EIGHT.

MARLENE || Als ich aufwache, ist es der erste Morgen nach einer der berühmten Gryffindor-Parties, an dem sich mein Kopf nicht anfühlt, als würde er jeden Augenblick explodieren. Ich muss zugeben, dass das auch keine schlechte Option ist.

Meine Mitbewohner jedoch wirken, als wären sie vor einen Lastwagen gelaufen. Ihre Augen sind leicht verquollen, Dorcas hat einen Kissenabtruck in ihrem Gesicht und Lily stöhnt, als ich mit einem Schwung meines Zauberstabs die Vorhänge öffne.

„Wie spät ist es?", fragt Dorcas, halb gegen ihre Kissen gelehnt, als würde sie sonst nicht aufrecht bleiben.

Ich werfe einen Blick auf das Schmuckstück neben mir, das schon seit Ewigkeiten in meiner Familie ist. Im Gegensatz zu anderen Erbstücken ist diese hier bedeutungslos, aber es ist schon immer mein liebstes gewesen, weil ich die elegante Ausarbeitung und die Blumenprägungen auf dem Ziffernblatt wunderschön finde.

„Zehn Uhr. Wenn wir noch Frühstücken wollen, sollten wir uns langsam mal auf dem Weg machen."

Lily seufzt. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas runterbekomme."

„Orangensaft sollte schon gehen", meint Dorcas, die Stirn so nachdenklich verzogen, als wäre dies hier eine Entscheidung zwischen Leben und Tod. „Ja, das sollten wir runterkriegen."

Ich werfe die Bettdecke zurück und schlüpfe dann in meine Klamotten, wobei ich das Kleid von gestern Abend zum Trocknen über einen Stuhl hänge. Das Gras gestern Nacht ist wohl doch nasser gewesen, als ich gedacht hatte. Während dieser Stunden abseits der Realität ist mir das nicht aufgefallen, nicht während nur Sirius und ich in diesem merkwürdigen Wunderland existiert haben. Jetzt jedoch zieht die Kälte in mir ein und mir graut es bereits vor der Begegnung mit ihm.

Er hat mich verletzlicher gesehen als meine besten Freunde, was ihm nun die Macht gibt, mich damit zu zerstören. Unser Austausch gestern, so friedlich und leise, zieht dunkle Schatten nach sich.

„Was ist mit deinem Kleid passiert?", fragt Lily.

Sie ist manchmal besser als jeder Auror, wenn es darum geht, Geheimnisse aufzudecken. An einigen Tagen ist es meine liebste Eigenschaft von ihr, etwa wenn es darum geht, ein Buch für einen Aufsatz zu finden. An anderen ist es mein sicherer Untergang.

„Ich habe gestern Abend noch einen Spaziergang gemacht", murmele ich, so nah bei der Wahrheit bleibend wie möglich.

„Alleine?" Dorcas wirft mir einen Blick zu, während sie müde in ihren Umhang schlüpft.

„Der ist falschrum", weise ich sie daraufhin und schüttele dann den Kopf. „Nein, nicht alleine. Ich habe... jemanden getroffen."

Dorcas richtet ihren Kragen und wirkt, als bräuchte das ihre ganze Konzentration. Anscheinend hat sie gestern ein wenig zu oft zum Punsch gegriffen. „Ist das mit Prewett wieder aktuell?"

„Ich hoffe nicht, denn er hat gestern etwas mit einer Fünftklässlerin angefangen." Lily sieht mich an. „Sollen wir Prewett dafür in den Hintern treten?"

Ich lache. „Nein. Prewett und ich sind vorbei. Ich war mit jemand anderem unterwegs. Und es ist auch nicht so, wie ihr denkt. Es war nichts... Sexuelles."

Meine Gedanken verraten mich, Erinnerungen an Sirius sanfte Finger auf meinem Arm, das Kribbeln in meinem Bauch. Verräterische Ideen, die für den Rest meines Lebens ein Geheimnis bleiben müssen.

„Mehr verrätst du uns nicht, Mar?" Lily zwinkert mir zu. „Ich bin entsetzt."

„Du hast leicht reden, Lil", mischt Dorcas sich ein und dreht sich dann grinsend in meine Richung. „Du hast gestern noch richtig was verpasst."

