SEVEN.
MARLENE || Ich drücke Lily mein grünes Kleid in der Hand, bei dem meine Mutter einen Schreikampf kriegen würde. Zu kurz, zu eng, nicht elegant genug. In ihren Worten einfach schlichtweg zu nuttig. Gerade deshalb liebe ich es so sehr.
„Probier das", meine ich und sehe dann kritisch dabei zu, wie sie sich in das Kleid zwängt.
Dorcas schließt den Reißverschluss, dann betrachten wir das Gesamtwerk. Und das kann sich wirklich sehen lassen, denn Lily hat plötzlich Kurven dort, wo sie sonst nur zu erahnen sind. Aber all das ist nur nebensächlich, denn es ist das Lächeln in ihrem Gesicht, was jede Entscheidung trifft.
„Nimm das Kleid. Das ist absolut deins."
Lily dreht sich einmal im Kreis und sieht mich dann an. „Bist du sicher, Mar? Willst du es nicht tragen?"
Ich schüttele den Kopf. „Ich nehme das silberne. Das wollte ich sowieso anziehen."
„Die Fashionqueen hat gesprochen", lacht Dorcas und weicht dem Kissen aus, das ich in ihre Richtung schleudere.
Es verfehlt sie um gut einen halben Meter und fällt unbeachtet auf den Boden unseres Schlafsaals, der aussieht, als hätte hier eine Explosion stattgefunden. Überall liegen Kleidungsstücke verteilt, dazwischen unzählige von Dorcas Schuhen, von denen sie nicht genug haben kann, sowie einige halbfertige Aufsätze, Schulbücher und die letzten Schachteln Muggle-Schokolade, die Lily aus den Ferien mitgebracht hat.
Dorcas lässt sich in ihrem schwarzen Hosenanzug rückwärts auf ihr Bett fallen. „Wir sollten dringend mal wieder aufräumen."
„Sollten wir", meint Lily und lässt dann ihren Zauberstab wedeln, woraufhin alle Gegenstände an ihren vorbestimmten Platz fliegen. Zumindest diejenigen, die einen haben. Alle anderen liegen immer noch wild herum. „Aber nicht mehr heute. Das machen wir in den nächsten Tagen."
Ich nicke grinsend, weil ich weiß, dass wir es ohnehin nicht tun werden. Keiner von uns dreien ist ein Ordnungsfanatiker, was wahrscheinlich ganz gut so ist, sonst würde nämlich derjenige stets mit Kopfschmerzen und einer Krisenmiene in den Schlafsaal schreiten.
Lily hebt ihre Hand, um sich durch die gedrehten Locken zu fahren und ich kann sie gerade noch aufhalten, bevor sie ihre Frisur zerstört. Sie sieht mich augenverdrehend an. „Das wird ohnehin nicht halten, nicht bei meinen Haaren. Wenn ich von der Aufsichtsrunde wiederkomme, haben sich die Locken sicherlich schon halb gelöst."
Ich zaubere einen Festigungszauber – einer der ersten Sprüche, den ich von meiner Mutter gelernt habe, weil man ihrer Meinung nie mit Sturmfrisur aus dem Haus darf – auf ihre Haare und verteile dann zur Sicherheit noch eine ordentliche Portion Haarspray. „So, jetzt hält das bis zu den Winterferien."
Lily hakt sich lachend bei mir ein, schnappt sich Dorcas an ihrer Hand und zieht uns dann in den Gemeinschaftsraum herunter.
Schon bevor wir auch nur das Chaos sehen, werden wir von Musik bedröhnt, so laut und schnell und lebensfreudig, dass ich am liebten direkt die Tanzfläche stürmen würde. Als wir schließlich einen ersten Blick auf die Party erhaschen, sehe ich überrascht, dass es Peter ist, der hinter dem DJ-Tisch steht, eine riesige Schallplattensammlung hinter sich.
