NINE.
MARLENE || Der Junge, der sonst so unzerstörbar wirkt, hängt in der Luft, als wäre er Teil eines Puppentheaters. Die Arme rudernd, das Gesicht merkwürdig verzerrt. Am meisten treffen mich seine grauen Augen, aus denen jedes Licht gewichen ist. Wie die letzte Flamme, die sich vergeblich gegen das Leben wehrt und dann rauchend seinen Untergang findet.
Ein Schrei ertönt, vielleicht meiner, vielleicht James', vielleicht der des Universums.
„Sirius!"
Es dauert wertvolle Sekunden, um Emille ihren Bruder zu geben. Mit zittrigen Fingern fische ich nach meinem Zauberstab, brauche drei Versuche, bis ich das Holz umklammere und ihn auf den Todesser richte, der mit einem manischen Lachen die Welt ein wenig dunkler macht.
James ist einen Moment schneller als ich.
Er schießt an mir vorbei, Augen funkelnd, keine Sekunde zögernd. „Expelliarmus!"
Der Zauberstab des Todessers fliegt durch die Luft, direkt in James Hände, der ihn mit dunklem Blick zerbricht. In meinem ganzen Leben habe ich ihn noch nicht so gesehen, so starr und entschlossen und ernst. Es macht mir ein wenig Angst.
Sirius sinkt mit einem Knall auf den Asphalt, stößt einen kurzen Schrei aus und bleibt dann leblos liegen.
„Nein, nein, nein", wispere ich.
Ich lasse mich neben ihn fallen und schüttele ihn hektisch. „Sirius, du musst die Augen aufmachen, okay?"
Mein Arm fährt über seine Brust, seinen Hals, auf der verzweifelten Suche nach seinem Puls. Er ist schwach, flatternd unter meinen Fingern, aber immerhin ist er da. Doch egal wie sehr ich ihn auch anschreie, es kommt keine Situation, als hätte Sirius beschlossen, dass er genug hat von dieser bitterkalten neuen Realität.
Ich schüttele ihn heftiger. „Merlin, mach die verdammten Augen auf!"
Es dauert, aber dann sieht er mich endlich an, einen Mundwinkel zu einem schwachen Lächeln verzogen, der Blick so klar, dass ich vor Erleichterung aufschluchze. „Wenn du mir einfach tief in die Augen sehen willst, hättest du mich auch viel früher fragen können. Dann hätten wir uns das Chaos hier sparen können."
Ich lache, während mir stumme Tränen über die Wangen laufen. „Tu das nie wieder."
„Keine Versprechungen, McKinnon", flüstert er.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie James den Todesser bewusstlos zaubert, die Bewegungen heftiger als nötig und dann neben mir auf die Knie fällt. Seine Hände zittern merklich, während sich an Sirius Umhang krallt.
„Padfoot. Wie geht es dir?"
„Es war schon einmal schlechter." Sirius lacht tonlos. „Seht mich nicht so mitleidig an, das ist mein Ernst. Es ist nicht das erste Mal, dass mir das Vergnügen des Cruciatus Fluchs gewährt wird."
Ich schiebe meine Finger in seine und drücke sie einmal sanft. „Danke."
Ein Lächeln legt sich auf seine Lippen, so hell und strahlend und so wundervoll. „Für meine Freunde immer, McKinnon."
„Was ist mit deinem Bein passiert?", fragt Emille.
Ich sehe zu dem Mädchen herüber, dass Sirius mit aufgerissenen Augen anstarrt und dann zu seinem Bein, das seltsam verdreht an seiner Seite hängt.
„Ist wahrscheinlich gebrochen", antwortet Sirius mit leiser Stimme, als wollte er das Mädchen nicht verschrecken. „Aber keine Sorge, das wird wieder gut. Wie heißt du denn, Kleine?"
„Emille." Sie streckt das Kleinkind ein wenig in seine Richtung. „Und das hier ist mein Bruder Harold."
„Ich bin Sirius. Was machst du denn in Hogsmeade? Wo sind denn deine El-"
Ich drücke hektisch seine Hand, um ihm am Sprechen zu hindern und bin beinahe überrascht, dass er den Mund sofort schließt.
„Kannst du laufen, Padfoot?", fragt James, dessen Augen immer auf die Hauptstraße hinter uns huschen . „Wir müssen weiter. Wer weiß wie viele von diesen Schwachsinnigen noch hier herumlaufen."
