NINETEEN.

Marlene || Als ich Stunden später den Flur im dritten Stock entlanglaufe, sind die gedämpften Geräusche der Musik immer noch zu hören. Als ich gegangen bin, hat es lange noch nicht so ausgesehen, als wäre der Weihnachtsball dabei, sich aufzulösen. Meine Mutter ist jedoch bereits so betrunken gewesen, dass sie mir eingeräumt hat, verschwinden zu dürfen. Mit ihren leuchtenden Augen und dem warmen Lächeln auf den Lippen hat sie mir einen seltenen Einblick in ein Leben gegeben, das wir vielleicht hätten haben können. In einem anderen Universum.

Ich will gerade meine Zimmertür öffnen, als ich eine Hand auf meinen Mund legt.

„Schhh", murmelt eine dunkle Stimme in mein Ohr. „Nicht schreien, Mar. Ich bin es."

Ich funkele Sirius an, bis er mich loslässt. „Was machst du hier?"

„Ich wollte sehen, ob du okay bist. Ich weiß, was diese Abende mit einem anstellen können. All diese Parolen über Reinblüter und Blutsverräter und diesen ganzen Quatsch."

„Bist du wahnsinnig geworden?" Ich sehe mich hastig im Flur um, der außer uns glücklicherweise wie ausgestorben wirkt. „Wenn deine Eltern oder meine dich hier erwischen, werden sie dich auseinandernehmen."

„Sollen sie doch", entgegnet er verbissen. „Mir egal. Solange du mir sagst, dass es dir gut geht."

Ich begegne seinem Blick, der mir einen Schauer über den Körper jagt. „Es geht mir gut."

Während er dort im Flur steht und mich so ansieht, muss ich kurz an Regulus Worte denken, sind sie doch für eine kurze Sekunde nicht mehr ganz so abwegig.

Sirius steht auf dich.

„Gut dann..." Er räuspert sich. „Ich... Okay, dann werde ich wohl mal wieder..."

„Ich bringe dich runter", murmele ich.

Beinahe lautlos folgt er mir den Flur hinunter zu der kleinen, unscheinbaren Tür am Ende, hinter dem sich die Dienstbotentreppe befindet. Sie ist der einzige Teil des Hauses, der wirklich verkommen wirkt. Muss er doch nicht dem Schein genügen, dass hier alles perfekt ist.

„Verdammt, wenn ich von dieser Treppe gewusst hätte, hätte ich nicht übers Dach klettern müssen."

Lachend drehe ich mich zu Sirius um. „Du bist echt aufs Dach geklettert?"

„Nun, nicht direkt. Ich bin aufs Dach geflogen und dann von dort ins Haus gekommen." Er fährt sich durch die Haare. „Dein Bruder hat mich reingelassen."

Ich reiße die Augen auf.

„Nicht Gregory oder Maximus", meint Sirius eilig. „Merlin, nein. Maximus hätte mir direkt den Cruciatus entgegengeschleudert und Gregory mir sein Vertrauensschülerabzeichen entgegengehalten und mir was von Regelbrüchen erzählt. Alec hat mich reingelassen."

Plötzlich bin ich einfach nur noch müde. „Alec ist viel zu gut für diese Familie."

„Du auch, Mar. Du auch." Sirius schenkt mir ein Lächeln. Eines, das ich definitiv als schüchtern bezeichnen würde, käme es nicht von ihm. „Außerdem hat Alec es mit dir gar nicht so schlecht als Schwester, er hat mir erzählt, dass du ihm ein paar Stücke Kuchen reingeschmuggelt hast."

„Wirkte er okay?", frage ich besorgt.

„Absolut. Er hat mir ein bisschen was über die Bücher erzählt, die er heute Abend gelesen hat. Anscheinend gibt es irgendeine magische Kröte, die die Farbe ändern kann. Ihm geht es gut. Ich habe bei ihm im Zimmer gewartet, bis du gekommen bist und als ich gegangen bin, ist er bereits eingeschlafen gewesen. Glücklich und zufrieden."

Ich lache tonlos. „Glücklich und zufrieden kann man in diesem Haus nicht sein."

„Es geht immer schlimmer", murmelt Sirius.

Ich muss an Regulus denken, seine hoffnungslosen Augen, während er mir von seinem Zuhause erzählt hat. Und an Sirius, an den Jungen, der er noch vor ein paar Monaten war, in James Haus voller Verbände und ohne ein Dach über dem Kopf.