Neugierig sehe ich sie an. „Was ist passiert? Ist Peter wieder in den Punsch gefalle?"

„Nein, besser." Dorcas Grinsen wird noch breiter. „Lily hat bestimmt zwei Stunden lang mit James getanzt."

Ich starre Lily ungläubig an. „Was ist dieses Schuljahr mit dir los? Sollte ich mir Sorgen machen? Seid wann hältst du ihn nicht mehr für einen – Ich zitiere – aufgeplusterten Oberarsch mit zu wenig Gehirnwäsche."

„Wir haben nur getanzt. Das ist alles", murmelt sie, ihre helle Haut gerötet. „Können wir jetzt bitte frühstücken gehen?"

Lachend lege ich ihr einen Arm über die Schulter. „Vermisst du James schon so sehr? Wer hätte gedacht, dass sich das so schnell ändert?"

Dorcas fängt an ‚Love is in The Air' zu trällern, so schief, dass es bestimmt noch bis in den Schlosshof zu hören sind und Lily verflucht uns beide, während wir uns auf dem Weg in die große Halle machen.

Der Gryffindortisch ist deutlich ruhiger als sonst, überall sind müde Gesichter zu sehen und mehr Plätze als sonst sind unbesetzt, als hätten einige es nicht einmal zum Essen geschafft.

Remus hängt halb in seiner Müsli-Schüssel, während James sein Glas Saft von sich geschoben hat, als würde ihm bereits vom Anblick schlecht. Die Haare meines besten Freundes sind noch wirrer als sonst und ich könnte schwören, dass seine Brille ein wenig schief sitzt. Einzig Black wirkt wie das blühende Leben und gibt eine Anekdote zum Besten, wie ein Drittklässler gestern fast an einem Punsch erstickt ist.

Ich versuche, ihn unauffällig zu mustern, doch es ist, als würde er meinen Blick spüren, denn graue Augen treffen auf meine wie ein kalter Windhauch am leichtesten Sommertag. Eilig sehe ich weg und stürze mich auf die Muffins, froh darüber, eine glaubhafte Ausrede zu haben.

Ich kann seinen Blick noch einen Moment fühlen, als würde er mich in Flammen setzen, bitterkalt und so brennend hell, dann jedoch ist auch er plötzlich sehr mit seinem Essen beschäftigt.

Wenn das die Art ist, wie wir nun miteinander umgehen, schweigend und als wäre nichts gewesen, bin ich absolut dafür.

„Wo ist Peter?", fragt Dorcas, während sie vier Gläser Orangensaft befüllt. Zwei davon gehen an mich  Lily, die anderen behält sie selbst.

„Hat es nicht aus dem Bett geschafft." James zuckt müde mit den Achseln. „Er will es sogar für Hogsmeade nicht verlassen."

„Es wird noch weitere Hogsmeade-Besuche geben", meint Lily, während sie lustlos in einem Rührei stochert.

Black lässt seinen Blick über die Runde streifen, mustert alle durchdringend, nur mich lässt er aus. Ich weiß nicht, ob ich froh oder verletzt deswegen sein sollte. Alles, was ich weiß ist, dass sich mein verräterisches Herz immer noch zu sehr daran erinnert, wie leicht es sich angefühlt hat, gestern Nacht seine Hand zu halten und zu schweigen.

„Merlin, was seit ihr heute alle für Saftlappen", meint Black seufzend. „Vertragt ihr alle keinen Alkohol mehr?"
James bewirft ihn mit einem Stück Brot, dass seinen besten Freund direkt an der Stirn erwischt. „Nicht jeder von uns hat stundenlang mit irgendeinem Mädchen rumgemacht. Trink du erst mal so viel wie wir, dann sprechen wir uns nochmal."

„Ich habe nicht..." Sirius Blick zuckt kurz in meine Richtung, so schnell, so irrtümlich, dass ich ihn nur entdecke, weil ich heute Morgen viel zu fasziniert von ihm bin. „Ihr seid doch nur neidisch, weil ihr die Zeit nicht mit einem hübschen Mädchen verbringen durftet."