Alle Sofas wurden durch Zauberkraft zur Seite geschoben, sodass die Mitte des Gemeinschaftsraums als behelfsmäßige Tanzfläche gilt und die Feier ist bereits in vollem Gange. Ich lasse meinen Blick suchend nach James schweifen, sehe allerdings als erstes Black, der einen Arm um eine Sechstklässlerin geschlungen hat – Belly oder Betty Irgendwas – und in seinem weißen Hemd verboten gut aussieht. Eilig sehe ich weg und ziehe meine Freundinnen schnellen Schrittes zu Remus herüber.
Dieser ist gerade dabei, eine Gruppe Zweitklässler vom Punsch wegzuhalten.
„Ihr müsst wieder nach oben in eure Schlafräume. Leute unter Dreizehn haben heute keinen Zutritt zum Gemeinschaftsraum", meint Remus stoisch, all ihre Argumente ignorierend und scheucht sie wieder die Treppe hinauf.
Ich muss lachen, als sie sich grummelnd an mir vorbeiquetschen und darüber reden, wie unfair dass doch alles ist.
„Wie läuft es?", fragt Dorcas Remus, als wir ihn erreichen.
„Noch ist niemand im Punsch ertrunken", antwortet er in diesem trockenen Tonfall, bei dem man sich bei ihm nie sicher ist, ob er es ernst meint oder scherzt. „Aber der Abend – Xhantos, der Punsch ist erst ab fünfzehn, versucht es gar nicht erst!"
Ein mahnender Blick legt sich auf den Drittklässler, der eilig in der Menge verschwindet, bevor Remus ihn auch nach oben verbannen kann.
„Der Abend hat gerade erst begonnen", seufzt der Braunhaarige dann in unsere Richtung.
Lily verzieht mitleidig das Gesicht. „ Ich sollte so langsam auch los. Du übernimmst die Runde ab zehn, Remus?"
Er nickt zustimmend. „Und ab zwölf ist Shawn an der Reihe. Ich habe vorhin extra noch einmal den Plan der Vertrauensschüler geprüft und wir sollten so sicher sein, dass keiner der anderen Häuser in der Nähe unseres Gemeinschaftsraums vorbeimarschiert."
Lily winkt uns einmal zu, dann verschwindet sie, um ihren Vertrauensschülerpflichten nachzukommen.
„Was ist mit euch, Mädels?" Remus sieht uns an, die Kelle bereits in der Hand. „Wollt ihr Punsch?"
„Aber sicher doch", grinst Dorcas und lässt ihn einschütten, bis unsere Gläser fast überlaufen. „Brauchst du Verstärkung?"
Remus schüttelt den Kopf. „Geht ihr ruhig erst mal ein bisschen feiern. Ich habe hier alles im Griff."
Ich kann gerade noch an meinem Punschglas nippen, bevor Dorcas mich bereits mitten ins Getümmel zieht. Sobald James uns entdeckt, winkt er uns auf die Tanzfläche und ich lache, während er irgendwelche Manöver vollbringt, die bei jedem anderen vollkommen peinlich wirken würden. Mein bester Freund hat jedoch irgendwie die Gabe, selbst dabei gut auszusehen.
„Wo hast du Sirius gelassen?", rufe ich ihm nach einer Weile zu, weil mir auffällt, dass seine andere Hälfte gar nicht mehr zu sehen ist.
James zuckt unbekümmert die Achseln. „Vielleicht schon mit Bethy verschwunden. Wer weiß das shchon. Lass uns tanzen, Marlie."
Er fasst mich schwungvoll an der Hand und wirbelt mich einmal im Kreis, bevor er Dorcas lachend die gleiche Behandlung zugutekommen lässt. Nach einer Weile gesellen sich Peter und Remus zu uns, die ihre Posten an Nachfolger übergeben haben.