„Es geht immer schlimmer", stimme ich zu.

Sirius zuckt mit den Achseln. „Aber das heißt nicht, dass du dich nicht beschweren darfst. Trauer und Freude und Unwohlsein kann man nicht gegeneinander aufrechnen. Es geht nicht darum, wer es am schlimmsten hat."

Ich führe ihn durch die verlassene Küche, die mittlerweile wie ausgestorben wirkt, bevor in den frühen Morgenstunden die Bediensteten wieder auftauchen werden. Der dunkle Raum hat etwas Gespenstisches an sich, als würde jeden Augenblick ein Monster hinter dem Schrank hervorbrechen können. Doch ich fürchte mich nicht, leben die wahren Ungeheuer dieses Anwesens doch zwei Stockwerke drüber, in einem Raum voller Seide und Komfort.

Ich stoße die Tür auf, die nach draußen in den Garten führt.

„Gute Nacht, Marlene."

„Gute Nacht", murmele ich und sehe ihm einen Augenblick schweigend dabei zu, wie er in der Dunkelheit verschwindet.

Ich weiß nicht, ob es die Nacht ist, die mich plötzlich mutig werden lässt oder die vergangenen Stunden, die mich so erstickt haben, dass ich mich von ihnen losreißen muss. Egal was es ist, ich kann nicht weiter schweigen.

„Warte", zische ich, leise bloß, aber Sirius dreht sich direkt um, als hätte er nur auf meine Worte gewartet. „Willst du... Wollen wir vielleicht noch ein bisschen Spazieren gehen und reden?"

„Es ist ein bisschen zu spät zum Spazierengehen, oder?", fragt er, doch er hat ein breites Grinsen im Gesicht.

„Es ist nie zu spät", erwidere ich bloß. „Für nichts im Leben."

Die Musik aus dem Ballsaal findet auch ihren Weg in den Garten, leise, doch unser steter Begleiter. Sie kann uns jedoch nichts anhaben, nicht hier, inmitten der Sicherheit der Nacht, die uns vor dem Universum versteckt. Mich glauben lässt, dass es niemanden gibt außer mir und dem Jungen, den ich einmal so sehr gehasst habe. Den Jungen, den ich mittlerweile...nicht mehr hasse.

„Lass uns hier lang gehen", murmele ich.

Meine Stimme ist leise, übertönt kaum die zu uns schwebenden Lieder, doch Sirius versteht mich trotzdem. Als hätte er ein Leben lang nichts anderes gemacht als mich zu deuten.

Er nickt stumm und läuft neben mir her, ein halber Meter zwischen uns, zu viel und doch nicht genug. Eine Weile sagen wir nichts, doch es ist gerade diese Stille die einfach wunderschön ist. Mit den richtigen Menschen muss man die Ruhe nicht durch Worte zerstören. Mit den richtigen Menschen gibt es nichts, was man falsch machen kann.

Irgendwann reiße ich Sirius einen Meter zurück. „Pass auf, neben dir ist ein Teich."

Er lacht. So dunkel und rau und frei, dass ich nicht anders kann. Ich muss auch lachen.

„Danke für die Warnung. Ich hätte gedacht, dass du mich ertränken willst."

„Ein Teil von mir vielleicht", grinse ich. „Aber ich warte damit lieber noch ein wenig, bis ich mir sicher bin, dass ich all die Vorteile von dir ausgekostet habe."

Die Schatten der Nacht liegen tief auf seinen Wangen, lassen seine Umrisse nur schwer erkennen, doch ich kenne ihn. Weiß das dieses freche Grinsen auf seinen Lippen liegt, auch wenn ich es nicht bloßen Auges erkennen kann.

„Ich habe also Vorteile?"

„Ein paar. Aber lass dir das bloß nicht zu Kopf steigen, die Nachteile überwiegen", entgegne ich.

Sirius lacht erneut. „Wenn du das sagst, muss das sicherlich stimmen."

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ihn das letzte Mal so frei und unbekümmert erlebt habe. Ob ich ihn überhaupt je so erlebt habe. Ohne die Sorgen seines Elternhauses, ohne das Pflichtgefühl seinen Freunden gegenüber, ohne die Spuren des Krieges, die sich jeden Tag ein bisschen tiefer in uns alle graben.