„Absolut", meint Remus trocken. „Irgendwo in irgendwelchen Klassenzimmern von Gibbs dabei erwischt zu werden, wie man gerade seine Hand an Stellen hat, wo sie keiner sehen sollte, darauf bin ich richtig neidisch."

„Das war ein einziges Mal", grummelt Black. „Und es hat sich trotzdem gelohnt."
Ich grinse. „Wieso kenne ich diese Geschichte noch nicht?"

„Weil manche Dinge nicht für unschuldige Ohren gedacht sind." James hält mir die Ohren zu, ich kann seine Stimme aber trotzdem noch dumm erkennen. „Oder für Ohren von Personen, die es direkt nachmachen würden."

Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange. „Weißt du, Jamie, so langsam musst du dich mal daran gewöhnen, dass ich nicht mehr dein kleines Mädchen bin."

Mein bester Freund seufzt theatralisch. „Das weiß ich und es bricht mir das Herz."

„Hast du mal daran gedacht, dem Theaterclub beizutreten?", frage ich trocken.

Er sieht mich überrascht an. „Gibt es so etwas in Hogwarts?"

„Du wärst überrascht, was für Clubs es hier gibt, Potter." Grinsend sieht Lily ihn an. „Mein liebster ist wohl der Gentlemen-Club, dem du aber definitiv nicht angehörst."

„Das trifft mich, Lily", meint James, die Augen so weit aufgerissen, dass ich es ihm beinahe abkaufe. Vielleicht sollte er doch in den Theaterclub. „Dabei war ich gestern absolut ein Gentleman. Meine Hand ist nicht einen Zentimeter tiefer gerutscht, als sie dufte."

Sie lacht. Lily Evans lacht tatsächlich über seine Worte und zaubert James ein Lächeln ins Gesicht, das der Sonne Konkurrenz machen kann.

Mein bester Freund beugt sich ein wenig weiter in Lilys Richtung, die Augen funkelnd, absolut in einer anderen Realität, in dem es nur ihn und sie gibt. „Sehen wir uns später vielleicht in Hogsmeade?"

Sie springt von der Bank auf und schüttelt ein wenig zu heftig den Kopf. „Ich äh nein. Ich muss noch Lernen und wollte in die Bibliothek. Wahrscheinlich sollte ich so langsam auch mal gehen."

Die Schultern meines besten Freundes sinken herab, während er ihr hinterherstarrt und er sieht plötzlich wieder aus wie der Zehnjährige, dem es furchtbar leid tat, dass er meinen liebsten Besen zerstört hat. Ich ziehe ihn in eine Umarmung, was nicht so einfach ist, weil ich in einer Hand noch einen Muffin halte.

„Mach dir nichts draus, Jamie. Sie wollte wirklich lernen", flüstere ich.

„Ich dachte nur einfach... Ich dachte, gestern Abend hätte vielleicht etwas geändert."

Ich drücke ihn ein wenig fester. „Du musst ihr einfach ein bisschen mehr Zeit geben, okay? Ein bisschen geduldiger sein. Lily kann nicht gut mit Veränderungen umgehen. Sie braucht dafür immer eine Weile."

Black zieht seinen Zauberstab und stupst James an. „Hör auf zu schmollen, Prongs, und sieh dir lieber das hier an."

Unauffällig deutet auf Snape, die Finger eine komplizierte Bewegung vollziehend, die Lippen verzogen, während er kaum vernehmliche Worte murmelt. Ich sehe gespannt in Richtung des Slytherin-Tisches, nicht sicher, was er vorhat, bis mir etwas auffällt, das ein Disaster verspricht.

„Black, Stopp! McGon –"

Es ist bereits zu spät, das letzte Wort ist in die Freiheit entlassen worden und hat trotz Snape unsere Hauslehrerin erwischt, die gerade den Gang entlanggeschritten ist.

Die große Halle ist von einer absoluten Stille heimgesucht, während ausnahmslos alle McGonagall anstarren, deren Haare nun in einem leuchtenden Lila mit dem Nachthimmel an der Decke um die Ecke strahlen.

Mit zusammengekniffenem Mund streift sie mit großen, sicheren Schritten in unsere Richtung, als gäbe es gar keine Frage, wer ihre Haarveränderung zu verantworten hat.