Sekunden verschwimmen in Minuten, bis irgendwann die Sonne vom Mond vertrieben wird. Die Zeit ist still unter meinen Fingerspitzen, beinahe als wäre sie schwebend, während ich einfach nur eine Nacht Unendlichkeit genieße.
Doch auch die größte Unendlichkeit ist irgendwann vorbei.
Meine endet als Tiffany, die neue Treiberin aus dem Quidditch-Team in meine Richtung eilt und mir einen Brief in die Hand drückt. „Eine Eule hat vorhin ans Fenster geklopft und ich habe sie reingelassen, als ich sie gehört habe. Sie hatte diesen Brief für dich dabei, Marlene. Die Arme war aber schon total durchnässt und verschreckt, deswegen habe ich sie erst einmal wieder in die Eulerei geschickt."
Ich bedanke mich, wobei ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie mein Magen zu Boden sinkt. Denn ich weiß nur zu gut, zu wem dieses elegante Briefpapier gehört. Vorbei ist die gute Laune, vorbei ist die Gelassenheit.
„Alles okay, Mar?", fragt Dorcas.
Ich nicke möglichst überzeugend und bin froh, dass James kurz mit Peter verschwunden ist, um uns etwas zu trinken zu holen, denn mein bester Freund würde sich nicht so schnell ablenken lassen. „Ich muss nur kurz diesen Brief lesen. Wir sehen uns später, ja?"
Dorcas nickt, dann ist sie bereits wieder vollkommen auf der Tanzfläche, ich nur noch eine wage Erinnerung in ihren Gedanken. Genauso wie ich es mir gewünscht habe.
Mit klopfendem Herzen stehle ich mich durch die fette Dame nach draußen in den Flur und hole tief Luft, weil ich den Brief nicht direkt öffnen kann. Dabei weiß ich eigentlich bereits, was darin steht, doch die Hoffnung, dass es vielleicht zum ersten Mal etwas Nettes von meinen Eltern ist, wird nie ganz verfliegen. Ich reiße den Umschlag auf, als ich es nicht mehr aushalten kann und lasse meine Augen über das geblümte Papier fliegen.
Genau einen Satz braucht es, bevor mir nicht mehr nach Feiern zumute ist.
Du bist eine Enttäuschung für deine Familie, Marlene McKinnon. Wir hätten besseres von dir erwartet.
Den Rest des Inhalts überfliege ich nur noch, bevor ich den Brief zerknülle und mit zittrigen Fingern in die kleine Tasche stecke, die ich mir vorhin von Dorcas geliehen habe. Mit schweren Schultern lasse ich mich an der Wand nach unten sinken und starre einfach an die Decke über mir. Auf der Suche nach etwas Trost, vergebliche Mühe, die ich dennoch nie aufgeben werde.
Die Musik des Gemeinschaftsraums ist nur noch in meiner Erinnerung vorhanden, die Party durch das dicke Gemäuer ganz von mir abgesondert. Ein bisschen so wie ich von der früheren Freude, die nun einfach durch Enttäuschung ersetzt wird.
Egal wie oft ich mir vornehme, die Worte meiner Eltern nicht an mich heranzulassen, letztendlich tue ich es doch. Mein schwaches Herz wird nie damit aufhören, sich nach ihrer Liebe zu sehnen. Es gibt Tage, weswegen ich deswegen nicht einmal in den Spiegel sehen kann.
Minutenlang überlege ich, ob ich zurück zur Party gehen sollte, doch ich kann den Anblick meiner Freunde, ihre besorgten Blicke und Nachfragen gerade nicht ertragen. Außerdem möchte ich ihnen nicht auch noch den Abend versauen.
Deswegen stehe ich auf und schleiche dann möglichst leise durch das Schloss, wobei ich mir wünschte, die Karte des Rumtreibers bei mir zu haben. Einmal werde ich fast vom Hausmeister erwischt, doch ich kann gerade noch hinter eine Statue huschen. Mit klopfendem Herzen warte ich, während er vorbeizieht, dann mache ich mich wieder auf den Weg und erreiche endlich das Außengelände.