Heute Nacht ist all dies verschwunden, als wären wir in unserem eigenen Wunderland.

„Erzähl mir von dem Ball", murmelt er schließlich. „Was habe ich verpasst? Haben Sie etwas über mich gesagt?"

Ich zögere. „Willst du das wirklich wissen?"

„Sich vor der Wahrheit zu verstecken ändert nichts an den Tatsachen."

„In Ordnung."

Ich strecke meine Hand nach seiner aus, verschränke unsere Finger miteinander, in dem Versuch, ihm ein bisschen Halt zu verschaffen. Vielleicht ist das aber auch einfach eine Ausrede. Vielleicht genieße ich es einfach nur, seine Hand zu halten. Vielleicht genieße ich es ein wenig zu sehr.

„Eines der Gerüchte heißt, dass du wohl von einer Muggelstämmigen verzaubert worden und deswegen nicht mehr ganz klar im Kopf bist."

Sirius lacht leise. „Genau. Das ist natürlich ganz realistisch."

„Realismus wird in diesen Kreisen nicht ganz großgeschrieben", erinnere ich ihn, ebenfalls ein leichtes Grinsen im Gesicht. „Ein paar waren näher an der Wahrheit dran. Haben darüber geredet, dass du wohl einen Streit mit deinem Vater hattest, du ihn angegriffen hast mit einem Zauber und er dich daraufhin enterbt hat."

„Ich wünschte, ich hätte ihm einen Zauber an den Hals gejagt", stößt Sirius aus, die Stimme so bitter, dass ich kurz zusammenzucke.

Sein Daumen streicht über meinen Handrücken, bis ich mich wieder beruhigt habe.

„Ich wünsche es mir so sehr", murmelt er. „Nicht weil ich meinen Vater verletzten will. Selbst nach allem, was er getan hat, will ich ihm immer noch nicht wehtun."

„Du willst keinem Menschen wehtun. Das ist nichts Schlechtes, sondern eine gute Eigenschaft", unterbreche ich ihn bestimmt.

„Mag sein." Er zuckt mit den Achseln. „Aber ich wünschte, ich hätte einen Zauber abgelassen, einen bloß. Dann würde ich mich in seiner Gegenwart vielleicht nicht immer so jämmerlich klein fühlen. Mich so fühlen als wäre ich nichts als ein Versager."

Ich bleibe stehen und drehe mich so, dass er mein Gesicht im Mondschein sehen kann. Ich möchte, dass er den Ernst meiner Worte verstehen kann.

„Sirius Black, du bist kein Versager", meine ich, die Worte so sicher wie sonst nie. „Du bist ein wunderbarer Mensch."

Er weicht meinem Blick aus und zuckt mit den Achseln, zieht mich weiter durch das Feld, unsere Hände wie Ketten ineinander verschränkt. Doch es sind Ketten, die ich mir freiwillig anlege. Ketten, die ich nie wieder verlieren will.

„Und meine Eltern? Was haben Sie gesagt?"

Ich schlucke, denn was ich nun sagen muss, ist noch ein wenig grausamer.

„Sie haben dich nicht erwähnt. Mit keinem Wort. Sie haben sich so verhalten, als..."

„Wäre ich tot", ergänzt er die Worte, die ich nicht aussprechen kann. „Das habe ich mir schon gedacht."

„Es darf trotzdem wehtun."

„Es tut immer weh", flüstert er. „So sehr, dass ich den Schmerz manchmal nicht mal mehr merke."

Ich drücke seine Hand, so fest, dass es wehtun muss. Doch er zuckt nicht zurück, sondern zieht mich bloß ein Stückchen näher zu sicher. Der Meter zwischen uns wird kleiner, ich kann seinen Arm an meinem spüren und fühle mich so schrecklich, dass es mir gerade so wahnsinnig gut geht, während er innerlich Qualen leidet. Doch als er wieder spricht, ist seine Stimme klar, der Moment des Schmerzes bereits Vergangenheit.

„Hast du mit Reg gesprochen?"

„Den ganzen Abend. Ich war... ich weiß, dass sich das blöd anhört, aber ich war froh, dass er da gewesen ist", erzähle ich. „Regulus hat mich mehr als einmal vor unbeliebten Gesprächen gerettet. Ich glaube... Ich glaube, er ist nicht ganz verloren. Irgendwo tief in ihm steckt immer noch der Junge von früher."

