zurück zu Miones Bitte und dem seltsamen Auftreten der beiden Schicksalsschwestern. Sie schienen seine Geliebte sehr gut gekannt zu haben, wenn sie den beiden Wasserfeen so eine wichtige Botschaft für ihn hinterlassen und ihnen sogar sein Aussehen beschrieben hatte.
Der Elf erinnerte sich zurück an die Schwärze, oder den Nadgore, wie die Nixen diese Schwarze Magie genannt hatten. Wenn Mione daran erkrankt war, warum konnten die Schwestern sie nicht retten, ihn aber schon? Und wer war so mächtig, dass er die Schwarze Magie in allen Ländern der Goldenen Welt beherrschen konnte? So hatte Mione es jedenfalls gesagt. Es kann nur eine Fee sein. Kein anderes Geschöpf hat mehr Macht über die Magie als die Feen. Oder die Wolkenleser, aber sie sind verschwunden und warum sollte ich Cor um Hilfe bitten, wenn er die Ursache allen Übels ist?
Frustriert stöhnte Aktur auf, als er mit einem Fuß auf einen losen Erdbrocken trat, der die Böschung hinabrollte und dabei auseinander fiel. Der Elf breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht zu bewahren und wartete, bis keine Erde mehr abbröckelte, was jedoch nicht geschah. Immer mehr Klumpen lösten sich und rutschten ins Meerwasser, dass sich schon braun verfärbt hatte. Plötzlich gab es einen kräftigen Ruck, der Aktur von den Beinen riss. Der Elf fiel auf die Knie und beobachtete voller Erstaunen, wie sich um ihn herum ein Riss auftat und immer breiter wurde. Ein weiteres Beben brachte die Erde zum Zittern und auf einmal stieg sie in den Himmel. Die kleine Schwebende Insel, auf der Aktur sich nun befand, begann, sich in immer schnellerem Tempo auf die anderen Railess zuzubewegen. Der Goldene Palast war zwar noch weit entfernt, doch es war erstaunlich, welche Gebäude auf den anderen Inseln erbaut waren. Oder etwa nicht? Erst bei einer geringeren Entfernung erkannte der Elf, dass es nur Ruinen und aufgeschüttete Steinhaufen waren, die er gesehen hatte. Allmählich wurde der Erdbrocken langsamer und gesellte sich zu einer Gruppe ähnlich kleiner Railess, die jedoch alle mit Strickleitern, Hängebrücken oder einfach nur Seilen verbunden waren. Das Ganze sah aus wie eine Inselansammlung im Meer, nur dass das Wasser viel zu weit unten war.
Vorsichtig lugte Aktur über den Rand seines Erdbrockens. Der Ausblick war atemberaubend. Dennoch stockte er. Im Süden, wo sich der Perlenwald erstrecken sollte, war nur noch eine große schwarze Fläche zu sehen. Einzig bei der Landzunge und weiter im Süden konnte er noch einige grüne Bäume erkennen. Was ist da passiert? Die Antwort gab ihm eine Stimme direkt hinter ihm.
»Schlimm, diese Waldbrände. Ist schon der zweite in zehn Jahren«, quäkte jemand. Der Elf fuhr herum und sah sich einem Quatto gegenüber. Jene kleinen Wesen sahen Gnomen nicht ganz unähnlich, waren jedoch viel beliebter und hatten einen entscheidenden Vorteil: Sie konnten alle Sprachen der Goldenen Welt sprechen und dienten sogar den Königen als Dolmetscher.
Der Quatto, der den Elfen soeben angesprochen hatte, schaute ihn aus großen, schwarzen Augen an. Er stand auf einer anderen Schwebenden Insel und hielt ein Seilende in der Hand. Zu seinen Füßen lagen ein Hammer und eine gekrümmte Eisenstange, mit denen er die beiden Inseln anscheinend miteinander verbinden wollte. Seine Haut war olivgrün mit einigen dunkleren und helleren Sprenkeln. Haare hatte er keine, was ihn eindeutig als Hausdiener klassifizierte. »Du bist ein Elf«, stellte der Quatto fest und glotzte Aktur etwas dümmlich an.