Sobald ich nach draußen trete, habe ich das Gefühl, wieder etwas freier atmen zu können.
Mit geschlossenen Augen sauge ich die kalte Luft in meine Lungen, lass sie ihren Zauber tun und lausche der Stille der Nacht. Dann öffne ich die Lieder wieder, entschlossen mir die Gedanken aus dem Kopf zu laufen.
Der Weg vor mir ist durch schwaches Mondlicht beleuchtet, gerade hell genug, um mich vor den Stolperfallen zu warnen, jedoch die Umgebung völlig ungewiss zu lassen. Ein wenig wie das Leben, das einem die wenigsten Möglichkeiten klar vorführt und einen stets ein wenig rätseln lässt.
Meine Füße tragen mich zum Quidditchfeld, das im Dunkel der Nacht so anders wirkt als sonst. Irgendwie größer, unheimlicher und dennoch tröstend.
Eine Weile lasse ich mich auf der Tribüne nieder, eine Hand in meiner Tasche vergraben und verkrampft um den Brief, in dem Versuch, die Worte so auslöschen zu können. Doch einmal in der Freiheit, einmal in meinen Erinnerungen, schweben sie wie tausend Messerstiche durch meine Gedanken.
Minuten, Sekunden oder auch Stunden später begebe ich mich wieder auf Reisen, noch nicht zum Schloss zurück, sondern hinunter zum See. Die Schritte helfen, meine Gedanken ein wenig zu betäuben. Doch als ich schließlich in Sichtweise des Wassers bin, bringt mich eine dunkle Gestalt dazu, stehenzubleiben.
Ich kneife die Augen ein wenig zusammen, um die Umrisse der Person besser sehen zu können, die neben dem See hockt, ein Bein angewinkelt, das andere von sich weggeschoben, als wollte es Abstand vom Leben. Es braucht weitere Sekunden bis ich die breiten, leicht eingefallenen Schultern, das weiße Hemd und die rabenschwarzen Haare seinem Eigentümer zuordnen kann.
Innerlich fluchend drehe ich möglichst leise um und will einen Schritt nach hinten machen, als seine Stimme die Stille der Nacht durchbricht.
„Du brauchst nicht weglaufen, McKinnon. Dafür ist es schon zu spät. Setz dich."
Langsamen Schrittes nähere ich mich Black und lasse mich neben ihm auf dem taufrischen Boden nieder. Genügend Abstand zwischen uns, dass unsere Arme sich nicht berühren und dennoch so nah, dass ich aus den Augenwinkeln sehen kann, wie seine Brust sich mit jedem Atemzug nach oben kämpft.
„Woher wusstest du, dass ich es bin?", frage ich leise. „Hast du neuerdings Augen im Rücken?"
Er nickt in Richtung des Sees, der die Umgebung hinter ihm wiederspiegelt.
„Spielverderber", murmele ich, was ihm ein Lachen entlockt. „Was machst du hier draußen, Black? Und was ist mit Bethy passiert?"
„Bethy hieß sie also?"
Ich haue ihm gegen die Schulter, ein wenig fest als nötig. „Bitte sag mir nicht, dass du dich an ihren Namen nicht mehr erinnern kannst. Zumindest so viel Anstand solltest du haben."
„Ich zieh dich nur auf, McKinnon." Seine Schultern heben sich und fallen sogleich wieder nach unten, als hätte das Leben gegen sie gewonnen. „Mir war nicht wirklich nach Party."
Meine Finger fahren durch das kalte Gras, zu nass, um nicht zu merken, dass dies hier wahrlich die Realität ist. „Mir auch nicht."
„Zu viele Gedanken?", flüstert er, die Stimme so leise, dass sie kaum gegen das Zirpen der letzten Grillen vor dem Herbst ankommt.
