- 017 -
Bei Liam, welcher an der Grenze stand, angekommen sah ich ein letztes Mal zu Louis. Sein Blick haftete immer noch auf mir und ich wusste nicht ob ich es mir einbildete, aber die Panik in seinen Augen schwand und wurde durch Erleichterung ersetzt.
War er erleichtert, da jetzt mehr Abstand zwischen uns war oder erinnerte er sich an etwas, was seine Panik schwinden ließ? Und wenn ja... Warum? Warum verspürte er solch eine Erleichterung? Was hatte ich denn bitte vergessen? Anscheinend wurde ich langsam wirklich alt...
Zu gerne würde ich wissen, warum es so empfand. In was für einer Situation musste er mich gesehen haben, dass er mich jetzt so ansah...?
Alles okay?, riss Liam mich aus meinen Gedanken und stupste mich an. Ich erschrak, zuckte zusammen und atmete tief durch, um mein Herz wieder zu beruhigen. Harry?
Alles gut, ich war nur in Gedanken. Entschuldige bitte. - Möchtest du darüber reden?, fragte mich mein Beta mit einfühlsamer Stimme und stupste mich erneut an. Später. Jetzt haben wir keine Zeit zum Reden, erwiderte ich und sah mir das Schutzschild genau an.
Hast du schon was entdeckt?, fragte ich meinen Beta als wir die Grenze abliefen, doch meine Frage erübrigte sich als wir an mehreren Bäumen vorbeigingen und einen anderen Wolf entdeckten. Um Himmelswillen, was ist denn mit dem passiert?, fragte Liam besorgt und trat zeitgleich mit mir durch die schützende Wand.
Ich weiß es nicht, erwiderte ich unruhig und hatte wieder dieses ungute Gefühl in meiner Magengegend. Als die Wand plötzlich anfing zu knacken spitze ich alarmiert meine Ohren und begann den sterbenden Wolf von unserer Wand wegzuziehen. Du schaffst es nicht hindurchzukommen, ließ ich ihn wissen. Jedoch machte er nicht den Anschein als könnte er mich überhaupt verstehen.
Er wandte sich leicht und versuchte wieder einen Schritt nach vorne zu machen, doch ich biss ihm tiefer ins Fleisch und zog ihn weiter nach hinten. Du hast keine Chance. Liam half mir dabei und drängte den Unbekannten mit seinem Kopf mehr in meine Richtung.
Auch Liam versuchte ihm klarzumachen, dass er hier nicht weit kam. Allerdings blieb er damit erfolglos. Der Wolf versuchte es einfach immer weiter.
Was machen wir mit ihm?
Am besten ziehen wir ihn bis nach dahinten. Ich will ihn nicht in der Nähe unseres Dorfes haben. Er ist eh am Sterben und wir können ihm nicht helfen. Liam sah nicht ganz so begeistert aus, jedoch wusste er auch, dass ich recht hatte. Ich kannte diesen Wolf nicht und unter diesen Umständen würde ich gewiss nicht meine Gefühle abschalten. So wie er aussah, würde er eh in wenigen Minuten aufhören zu atmen.
Soll ich helfen?, fragte Eleanor plötzlich und trat neben uns. Ich brummte zustimmend und gemeinsam schafften wir es den Wolf an eine geeignete Stelle zu ziehen. Lassen wir ihn sterben? Ich sah meine beste Freundin an, nickte leicht und senkte meinen Blick auf den Unbekannten.
Früher oder später wird er auch gefressen. Dann müssen wir uns keine Gedanken mehr machen.
Das ist so herzlos, fauchte Eleanor und legte ihre Ohren an. Herzlos? El, ich kenne ihn nicht. Kennst du ihn? Dann rette ihn. Welches Leben würdest du für ihn hergeben?, fragte ich wütend und schnaubte. Direkt ging sie einen Schritt zurück und hörte mit dem Fauchen auf. Tut mir leid... Ich nickte nur und atmete aus als der Wolf vor unseren Pfoten keinen Ton mehr von sich gab. Sein Wimmern verstummte.
Was halten wir von dem Ganzen?