Sirius beißt sich auf die Unterlippe. „Ich könnte es auf drei Beinen versuchen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das so die beste Idee wäre."
„Meinst du, er hat eine Gehirnerschütterung?", zische ich James leise zu.
Er schenkt mir ein erschöpftes Lächeln. „Nein, Sirius' Kopf geht es gut. Zumindest nicht schlechter als sonst ohnehin schon."
Das Gekreische hinter uns ist nicht mehr so vielfältig, nun sind einzige Schreie herauszuhören, wehklagend, lebensaushauchend. Ich schlucke, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass dies nur der Fall ist, weil so viele nicht einmal mehr in der Lage sind, einen Ton von sich zu geben. Zu viele leblose Körper liegen um uns herum, ihre Körperteile merkwürdig verdreht. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Gestorbenen sehe. So grotesk und herzzerreißen.
Ich schiebe Emille sanft so, dass ihr Blick nicht auf all die Toten fällt.
James legt den Kopf schief, wie immer wenn seine Gedanken wirbeln und er verzweifelt auf der Suche nach der Lösung ist, seinen Zauberstab stets in Richtung des Dorfes gerichtet. „Okay, wir machen es so. Ich stütze Sirius. Du nimmst die Kinder, Marlie. Und dann nichts wie weg hier."
Ich nehme den kleinen Harold auf den Arm und strecke Emille meine Hand entgegen, die sie so fest umklammert, dass meine Fingerknöchel weiß werden.
„Wir müssen es nur bis zum Schloss schaffen" flüstere ich ihr zu, nicht sicher, wen von uns beiden ich eigentlich zu überzeugen versuche. „Es ist nicht weit."
Dennoch weit genug und wir sind viel zu langsam unterwegs. Emilles Beine sind zu schwer, zu kurz, um wirklich zu rennen und Sirius kann sich nur hüpfend fortbewegen, sodass langsam, aber stetig drei weitere Todesser auf unseren Fersen sind.
„Nur noch ein bisschen weiter, nur noch ein bisschen", wispere ich, die Wörter belanglos in meinem Mund, während ich so verzweifelt versuche, sie mit meinen Gedanken Wirklichkeit werden zu lassen.
Doch das wirkliche Leben lässt sich nicht durch Zauber bestechen. Unsere Magie, sonst zu wahnsinnig beeindruckenden Dingen fertig, hat heute nur eine verzweifelte Zerstörungskraft in sich wohnen.
James und Sirius werfen immer wieder Zauber über ihre Schulter hinweg, Emille und ich durch ihre Körper abgedeckt. Doch es ist nicht genug, nichts ist genug, niemals wird es genug sein.
Vielleicht schaffen wir es bis nach Hogwarts, vielleicht sogar ins Innere des Schlosses, es wird belanglos sein, markiert dieser heutige Tag doch endgültig die Grenze. Alles, was vorher war, ist unbedeutend. Alles, was noch kommen wird, ist Dunkelheit, Verzweiflung und Krieg.
Zwei der Todesser drehen ab, auf dem Weg in Richtung der Schreie, auf der Suche nach mehr Zerstörung. Doch der letzte kommt unaufhaltsam näher, langsam, beständig treibt er uns vor sich her.
Irgendwann ist er nahe genug, dass wir seine breiten Schultern, die glänzend schwarzen Haare sehen können. An seinem Umhang klebt getrocknetes Blut und bei dem Anblick wird mir schlecht.
„Expelliarmus."
Dunkles Lachen ertönt, während der Todesser den Fluch mit einem zuckenden Handgelenk einfach wegweht.
Sirius stolpert fast über seine eigenen Füße, seine Augen aufgerissen und auf die schwarze Gestalt gerichtet, als wäre es sein persönlich wahrgewordener Alptraum. Alle Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen, doch es ist nicht der Schmerz, der dafür verantwortlich ist.
Ich brauche einen Augenblick länger, eine Sekunde bloß, die sich anfühlt wie eine ganze Ewigkeit, bis ich verstehe. Langsam lasse ich Emilles Hand los, dann ziehe ich meinen Zauberstab hervor, die Finger in Zeitlupe bewegend, damit der Überraschungseffekt auf meiner Seite ist.
„Siris Orion Black, selbst jetzt bist du zu feige, um –"
„Stupor", flüstere ich.
Ein roter Blitz löst sich aus meinem Zauberstab und trifft Orion Black mitten in die Brust.