Black hat nicht einmal Zeit, seinen Zauberstab wegzustecken, da steht sie auch schon vor ihm, die Schultern breit, den Blick lodernd.

„Mister Black."

Er zuckt merklich zusammen.

„Ich bin mir sicher, dass das nur ein fehlgeleiteter Zauber war, sind wir uns da einig? Denn ansonsten ist der Hogsmeade-Ausflug für uns beide leider gestrichen und wir werden gemeinsam Zeit beim Nachsitzen verbringen."

„Ja, Professor." Black nickt eilig. „Wir sind uns absolut einig, Professor."

„Dann ist das ja geklärt." Ihre Mundwinkel werden ein wenig weicher. „Und wenn sie das nächste Mal jemandem eine neue Frisur verpassen wollen, versuchen sie es vielleicht mit einem Braunton, der steht mir deutlich besser."

Mit einer gekonnten Drehung wendet sie sich von uns ab und stapft in Richtung des Lehrertisches.

„Gott, ich liebe sie", flüstert James ehrfürchtig. „Merlin, irgendwie stehen ihr lila Haare auch noch tatsächlich."

Ein Grinsen legt sich auf Sirius Lippen. „Absolut."

Zwei Stunden später stopft Dorcas mir eine von Berti-Bots-Bohnen in den Mund, die mit McGonagalls momentaner Haarfarbe mithalten kann.

Ich kaue und verziehe dann das Gesicht. „Das ist eindeutig Rotze."

Dorcas wäre nicht Dorcas wenn sie sich daraufhin nicht gleich ebenfalls eine lila Bohne probieren würde, die zum Probieren ausgelegt sind.

„Rotze", nickt sie mit verzogenen Lippen. „Bah, ist das ekelig."

Ich grinse. „Selbst Schuld, wenn du mir nicht glaubst."

„Wie sieht es aus? Kaufen wir eine der limited Editions für Lily, damit sie heute Abend auch in den Genuss kommen kann?"
Nickend schnappe ich mir gleich drei der Berti-Bots-Bohnen Pakete, bevor wir weiter durch den Honigtopf wandern und uns von den vielen Süßigkeiten verzaubern lassen.

Jedes Mal wenn ich in dieses Geschäft schreite, fühle ich mich wieder als wäre ich dreizehn Jahre als und hätte das Paradies entdeckt. Die Wände scheinen bis an die Decke zu reichen, überladen mit den verlockensten Kostbarkeiten. Schokoladenfrösche, Toffee, Fudge Fliegen, Lakritzzauberstäbe – egal, was das Herz begehrt, im Honigtopf wird man glücklich.

Auch heute sehe ich eine Menge strahlende Gesichter, der Laden so voller Hogwarts-Schüler, dass jegliche andere Kundschaft an Schulausflugs-Samstagen tunlichst vermeidet, hier vorbeizuschauen. Nur vereinzelt sind ältere Hexen und Zauberer zu erkennen, die mit geduldiger Miene an den ganzen Teenagern vorbeilaufen.

Wir machen uns auf den Weg zur Kasse, doch als wir sie fast erreicht haben, trifft mein Blick auf ein ganzes Regal explodierender Schokoladen. „Sollen wir Remus eine davon mitbringen? Als Trost dafür, dass er sich bereiterklärt hat, auf Peter aufzupassen?"

„Absolut."

Dorcas schnappt sich direkt zwei Packungen und dann befinden wir uns in der Kassenschlange, die sich nur langsam fortbewegt, weil wir nicht die einzigen sind, die gefühlt den Laden aufkaufen. Als wir endlich an der Reihe sind, zücke ich meinen Geldbeutel, bevor Dorcas die Chance hat zu protestieren.

Familie Meadows ist stets bei knapper Kasse, Dorcas jede Ferien beschäftigt, um mit etwaigen Nebenjobs dazu beizutragen, dass sie sich über Wasser halten können. Was sie jedoch an Gold nicht besitzen, machen sie mit Liebe wieder wett.

„Für irgendetwas muss das Geld meiner Eltern doch gut sein", meine ich eilig, als ich sehe, dass meine Freundin bereits den Mund geöffnet hat um zu widersprechen."