»Ja«, erwiderte dieser. Da er sich nun schon etwas sicherer fühlte und die Erde unter ihm sich auch nicht mehr bewegte, stand er auf und versuchte, die Entfernung zwischen seiner und der benachbarten Railess einzuschätzen, um hinüberzuspringen. Doch der Kerl stellte sich ihm in den Weg.
»Ich kann dich erst vorbei lassen, wenn es mir befohlen wurde. Mir wurde es nicht befohlen, also darf ich dich nicht vorbeilassen. Und weil ich dich nicht vorbeilassen darf, bleibe ich hier stehen, bis mir befohlen wird, dich vorbeizulassen«, ratterte der Quatto herunter. Es schien, als hätte er diesen Text auswendig gelernt.
Aktur musste schmunzeln. »Und dein anderer Befehl? Du musst doch noch die Insel befestigen, sonst fliegt sie davon, oder nicht?«
Der Quatto schaute ihn mit großen Augen an und schniefte kurz mit der Nase. Ansonsten zeigte er keine Reaktion. Nach einer Weile, die dem Elfen wie eine Ewigkeit erschien, öffnete der kleine Kerl den Mund. Aktur hoffte, er würde ihm doch erlauben, die andere Insel zu betreten, weil der Erdbrocken, auf dem er stand, allmählich an Höhe gewann, doch er sagte nur: »Mein Name ist Rako. Den hat mir mein Hausherr gegeben, als er mich gekauft hat. Meinen Bruder hat er auch gekauft. Der heißt Bofix und meine Cousine zehnten Grades heißt Besha. Und das ist die Mutter von meinem Gehilfen Feco. Und der hat eine Affäre mit der Gnomin Shapu aus der Küche des Goldenen Palastes. Das darf ich aber nicht sagen, weil mein Hausherr ihn dann sehr schlimm bestraft.«
Aktur schwirrte schon der Kopf von den ganzen Namen und Verwandtschaften und er musste sich zusammenreißen, um sich nicht mit der Hand vor den Kopf zu schlagen. Mittlerweile war sein Erdbrocken beträchtlich gestiegen und Rako machte immer noch keine Anstalten, ihn entweder vorbeizulassen oder die Insel mit dem Eisenhaken und dem Seil zu sichern, sodass sie nicht weiter abtrieb.
»Kannst du bitte deinen Hausherrn rufen?«, bat er den Quatto und stampfte mit den Füßen auf die Erde, damit die Insel wieder nach unten sank. Stattdessen bröckelten jedoch kleine Erdklumpen ab und fielen in die Tiefe. Sofort hörte Aktur mit dem Stampfen auf.
Rako schien davon völlig unbeeindruckt. Er schniefte erneut mit der Nase und glotzte den Elfen weiter an. »Mein Hausherr heißt Mirap. Er ist der Prinz im Goldenen Palast. Ich muss ihm jeden Morgen das Bett machen und ihn dann zu einem Spaziergang über die Schwebenden Inseln begleiten.«
Aktur seufzte resigniert. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und sprang von seiner Insel hinunter. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Knöchel, als er auf dem harten Boden direkt hinter Rako aufkam. Er stürzte und keuchte vor Schmerz auf. Seinen linken Fuß konnte er schonmal nicht belasten. Die Schwebende Insel, auf der der Elf eben noch gewesen war, rauschte, ungebremst durch sein Gewicht, mit beachtlicher Geschwindigkeit weiter nach oben, wo sie mit der Unterseite einer viel größeren Railess zusammenstieß und zerbarst. Kleinere und größere Klumpen stürzten zurück in die Tiefe.
Der Quatto starrte den Erdbrocken mit offenem Mund staunend hinterher, bevor er sich an Aktur wand. »Du hast eine Schwebende Insel zerstört!«, sagte er empört und stemmte die Hände in die Seiten.
Der Elf verdrehte die Augen und sah sich nach dem Weg zum Goldenen Palast um, der auf der größten der Inseln liegen musste. Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts eine riesige Gestalt auf. Wie ein Wirbelsturm fegte sie auf Aktur zu und im nächsten Augenblick befand er sich in einer ausweglosen Situation. Er spürte kaltes Metall an seiner Kehle. Die Gestalt, die ihn angegriffen hatte, musste sich genau hinter ihm befinden, denn als der Elf seinen Kopf zur Seite drehte, verstärkte sich der Druck der Klinge und eine Hand packte ihn am Nacken.