Ich hatte absolut keine Ahnung, weswegen ich auch nicht antwortete. Was mir ziemliche Sorgen bereitete war die Tatsache, dass er zu einer der größten unserer Art gehörte. Robin und auch ich gehörten dazu, doch dieser Wolf war mir gänzlich unbekannt. Ob Robin etwas wusste? Vorsichtshalber biss ich dem Unbekannten ein Stück aus der Schulter und behielt es bei mir.
Wir sollten nach Hause, fing ich an. Allerdings hatten die beiden Betas etwas anderes im Sinn, denn zu meinem Entsetzten verwandelten sich die zwei. Was macht ihr da?, knurrte ich aufgebracht, legte das Stück Fleisch ab und zwickte Liam und Eleanor in die nackte Schulter. "He! Das tut weh, Harry", beschwerte sich Eleanor, weswegen ich ihr an den Haaren zog.
Verwandelt euch wieder.
"Es liegt doch kein Blut in der Luft, oder? Hier war also kein Kampf und ich spüre auch keine Wilden. Für den Moment können wir doch in unserer schwächeren Hülle sein", murmelte El und widmete sich der Leiche.
Ich wollte erneut knurren, doch diesmal war es Liam, welcher mich beruhigen wollte und seine Hand auf meine Schnauze legte. "Lass uns doch gerade die Verletzungen anschauen", flüsterte er mir zu und küsste meine Nase. Nicht gerade begeistert schnaubte ich und atmete ihm einfach ins Gesicht.
"Hab' dich nicht so. Du bist hier", wisperte er und drückte erneut seine Lippen auf meine Nase.
"Leute... Wenn ihr noch weiter macht kann ich auch nackt herumlaufen und die Wilden provozieren", murrte Eleanor und sah uns beide mit zusammengezogenen Augenbrauen an. "Weiß Zayn, dass ihr euch beide synchronisiert habt? Ihr hängt mir viel zu sehr aufeinander."
"Ja, natürlich weiß er das", beantwortete Liam ihre Frage und begann die Wunden zu untersuchen. "Weiß er eigentlich auch das andere? Das ihr beiden...?"
Da ich langsam Kopfschmerzen von unserer Verbindung bekam tat ich das, was vollkommen unverantwortlich war und verwandelte mich ebenfalls.
"Heilige Scheiße, du trägst Klamotten?! Das muss im Kalender eingetragen werden. Das ich es mal erlebe das du sogar mal mehr als eine Unterhose trägst. Wahnsinn", lachte sie und wischte sich eine imaginäre Träne unter dem Auge weg.
Ohne lange nachzudenken packte ich Eleanor im Nacken und drückte sie soweit hinunter, dass ihr Gesicht knapp vor der aufgerissenen Haut des Toten war. "Ich mache das für Louis. Was soll er denken, wenn ich mich vor ihm verwandle? Noch mehr verschrecken? Ihm das Gefühl geben, das ich seine Bezahlung will? Seine absolut falschen Gedanken noch mehr füttern? Denk mal nach Eleanor."
Sie drückte sich mir entgegen, griff nach meiner Hand und drehte mir in Sekundenschnelle den Arm auf den Rücken. "Mach mich nicht so blöd an, wenn du schlechte Laune hast, Alpha", knurrte sie und biss mich.
Da ich es mir sowas nicht bieten lassen wollte, verwandelte ich mich zurück und drückte sie mit meinen Pfoten in die Erde. Ich verlagerte immer mehr Gewicht auf meine Vorderbeine und knurrte immer lauter. Rede nicht so mit mir, fauchte ich und fletschte meine Zähne. Mein Speichel tropfte auf ihren Hinterkopf und verklebte dabei ihre Haare.
Mit ihren Händen haute sie auf den Boden und signalisierte, dass sie kaum Luft bekam. Für einen Moment drückte ich sie noch weiter runter und ließ erst dann von ihr ab. Eleanor verwandelte sie direkt und ohne einen weiteren Kommentar ihrerseits leckte sie über meinen Mundwinkel und setzte sich dann langsam zu Liam.
Tief atmete ich durch und beobachtete meinen Beta bei seiner Arbeit. "Das hier waren Klingen und das andere..." Er führte seinen Zeige- und Mittelfinger in eine der klaffenden Wunden ein und drehte sie leicht. "Schusswunde... Ihr wisst hoffentlich was das heißt."
Wir sollten das Zuhause besprechen. Es reicht langsam.