Sie seufzt. „Das sagst du jedes Mal und langsam habe ich ein schlechtes Gewissen."

„Das du nicht zu haben brauchst. Wirklich nicht, Dor. Meine Eltern merken es nicht einmal, wenn ich ihre Schatzkammer plündere."

Wir bekommen eine Tüte mit all unseren Kostbarkeiten überreicht und beschließen bereits direkt nachdem wir den Honigtopf verlassen haben, dass es Zeit wäre, ein wenig zu plündern. Dorcas lässt einen Schkofrosch aus seiner Packung springen, erwischt ihn gerade noch, bevor er Professor Galloway in den Nacken springen kann und teilt ihn dann grinsend in zwei Hälften.

„Auf unser letztes Schuljahr", meint sie feierlich, während sie mir meinen Teil überreicht.

„Auf unser letztes –" Ein Schrei ertönt, so hell und klar und explodierend, dass ich zusammenzucke. „Was war das?"

Dorcas entdeckt es zuerst, einen Finger zitternd in den Himmel gestreckt, die Schokofroschhälfte vergessen auf dem Gehweg liegen. Ich folge ihrem Blick und schlucke, während ich verzweifelt eine Erklärung suche, warum meine Augen mich täuschen müssen. Doch es ist die bittere Realität, die schmerzhafteste Wahrheit.

Das dunkle Mal schwebt über uns.

Eiseskälte übersät mich, als würde das Mal nicht nur das Licht, sondern auch alle Freude einsaugen. Die letzten Sommertage sterben, die verräterische Unschuld ist für immer zerstört, ersetzt durch die grausame Wirklichkeit.

Ein nächster Schrei ertönt, näher dieses Mal, dunkler und es dauert nicht lange, bis ein weiterer einstimmt.

„Alle Schüler augenblicklich zurück zum Schloss! Nicht trödeln", ruft Professor Galloway, gerade noch scherzend im Gespräch mit einer Dame, jetzt bitterernst. „Ruhe bewahren und zügig zurück zum Schloss!"

Menschen strömen in unsere Richtung, schluchzend, andere mit völlig leerer Miene. Sie rennen, sie kämpfen, sie überlaufen sich gegenseitig. Jung und alt, reich und jung, nichts davon zählt mehr.

In Momenten wie diesen macht das Leben keinen Unterschied.

„Mar", kreischt Dorcas und zieht an meinem Ärmel, so fest, dass ich über meine eigenen Füße stolpere.

Das Leben explodiert und es ist, als hätte es mich mit sich gerissen, denn egal wie sehr ich es auch versuche, mein Körper möchte nicht.

„Wir müssen hier weg, Mar!"

Dorcas Schrei ist das letzte, was ich von ihr höre, dann wird sie bereits mit der Menge mitgerissen, ihre Hand eine Sekunde noch an meinen Umhang geklammert, im nächsten verloren im Kampf gegen das Leben.

Grünes Licht explodiert, taucht den Himmel in ein schaurig schönes Schauspiel, erleuchtet einen kleinen Teddybären, den ein Kind im Gedränge verloren hat.

„Dorcas", rufe ich, die Stimme schrill und laut und unbekannt, als wäre es nicht die meine, als wäre all dies hier nur ein schechter Traum.

Und dann sehe ich sie, die Gestalten mit den Masken über dem Gesicht, so unnahbar. Sie marschieren im Gleichschritt durch die Straße, einen Schritt vor den anderen, die Zauberstäbe erhoben.

Ein Mann im Alter meines Vaters stellt sich vor seine Kinder, die Schultern gestreckt, Magie auf den Lippen. Er wird nie wieder sprechen, denn eine beiläufige Handbewegung des Todessers in der Mitte beraubt ihm allen, was ihn ausgemacht hat.

Ein schrilles Lachen ertönt, das selbst das Kreischen übertönt. Als wäre die Grausamkeit geradezu dazu gemacht, all das Gute im Leben zu übertreffen.

„Fuck", fluche ich, als mir auffällt, dass die Straßen mittlerweile leer sind.

Endlich kann ich mich wieder bewegen. Ich renne, renne, renne. Erst auf die zwei Kinder zu, werfe mir das eine über die Schulter, während ich das andere an der Hand nehme, unsanft und es neben mir herschleife.