»Wer bist du, Elf?«, fragte der Angreifer ihn. Rako starrte die Gestalt hinter Aktur mit großen, ehrfürchtigen Augen an. Sein breiter Mund klappte abwechselnd auf und zu, bis der Quatto es endlich schaffte, ihn geschlossen zu halten. Er gab einen froschähnlichen Laut von sich, woraufhin der Angreifer ihn mit einem Wort zum Schweigen brachte, das der Elf nicht verstand.
»Antworte!«, fuhr die Gestalt den Elfen an und drückte seinen Kopf nach vorne, sodass die Klinge leicht in seine Haut schnitt.
»Ich bin Aktur. Eine der Schwebenden Inseln hat sich unter meinen Füßen gelöst und ist mit mir nach oben gestiegen. Ich konnte nichts dagegen tun!«, sagte er und versuchte, seinen Kiefer dabei so wenig wie möglich zu bewegen.
Der Angreifer rührte sich nicht. Anscheinend dachte er nach. Dann nahm er jedoch seine Klinge und seine Hand weg, sodass Aktur sich zu ihm umdrehen konnte. Die Gestalt zeichnete sich als Schattenriss vor der Sonne ab, doch als sie vortrat erkannte der Elf den Krieger sofort.
Er trug eine goldene Rüstung mit silbernen Gravuren und Mustern, die das Wappen des Goldenen Palastes zeigten: Ein Schwert, das von zwei Flügeln flankiert wurde und über dem ein siebenzackiger Stern schimmerte. In seiner rechten Hand hielt er ein riesiges Schwert mit breiter Eisenklinge und Blutrinne. Auf seinem Haupt zwischen hellbraunen, gelockten Haaren thronte eine Krone wie Aktur sie noch nie gesehen hatte. Sie war verziert mit unzähligen Edelsteinen. Diamanten, Rubine und Smaragde funkelten in verschiedenen Farben. Aus den Schulterblättern des Kriegers wuchsen zwei weiße Flügel aus Federn, deren Spitzen mit Gold verstärkt waren. Er war König Zefalo, der Herr über die Schwebenden Wasser. So viele Legenden rankten sich um ihn. Nie hätte Aktur geglaubt, ihm direkt gegenüber stehen zu können, denn dies ist der Traum aller Elfen. Irgendwann eine Heldentat zu begehen, um von Jeovi, der Erschafferin allen Lebens, Flügel zu bekommen und in den Goldenen Palast einzuziehen. Doch jetzt, wo der König selbst in seiner ganzen Größe und Pracht vor ihm stand, wusste Aktur nicht, was er tun sollte.
»König Zefalo, Herr über die Schwebenden Wasser, Fürst über das östliche Land und Herzog der Lüfte, ich ahnte ja nicht... Ich bitte um Vergebung... Ich weiß nicht, was...«, stotterte er und fiel vor dem Krieger auf die Knie. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Rako das Gleiche tat.
Eine ganze Weile verging, bevor der König ihm seine Hände auf die Schultern legte. »Du musst mir verzeihen«, entgegnete er und lachte dann los. Aktur hob leicht den Kopf. Der Herzog der Lüfte bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich zu erheben, was er auch tat. Ein pochender Schmerz machte sich in seinem Knöchel breit, den er zu ignorieren versuchte. Dennoch schien der König etwas zu bemerken. »Du hast dir den Knöchel verstaucht?«
Zerknirscht nickte der Elf.
»Wir müssen zum Goldenen Palast. Rako!«
Der Quatto zuckte bei seinem Namen zusammen und trat mit tapsigen Schritten näher.
»Du bringst Aktur dorthin.« Der König breitete seine Flügel aus und wollte sich wieder abwenden, als Rako erneut einen froschähnlichen Laut ausstieß. Es hörte sich an wie ein nervöses Quaken.