Liam stimmte mir zu und verwandelte sich ebenfalls. War das nötig? Warum bist du plötzlich so gereizt?, fragte Liam mich und schmiegte sich an meine Seite. Macht dir Louis so zu schaffen oder die Tatsache, dass es einer aus deiner Verwandtschaft sein könnte?
Louis und das ihr beiden nicht auf mich hört, beantwortete ich seine Frage und blieb danach stumm.
Wir ließen den Wolf zurück und während Eleanor und Liam darüber sprachen, warum das eine Rudel wieder anfing auf Wölfe zu erschießen, dachte ich wieder über den Omega und seinen Blick nach. Ob er mir verraten würde was ihm durch den Kopf ging?
Als wir über die Grenze traten schmiegte sich Eleanor kurz an meine Seite und stupste mich mit ihrer Schnauze an. Tut mir leid, ich wollte mich nicht so über dich lustig machen. Ich weiß, dass du einfach nur verantwortungsvoll handeln wolltest.
Ich habe zu heftig reagiert. Worte hätten gereicht.
Sie leckte mir kurz über die Schnauze und lief dann zu Lori, welche sie mit offenen Armen empfing. Auch Zayn nahm Liam nach der Verwandlung in die Arme und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. So war es immer. Jeder, der wieder hineinkam, wurde begrüßt.
Ich wechselte ebenfalls in meine menschliche Gestalt, nahm das Stück Fleisch aus dem Mund und bevor ich es zu Robin brachte sah ich noch einmal zu den beiden Betas wie sie in den Armen ihrer Gefährten hingen. Als ich zu Louis sah, stand dieser jedoch ruckartig auf und verschwand mit Amélie ins Innere des Hauses.
Für ein paar Sekunden schloss ich meine Augen und versuchte meine Gedanken zu sammeln. Fest entschlossen ihn nach seiner Reaktion zu fragen lief schnell zu Robin, erklärte ihm die Lage und ging gespannt zu meinem Haus. Langsam öffnete ich die Tür, nahm das Spucktuch, welches im Eingangsbereich lag hoch und rief seinen Namen: "Louis?"
Warum war er denn so schnell geflüchtet?
Ich wollte nochmal nach seinem Namen rufen, da entdeckte ich Amélie schlafend auf dem Sofa, weswegen ich es nicht erneut tat. Gerade wollte ich die Treppe hoch und oben nach ihm sehen, da kam er mir schon entgegen.
"Was hast du oben gemacht?", wollte ich wissen, sah überrascht zu Louis hinab als er sich auf Zehenspitzen stellte und sich mit seiner freien Hand an mir festhielt. "I-Ich wollte nur was holen, damit... das B-Blut", stammelte er vor sich hin und fing an es wegzuwischen.
Etwas perplex blinzelte ich und wollte ihm das Tuch abnehmen, jedoch ließ Louis nicht locker und schüttelte leicht mit seinem Kopf. "N-Nein, lass mich das bitte machen. D-Du machst doch schon so viel... Du hast schon so viel für mich getan. Damals-"
Louis verstummte und verwirrte mich damit nur noch mehr. Damals? An was konnte ich mich denn nicht mehr erinnern? Meinte er den Zeitpunkt, wann er mich das erste Mal gesehen hatte?
"Louis?", fragte ich nach einigen Minuten und hielt ihn fest nachdem er mir auch das Blut des Unbekannten von den Armen gewischt hatte.
"Woher kennst du mich?", fragte ich mit pochendem Herzen.
Er hielt in seiner Bewegung inne und sah verunsichert zu mir hoch. "W-Woher?", wiederholte er meine Frage mit brüchiger Stimme und schluckte. "Erinnerst du dich nicht?" Ich verneinte es und sah ihn entschuldigend an. "Tut mir leid, aber ich weiß wirklich nicht, wo wir uns schon einmal gesehen haben", antwortete ich leise und nahm ihm das Tuch ab, um das getrocknete Blut unter meinen Fingernägeln wegzubekommen.
"Du..." Ich hörte ihn Schlucken und legte meine Hand an seine Wange. "Sollen wir uns hinsetzten?" Louis nahm meine Hand von seiner Wange und drückte sie leicht. "I-Ich denke schon...", wisperte er und sah mich unsicher an.