„Ich hoffe es", murmelt Sirius.

„Er hat erzählt, dass er es zuhause momentan nicht so einfach hat. Euer Vater ist anscheinend unberechenbar geworden."

„Noch mehr als ohnehin schon?" Er lacht, doch das Lachen klingt wie Schmerz.

„Anscheinend. Regulus hat gesagt, dass er oft mit Crabbe, Goyle, Parrington und Malfoy unterwegs ist. Wir haben nicht über Du-weißt-schon-wen gesprochen, nicht wirklich. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie alle zu seinen Fanatikern gehören."

„Es würde mich nicht wundern", erwidert Sirius. „Ich bin mir ziemlich sicher, Malfoy Senior und Lucius damals bei dem Angriff in Hogsmead gesehen zu haben."

„Regulus hat gesagt, dass er keine Details kennt. Aber er hat irgendwie angedeutet, dass ich vorsichtig sein sollte. Dass er mir nichts sagen könnte, selbst wenn er mehr wisse."

Einen Augenblick schweigen wir, lassen die dunkle Zukunft vor uns Gestalt annehmen, bevor wir sie wie einen Luftballon platzen lassen. Zumindest für heute Nacht.

„Was hat Regulus sonst noch erzählt?"

Wieder habe ich Regulus Worte in meinen Gedanken.

Sirius steht auf dich.

Ich räuspere mich. „Nichts...Nichts Wichtiges mehr."

Die Nadeln an meinem Kopf sind plötzlich wie tausend Nadeln, die ich nicht mehr ertrage. Ich bleibe stehen, lasse Sirius Hand los und ziehe sie mir aus den Haaren.

„Hey. Stopp." Er hält meine Hände fest. „Lass mich das machen. Du machst nur ein noch größeres Chaos."

Wir schweigen, während er mit sanften Fingern die Nadeln entfernt. Eine nach der anderen. Jedes Mal wenn er sich nach vorne beugt, kann ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren. Er verbrennt mich und ich stürze mich freiwillig ins Feuer.

„Fertig", meint er schließlich mit einem Lächeln.

„Schmeiß die Nadeln dort in den Busch. Ich will sie nie wiedersehen."

Er grinst mich an. „Bist du dir sicher? Damit könnte man hervorragend jemanden erstechen. Habe ich gestern Abend in einem dieser Muggelfilme gesehen. Man muss ihnen zugestehen, dass sie wirklich kreativ werden, wenn sie keine Zauber abschicken können."

„James hat dich ins Kino mitgenommen?"

Er fährt sich durch die Haare. „Ich dachte, es heißt Kono?"

Ich lache leise. „Kino. Sehr sicher. Jamie steht auf diesen Quatsch, als wir jünger waren, sind wir andauernd ins Kino gegangen."

„Der Quatsch war auch ganz cool. Ich verstehe, warum Prongs gerne dort ist. Ein bisschen wie eine andere Realität", entgegnet Sirius. „Und der Film war gut. Es wurde viel geschossen. Einer der Schaupsieler hatte ein Motorrad."

„Ein Motorrad, hm?"

„Ich werde mir eins kaufen."

Ich lache. „Sicherlich."

„Du wirst schon sehen."

Er stupst mich an und mustert mich dann, die grauen Augen im Mondlicht silbern schimmernd, so wunderschön und unwirklich. Er wirkt wie ein Gemälde aus vergangenen Tagen.

„Mar?"

„Ja?"

„Erinnerst du dich noch an den Weihnachtsball vor vier Jahren?"

„Der Ball, an dem du mich angeschrien hast, dass ich dir nicht zu nahe kommen solle?"

Sirius Lachen erleuchtet die Nacht. „Genau der. Ich hatte damals Angst vor dir, weißt du das?"

Ich schnaube. „Warum hattest du Angst vor mir?"

„Weil du...Irgendwie so du bist. Bei dir weiß man nie, was man bekommt. Das macht mir selbst heute noch Angst."

„Hast du jetzt gerade Angst vor mir?", frage ich.

Einer seiner Mundwinkel hebt sich. „So sehr."

Ich sehe ihn überrascht an. „Wirklich?"

„Wirklich", flüstert er. „Weil ich einer Sekunde etwas absolut Dummes tun werde."

Im nächsten Augenblick küsst er mich.

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