Meine Finger verkrampfen sich wieder um den Brief in meiner Tasche, ziehen ihn heraus und lassen ihn nachdenklich zwischen den Händen kreisen, als könnte ich den Inhalt so verzaubern.
„Zu viele Gedanken."
Sirius neigt seinen Kopf in meine Richtung, ein wenig bloß, aber genug, damit ich seine grauen Augen sehen kann, die im Mondlicht verbotenerweise silbern funkeln. Mit seinen ein wenig verwehten schwarzen Haaren, den scharfen Wangenknochen und den gesenkten Schultern wirkt er ein wenig wie ein Gemälde. Beinahe unwirklich und so verboten schön.
„Was hast du da, Marlene?"
Ich zucke zusammen, so fremd klingt der Name von seinen Lippen, kann ich die Momente, in denen er mich nicht McKinnon genannt hat, doch an zehn Fingern abzählen. Aber irgendetwas ist in dieser Nacht anders, als hätten die morgendlichen Stunden die Wirklichkeit ein wenig verschoben und uns ein paar Augenblicke im Wunderland verschafft, bevor die Realität grausam wieder Einzug erhält.
Vielleicht ist auch das der Grund, warum ich langsam meine Hand ausstrecke und ihm den Brief überreiche.
Vielleicht tue ich es aber auch einfach, weil ich die Gedanken nicht mehr nur still in mir wirbeln lassen kann. Weil Sirius Black einer der wenigen Menschen ist, der mich verstehen kann. Der einzige meiner Freunde, der nicht nur zuhört, sondern wirklich nachvollzieht. Vielleicht brauche ich so einen Menschen gerade, während das Leben mich erwürgt und vielleicht fühle ich mich ein ganz klein wenig weniger alleine, hier mit ihm am See.
Sirius nimmt den Brief entgegen und streicht sanft über den Umschlag, der an so vielen Stellen bereits durch Knitter zerstört ist. Denn nichts im Leben bleibt unberührt. Seine Finger ziehen das Briefpapier hervor und dann sieht er mich an, keinen Millimeter Bewegung mehr in sich.
„Bist du sicher, dass ich das lesen soll?"
Während ich Sirius sonst an so vielen Tagen beinahe hasse, weil er mich an all das erinnert, dem ich nicht entkommen kann, ist er heute Nacht ironischerweise die einzige Person, mit der ich reden möchte. Ist er doch der einzige, dem ich nicht erklären muss, wie es sich anfühlt, von Kindesbeinen an unerträglich perfekte Erwartungen zu erfüllen. Wie es sich anfühlt, stets nach der Liebe seiner Eltern zu suchen, sich danach zu sehnen, und sie dennoch nie wirklich bekommen zu können.
„Lies es", flüstere ich also.
Die beiden Worte vibrieren kurz in der Dunkelheit, als wüssten sie, dass sie eine Grenze verschieben. Ein wenig bloß, aber manchmal reicht die kleinste Berührung, um die Welt ins Chaos zu stürzen.
„Lumos."
Sirius faltet das Briefpapier auseinander, so vorsichtig, dass ich nicht sicher bin, ob er bloß den Zettel nicht zerstören will oder er vielmehr Angst hat, dass er jeden Augenblick explodieren wird. Manchmal reichen alleine Worte schon, um alles zu zerstören. Manchmal sind sie gefährlicher als tausend Schwerter.
Er bleibt stumm, während sein Blick über die Sätze streift, seine Wangenknochen mit jedem ein wenig angespannter, bis er schließlich den Brief vor uns auf den Boden wirft und das Licht seines Zauberstabs löscht.
„Was für ein Haufen absoluter Schwachsinn." Graue Augen sehen mich an, so intensiv, dass ich kurz befürchte, er wollte mich in Flammen setzen. „Das ist absoluter Dreck, Marlene. Kein Wort davon ist wahr."
„Ich weiß. Aber manchmal... Manchmal ist es schwer, Ihnen nicht einfach zu glauben."