Einen Augenblick lang bleibt die Zeit stehen, dann fällt Sirius Vater bewusstlos zu Boden. Seine Maske rutscht ein wenig zur Seite und enthüllt scharfe Wangenknochen, ein aufgerissenes graues Auge.
Das ist der Moment, in dem auch James versteht.
„Padfoot, es tut mir –"
„Wir müssen weiter", unterbricht ihn Sirius tonlos. „Wer weiß, wie viele noch hier draußen sind."
Ich nehme Emilles Hand wieder in meine, Harold ein wenig fester an mich gedrückt und wir hetzen weiter durch die Straßen.
Wir rennen, doch egal wie schnell wir rennen, es ist nicht genug. Jeder Schritt fühlt sich schwerer an, ich atme Feuer ein, der Rauch direkt durch meine Lunge brennend, so herzlos und zerstörerisch.
„Marlene?", flüstert Emille, die neben mir nur noch über ihre eigenen Füße stolpert. „Ich kann nicht mehr."
Ich presse meine Lippen aufeinander, um nicht aufzuschluchzen.
„Du kannst noch", ruft James der Kleinen zu. „Nur noch ein bisschen weiter. Nur noch ein paar Schritte mehr für deinen Bruder."
Als wir eine menschliche Mauer von Professoren erreichen, breche ich vor Erleichterung fast zusammen. Black und James, der immer noch halb auf seiner Schulter hängt, sind die ersten, die sie erreichen.
Black wird einen Schritt langsamer, den Blick über die Schulter in meine Richtung gerichtet.
„Lauf, du Idiot", schreie ich ihn an, Emille immer an meiner Hand haltend.
Er zögert, nur eine weitere Sekunde bloß, aber dieser Augenblick ist es, der alles verändern könnte. Dann nickt er mir zu und verschwindet mit James zwischen den Lehrern.
Einen Moment später habe auch ich die Mauer erreicht, Harolds Schreie immer noch in meinem Ohr und Emilles Hand umklammert, als wäre das alles, was mich noch am Leben hält.
Professor McGonagall, Schulter an Schulter mit Professor Galloway, zieht mich hinter die Schutzreihe. Ihre braunen Augen fliegen einmal über mich, als wollte sie sich versichern, dass ich am Leben bin.
„McKinnon, nehmen Sie die Kinder mit hoch zum Schloss."
„Was ist mit Dorcas?", frage ich keuchend, nicht bereit, auch nur einen Meter weiter in Sicherheit zu laufen, bevor ich nicht weiß, was mit meiner Freundin passiert ist.
Professor McGonagall wirft mir einen Blick zu, die Mundwinkel zu einem halben Lächeln verzogen. „Miss Meadows ist bereits sicher innerhalb der Schlossmauern. Und jetzt ab mit Ihnen."
Sie nickt mir einmal zu, dann ist ihr Zauberstab bereits wieder starr in Richtung Hogsmeade gerichtet.
Wir schnappen alle nach Luft, während wir den Weg in Richtung des Schlosses hochtraben, endlich in einem Tempo, in dem wir uns nicht mehr fühlen, als würden wir uns selbst in die Flammen werfen. Meine Muskeln zittern und ich kann nicht umhin, immer wieder einen Blick auf die Schultern zu werfen.
Die letzten Meter zum Schloss stolpere ich nur noch und als wir durch die Eingangshallen treten, schluchze ich auf. James drückt meine Schultern, doch bevor wir auch ein Wort wechseln können, stürmt Professor Flitwick bereits auf uns zu.
„Potter, Black, McKinnon", murmelt er und durchsucht eine Liste in seiner Hand, wo er unsere Namen nacheinander abhakt. „Haben Sie sonst noch irgendwelche Schüler getroffen?"
Wir schütteln den Kopf, während mein Magen sich schmerzhaft zusammenzieht. „Professor? Wie viele Schüler werden denn noch vermisst?"
„Noch weitere fünf." Professor Flitwicks Schultern sacken herab, zum ersten Mal in sieben Jahren kann ich ihm sein Alter wirklich ansehen. „Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich bin sicher, sie werden noch auftauchen. Dumbledore ist bereits auf der Suche nach ihnen."
„Gibt es Tote?", fragt Sirius tonlos.
Ich umklammere Emilles Hand so fest, dass ich ihr wahrscheinlich Schmerzen bereite, aber sie gibt keinen Ton von sich.