»Herr, aber wie?«, fragte der Quatto mit piepsiger Stimme, woraufhin der Fürst über das östliche Land leicht lächelte. Er drehte sich zu dem kleinen Kerl um, legte ihm die Hand auf die schmale Schulter und sprach einige seltsame Worte, die Aktur nicht verstand. Dann stellte er sich an den Rand der Schwebenden Insel und breitete die Flügel aus. In einem Sturzflug ließ er sich in die Tiefe fallen und verschwand aus dem Sichtfeld des Elfen. Eine kleine Railess, die gerade vorbei schwebte und anscheinend nicht befestigt war, hatte ihm den Blick auf den König versperrt.
Aktur fragte sich, wie er es zu Fuß zum Goldenen Palast schaffen sollte, doch die Antwort kam früh genug. Rako holte aus seinem Lendenschurz einen seltsamen Stab, mit dem er anfing, komplizierte Zeichen in die Luft zu malen. Wie durch Zauberei erschienen an genau jenen Stellen wirklich kleine und große orange leuchtende Symbole. Das ganze sah aus wie ein Feuer, dessen Flammen getrennt voneinander in der Luft schwebten.
Gibt es hier eigentlich so etwas wie Naturgesetze?, fragte der Elf sich und schüttelte fassungslos, aber trotzdem etwas staunend den Kopf.
Während Aktur in seine Gedanken vertieft war, hatte er gar nicht den Wind bemerkt, der plötzlich aufgekommen war. Er erwachte erst aus seiner Starre, als direkt vor seinen Füßen eine graue Feder zu Boden sank. Noch ein Krieger des Goldenen Palastes? Er sah auf. Doch der Anblick, der sich ihm bot, war ein ganz anderer. Am Rand der Schwebenden Insel hockte ein beängstigend großer, rußgrauer Adler. Sein Schnabel war pechschwarz, genauso wie seine Augen und seine riesigen Krallen, die sich in die lockere Erde der Railess gebohrt hatten. Er funkelte Aktur herausfordernd an und streckte einen Flügel aus, dessen Feder direkt vor ihm den Boden berührten. Rako saß schon auf dem Rücken des Adlers in einer Art Sattel und klammerte sich mit seinen klobigen Fingern an ledernen Griffen fest.
»Komm rauf, Elf. Wir müssen zum Goldenen Palast, wie der Herr es befohlen hat«, quäkte der Quatto und grinste breit.
Mit vorsichtigen Schritten, um seinen Knöchel nicht zu belasten und den Adler nicht zu verärgern, indem er ihm eventuell Federn ausriss, kletterte Aktur den Flügel empor, bis er sich hinter den kleinen Kerl setzen konnte. Der Sattel war ziemlich ungemütlich und wären die Griffe nicht gewesen, hätte Aktur sich gar nicht erst getraut aufzusteigen. Er fragte sich, warum es so viele waren. Einige standen sogar dort hervor, wo er eigentlich seine Füße platziert hätte.
Plötzlich schnellte der Adler nach oben und der Elf wurde vom Flugwind kräftig in den Sattel gedrückt. Hastig hielt er sich an zwei Griffen gleichzeitig fest. Der riesige Vogel stieß einen schrillen Schrei aus und nahm Kurs auf eine besonders große Railess. Wenn Aktur nicht gerade seine eigenen Haare ins Gesicht geweht wurden, konnte er das honigfarbene Leuchten des Goldenen Palastes sehen, das von der Sonne reflektiert wurde.
Rako vor ihm fing an zu lachen. »Flieg, flieg, flieg! In die Wolken, so hoch du kannst. Breite aus die Schwingen, um uns zum König zu bringen.«
Aktur musste schmunzeln. Quattos sind wirklich lustige Geschöpfe. Sie werden mir wahrscheinlich ans Herz wachsen. Er schaute erneut nach vorne. Allmählich wurde der Abstand zwischen ihnen und dem Palast immer kleiner. Einige andere Schwebende Inseln trieben an ihnen vorbei und jedes Mal wich der Adler ihnen in einem gekonnten Manöver aus. Was mich wohl noch erwartet? Dennoch muss ich den Wolkenleser Cor finden, so wie Mione es gewollt hatte. Das ist mein Auftrag. Ich darf ihn nicht vergessen, egal, was passiert.
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