Er schien noch einen Moment zu überlegen, bis er voranging und mich mit zum Sofa zog. Ohne dass ich irgendetwas machte drückte er mich auf die Polster und setzte sich eng an meine Seite. "S-Soll... Soll ich von vorne anfangen?", flüsterte er und sah mich nachdenklich an.
"Wenn du das möchtest?"
Louis atmete tief durch und nickte dann langsam.
"I-Ich war noch ganz klein, da bist du mit jemandem aufgetaucht. Ich glaube es war Liam? Damals habe ich noch bei meiner Mama gelebt", fing er an zu erzählen, jedoch war es so leise, dass ich es kaum verstehen konnte.
Anstatt etwas zu sagen, nickte ich. Ich hatte das Gefühl, das er sich nicht so wohl fühlte und deswegen leise sprach. "Wann war das genau?", hakte ich nach und hielt ihm das Spucktuck hin, was ich seitdem ich hier war über meiner Schulter hängen hatte.
Als Louis es annahm lächelte er zurückhaltend und biss sich leicht auf die Lippe. "S-So vor 16 Jahren?" Ich räusperte mich kurz und nickte. Was war denn bitte vor 15 Jahren passiert, dass er sich so genau an meine Gestalt erinnerte?
Ich wusste gar nichts mehr, weswegen ich ihm einfach nur zuhörte. Egal wie sehr ich darüber nachdachte, ich kam einfach nicht darauf.
"D-Damals... Wir- Also... Der Alpha hat mit anderen gejagt, wir... wir hatten nicht so ein System wie hier wo tatsächlich gekocht wird... Die Älteren waren an dem Tag jagen und-" Louis stoppte mitten im Satz und starrte für einige Minuten auf seine Hände. Nervös zupfte er an dem Spucktuch und umklammerte es anschließend fest.
"Uhm... Ich- weiß nicht wie..." - "Lass dir Zeit", ließ ich ihn wissen und begann über seinen Rücken zu streichen.
"Ich durfte nur als Letzter, da ich ja ein Omega bin und du hast mitbekommen, wie sie mir auch die letzten Reste weggenommen haben und... Ich war noch gar nicht dazu in der Lage frisches F-Fleisch zu essen. Davon habe ich immer so Bauchschmerzen bekommen und... Du hast mir geholfen Hazza, a-an dem Tag... Ich konnte das erste Mal was richtiges essen."
Nachdenklich sah ich ihn an und mit einem Mal fiel mir der gesamte Tag wieder ein. "Ich war mit Liam damals bei euch... Wir hatten gerade Zuwachs und wussten nicht, woher er stammt... Da sind wir die Dörfer abgelaufen...", fing ich an laut nachzudenken und erinnerte mich jedoch nur daran.
Louis zuckte ahnungslos mit den Schultern und sah mich aus großen Augen neugierig an. "D-Du erinnerst dich also nicht?", wisperte er leise und fing an zu fiepen. Langsam nickte ich und erschrak als Louis sich mir plötzlich um den Hals warf und seine dünnen Arme um meinen Nacken legte. "D-Du hast mich damals gerettet, Hazza", schniefte er und klammerte sich mehr an mir fest.
"W-Warum weißt du das nicht mehr?", schluchzte er laut und fing an zu weinen. "W-Warum?!"
Behutsam legte ich meine Hände auf seinen Rücken und fuhr leicht über den Stoff. Ich wusste nur das ich mit Liam diese kleine Reise unternommen hatte. Ein Jahr später war Joshua gestorben. "Es tut mir leid Louis", murmelte ich und legte meine Arme enger um ihn. Ich wollte nicht das er wegen mir so weinte...
"Und warum hattest du so Angst?", fragte ich vorsichtig nach und hielt ihn an seiner Hüfte fest als er sich zurücklehnte und mich kurz musterte.
Für mich passte es nicht zusammen...
Diese Angst in seinen blauen Augen, als er meine Gestalt gesehen hat... Das musste doch einen triftigen Grund haben.
"I-Ich habe keine Angst vor dir, Hazza", murmelte er und rieb sich die Augen. Louis sprach jedoch nicht weiter sondern rieb sich erneut die Augen und blinzelte mich an. "Ich..." Langsam nickte ich und hoffte, dass er mir noch den Grund nennen würde.
"I-Ich habe Angst vor meinen Gefühlen."
_______
[2425 Wörter 04/06/2021]
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top