Sirius dreht seinen Kopf ein wenig zur Seite. „Ich werde dir jetzt etwas sagen und danach werde ich abstreiten, dass ich es je gesagt habe, okay?"
Ich lache leicht. „Okay."
„Du bist ein tolles Mädchen. Intelligent und witzig und entschlossen. Eine super Sucherin, eine noch bessere Freundin. Und ja, wunderschön bist du auch, aber das ist nur eines deiner Eigenschaften", meint Sirius leise. „Also lass dir von diesen Idioten bloß nichts erzählen. Sie können einfach nichts anderes, als andere runterzumachen. Du bist so viel besser als sie."
Seine Hand streift meinen Unterarm und ich hasse mich dafür, dass sich ein verräterisches Kribbeln auf meiner Haut breit macht.
Ich lehne mich zur Seite, um ein wenig Abstand zwischen uns zu bringen, den Blick starr auf das Wasser vor uns gerichtet.
„Ist dir kalt?", wispert er.
Ich schüttele den Kopf, den Blick immer noch in die Ferne gerichtet, damit er die verräterische Röte auf meinen Wangen nicht erkennen kann. Unendlich dankbar dafür, dass die Nacht es mir erlaubt, sie zu verstecken.
„Ich könnte dir mein Hemd geben."
Das entlockt mir ein Lachen. „Damit du dann gar nichts mehr anhast und hier draußen erfrierst? Danke, aber nein."
„Eigentlich stehen Mädchen darauf, wenn ich kein Hemd mehr ertrage", grinst er.
Ich kann nicht abstreiten, dass ich sie durchaus verstehen kann, denn Sirius Black mit nacktem Oberkörper ist durchaus ein Anblick, der sich lohnt. Das kann ich aus erster Hand beurteilen, weil ich ihn nach dem Quidditch-Training schon öfter ohne Hemd gesehen habe. Eher friert jedoch die Hölle ein, bevor ich das ihm gegenüber zugebe.
„Lass einfach dein Hemd an, Black."
„Kommst du sonst auf falsche Gedanken."
Ich schnaube. „Du könntest nackt hier rumlaufen und ich würde nichts mit dir anfangen."
„Sicher?"
Graue Augen treffen auf meine, liefern sich einen Kampf, in dem wir beide nur verlieren können. Keiner von uns beiden ist bereit, aufzugeben, gleichzeitig ist es zu viel, ihm so nahe zu sein. Einen Moment lang fühlt es sich an, als wäre er der einzige auf dieser Welt, der mich wirklich sieht. Es ist zu viel, viel zu viel und gleichzeitig doch immer noch nicht genug.
Ich bin die erste, die schließlich wegsieht, den Blick wieder auf das Wasser vor mir gerichtet.
Das Mondlicht flackert auf dem ansonsten völlig schwarzen See, ein kleiner Lichtblick in der vollkommenen Dunkelheit. Er bewegt sich, stetig, geschmeidig, kämpft mit all der Kraft gegen das Leben und ganz vielleicht wird er es bis zum Morgen aushalten. Manchmal müssen wir die schweren Zeiten überstehen, um wieder frei atmen zu können.
„Ich habe meine Eltern nicht immer gehasst", flüstert Sirius irgendwann. Sekunden und Stunden und Jahre könnten vergangen sein, vielleicht auch nur Minuten. In dieser Nacht läuft die Zeit rückwärts. „Es hat eine Zeit gegeben, in der ich sie geliebt habe. Ich wollte sie stolz machen."
Ich sage ihm nicht, dass es mir ebenfalls so geht. Dass ich meine Eltern immer noch liebe, selbst jetzt, nach allem, was sie mir im Laufe der Jahre an den Kopf geworfen haben. Ein Teil von mir wird sich immer nach ihrer Liebe sehnen. All das spreche ich nicht aus, weil er es wahrscheinlich ohnehin weiß.