Keinen Blick werfe ich auf den gefallenen Mann, nutze die wertvollen Sekunden stattdessen dazu, um ihm das zu geben, wofür er sein Leben gelassen hat. Die Sicherheit seiner Kinder.

Das Mädchen an meiner Hand ist nicht älter als acht, aber es gibt keinen Ton von sich, während ich es durch die Straßen ziehe.

Wir rennen, rennen, rennen. Schneller als möglich sein sollte und dennoch nicht schnell genug.

Das schrille Lachen ertönt erneut. „Avada Kedavra."

Ich werfe mich zur Seite, das Mädchen unsanft folgend und zucke zusammen, als ein grüner Blitz mein Ohr streift. Das Kleinkind heult in meinen Armen.

„Schneller", flehe ich die Kleine an. „Du musst schneller werden."
Sie nickt, die Lippen zusammengepresst, den Kiffer verkrampft. Es ist ihr Blick, so entschlossen, der mich davon abhält, zusammenbrechen lässt. Er gibt mir die Kraft, noch ein wenig schneller, noch ein wenig weiterzulaufen. Wenn es dieses Mädchen schafft, das gerade den Tod ihres Vaters mitansehen musste, bin ich es ihr schuldig, sie in Sicherheit zu bringen. Komme, was wolle.

Ich renne.

Meine Beine werden schwerer.

Ich renne.

Meine Hand wird kalt, unnahbar, dennoch bin ich nicht bereit, dass Mädchen loszulassen.

Ich renne.

Das Kreischen hinter uns wird nicht leichter, die grünen Lichtblitze flackern immer wieder an uns vorbei.

„Wie heißt du?", rufe ich dem Mädchen an meiner Hand zu, in dem verzweifelten Versuch, ihr ein bisschen das Gefühl zu geben, als hätte ich die Situation im Griff.

Es ist eine Lüge, noch nie in meinem Leben habe ich mich so hilflos gefühlt.

„Emille." Ihre Stimme zittert leicht.

„Ich bin Marlene."

„Was machen wir denn jetzt?"
„Wir laufen. Einfach immer weiter, dann wird schon alles gut", versichere ich ihr.

Sie nickt stumm und ich werfe einen Blick hinter uns. Die positive Nachricht ist, dass uns von den ursprünglichen fünf Verhüllten nur noch einer folgt. Die schlechte Nachricht ist, dass diese Person immer näher kommt.

„Fuck."

Ich versuche mit zittrigen Fingern meinen Zauberstab aus dem Umhang zu holen, dabei gleichzeitig jedoch das Kleinkind nicht fallen zu lassen. Schließlich gebe ich auf und drücke den Jungen nur noch fester an mich.

„Emille?"

„Ja?"

„Ich werde dir gleich deinen Bruder geben, okay? Und dann läufst du einfach weiter. Immer weiter zum Schloss hoch", keuche ich. „Du darfst dich einfach nur nicht umdrehen, okay? Dann wird alles gut."
Sie drückt meine Hand ein wenig fester. „Warum kommst du denn nicht mit?"

Mir steigen Tränen in die Augen und ich blinzele heftig, die Straße aus Kopfsteinpflaster vor mir ohnehin durch so viele Explosionen bereits ein Hindernissparkour.
„Ich muss... noch etwas erledigen. Aber ich folge euch dann direkt." Ich versuche ihr einen aufmunternden Blick zuzuwerfen, was jedoch in einer Grimasse endet. „Mach dir um mich keine Sorgen. Du bist einfach dafür verantwortlich, deinen Bruder in Sicherheit zu bringen. Verstehst du das?"
Sie nickt, das Kinn entschlossen nach vorne geschoben.

„Auf Drei, okay?", rufe ich ihr zu, ganz in der Hoffnung, dass sie die Verzweiflung in meiner Stimme nicht heraushören kann. „Drei, Zwei –"

„Mar!"

Plötzlich geht alles ganz schnell.

Black wirft mich hinter sich.

Im gleichen Moment erstrahlt der Himmel erneut in giftgrün.

„Cruciatus."

Black fliegt in die Luft, die Gliedmaßen zuckend, die Augen aufgerissen, der Blick leer.

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