Flitwick legt ihm eine Hand auf die Schulter. „Bisher nicht, zumindest keiner der Schüler, Merlin sei Dank. Allerdings sind bereits einige im Krankenflügel. Mister Potter, bringen Sie Mister Black bitte auch dorthin. Miss McKinnon, geben Sie die beiden Kinder bitte bei Professor Allister in der großen Halle am Kopfende des Hufflepuff-Tischs ab. Sie kümmert sich um alle Zivilisten."
James geht vor Emille in die Knie, ein wenig ungelenk, weil er immer noch Sirius stützt. „Du bist heute wahnsinnig mutig gemacht."
Sie nickt mit zitternder Unterlippe und ich lege ihr einen Arm um die Schulter.
„Pass auf deinen Bruder auf, ja?", murmelt Sirius und fährt ihr sanft durch die roten Haare, die wild in alle Richtungen abstehen. „Egal, was passiert, du hast ihn noch. Pass darauf auf, dass es so bleibt."
„Hast du auch einen Bruder?", wispert sie.
Sirius Blick wird dunkler. „Noch habe ich einen. Ja."
„Na komm." Sanft schiebe ich Emille in Richtung der großen Halle. „Lass uns Professor Allister suchen. Hilfst du mir dabei?"
Sie nickt leicht.
„Das ist super", murmele ich. „Professor Allister ist eine große Frau, fast genauso breit wie hoch. Und meistens trägt sie ein Blumenkleid, okay?"
Die Türen der großen Halle sind weit aufgerissen und was uns dahinter erwartet, ist pures Chaos. Überall laufen Schüler umher, rufen die Namen ihrer Freunde und fallen sich erleichtert in die Arme, während andere einfach nur mit leerem Blick an den Tischen sitzen, einen Punsch umklammert, den Hagrid großzügig an alle zu verteilen scheint.
Wir laufen in Richtung des Hufflepuff-Tisches, wo ich die Professorin in Wirklichkeit bereits entdeckt habe, aber ich hoffe, dass Emille eine Aufgabe gut tun wird.
„Da ist sie", ruft das Mädchen, ein wenig zu laut, heute jedoch nicht einmal bemerkbar in der großen Halle, in der das Chaos vorherrscht.
Selbst an diesem Ort, der heute Morgen noch so magisch und friedlich wirkte, ist ein Stück Dunkelheit eingezogen.
„Wunderbar, Emille. Danke für die Hilfe beim Suchen." Sanft streiche ich ihr durch die Haare und schiebe sie dann auf die Wahrsagelehrerin zu.
„Professor Allister? Professor Flitwick sagte, dass ich mich bei ihnen melden soll."
Sie nickt mir zu und geht lächelnd vor Emille in die Knie. „Du kannst mich Margret nennen. Und wer bist du?"
„Emille. Und der Junge auf Marlenes Arm ist mein Bruder Harold."
„Freut mich, dich kennenzulernen", murmelt die Wahrsagerin mit sanfter Stimme, so behutsam, als würde sie mit einem Tier reden. „Hast du denn auch einen Nachnamen? Dann können wir deine Eltern kontaktieren."
„Westfield." Emille presst die Lippen aufeinander. „Mein Daddy war mit uns in Hogsmeade. Er ist... er ist immer noch dort."
„Und deine Mutter?", frage ich eilig, während ich sie näher an mich ziehe.
Sie blinzelt. „Meine Mummy ist zuhause geblieben."
„Wollen wir deine Mummy dann mal suchen? Ich bin sicher, dass sie dich schon vermisst." Professor Allister schenkt Emille ein weiteres Lächeln. „Verabschiede dich doch kurz von Marlene, dann suchen wir deine Mummy, okay?"
Emille schlingt ihre kleinen Ärmchen um mich und drückt mich so fest an sich, dass ich fast ihren Bruder fallen lasse. Ich erwidere ihre Umarmung mit einem Arm, während ich Harold mit dem anderen festhalte. Schluckend drücke ich ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Du bist unglaublich tapfer gewesen heute, Emille. Ich bin stolz auf dich."
„Marlene?"
„Ja?"
„Schreibst du mir, was mit dem Bein passiert?", flüstert sie.
„Mache ich." Ich streiche ihr durch die Haare. „Aber ich verspreche dir, dass Sirius Bein wieder vollkommen in Ordnung kommt. Der Dickkopf hat schon Schlimmeres erlebt."
Emille sieht mich an aus ihren großen braunen Augen. „Mein Daddy sagt immer, dass etwas nicht weniger wehtun muss, nur weil man schon Schlimmeres erlebt hat."
Ich schlucke. „Damit hat dein Daddy Recht."
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