„Was hat sich geändert?", frage ich also bloß.
Sirius Brust hebt und senkt sich schwer, als müsste er erst genügend Luft haben, um dieser grausamen Wahrheit genug Bühne zu verleihen. „Eines Abends haben sie einen Muggel auf unserem Küchentisch gefoltert. Als Abendunterhaltung für unsere Dinnergäste. Die Frau war im Alter meiner Großmutter, so zierlich, dass sie aussah, als könnte sie jeden Augenblick zerbrechen."
„Und das hat dich abgeschreckt?"
Er lacht tonlos, seine Finger im Gras vergraben, kaum zu sehen und dennoch so prägnant. „Nein, ich fand es irgendwie witzig. Endlich einmal hat sich die Wut meines Vaters nicht gegen mich gerichtet und auch nicht gegen Reg, was immer dazu führte, dass ich auch seine Schläge eingesteckt habe. Ich war froh darüber, dass mein Vater andere Gedanken hatte. Aber irgendwann an diesem Abend hat Drom ihre Hand auf meine Schulter gelegt und mich gefragt, was ich davon halten würde, wenn es Regulus wäre, der dort oben über dem Tisch hängt. Und das hat irgendwie alles für mich verändert."
Ich zucke nicht zusammen, lasse seine Worte an mir abprallen, weil es eine Realität ist, mit der ich ebenfalls großgeworden bin. Die Starken gewinnen und triumphieren über die Schwachen, das ist ihre Rechtfertigung dafür, Muggle zu unterdrücken, ihnen schaurige Dinge anzutun. Es hat für einige Alpträume gesorgt, mittlerweile jedoch stumpft es mich nur noch ab.
„Du magst sie sehr, oder? Deine Cousine."
„Drom ist die einzig Vernünftige in diesem Pack. Sie ist der Grund, warum ich nicht so verdorben bin, wie der Rest von ihnen."
„Ich bin froh darüber, dass du sie gehabt hast", meine ich.
„Ich bin diesen Sommer von Zuhause weggelaufen, weil ich es einfach nicht mehr ertragen konnte. Sie haben Drom aus dem Familienbaum gebrannt, nur weil sie als Einzige von uns ihre Chance zum Glück ergriffen hat. Und das war irgendwie genug." Sirius' Blick wirkt plötzlich ganz weit weg. „Ich würde lieber zehn Jahre nach Azkaban, als einen weiteren Sommer bei den Blacks zu verbringen."
„Beides keine glorreichen Aussichten."
Sirius lacht trocken. „Glaub mir, Azkaban wäre im Gegensatz zu meinen Eltern wie Ferien."
Der Mond wandert ein bisschen weiter, bringt uns ein Stück näher an den Tag, an dem die Realität wieder unserem Wunderland weichen wird.
„Ich weiß nicht, ob ich das könnte", murmele ich schließlich. „Einfach von zuhause weglaufen."
Sirius Schultern sinken herab, als würde das Leben ihn nach unten drücken. Er sieht plötzlich so verloren aus, dass mein Herz für ihn schreit. „Und ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung war."
Manchmal sind Worte einfach zu viel, manchmal sind sie nicht genug. Also strecke ich bloß meine Hand aus, Zentimeter für Zentimeter, bis sie schließlich über seiner liegt. Sirius verschränkt unsere Finger miteinander, einen nach dem anderen, eine federleichte Berührung und gleichzeitig die Rettungsleine, die uns im Licht hält.
Wir sehen auf das glitzernde Wasser des Sees, Schulter an Schulter, die Blicke stumm nach vorne gerichtet.
In diesen Momenten verschiebt sich die Realität noch ein wenig mehr.
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Frohe Ostern, ihr Lieben!
Ich dachte, heute wäre der perfekte Zeitpunkt, meine Lieblingsszene mit euch zu teilen ♥️
Genießt die freien Tage.
Bis zum nächsten Mal.
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