Kapitel 4
Es war kalt. Das dichte Blätterdach und die unzähligen Bäume selbst kühlten die ganze Umgebung und vor allem in den Morgenstunden hatte Elea Schwierigkeiten, sich warm zu halten. Sie rieb ihre Hände an ihren Armen, um diese wenigstens ein bisschen zu wärmen. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen vor ihren Augen.
Hätte ich doch nur einen Umhang mitgenommen.
Sie ärgerte sich schon den ganzen Morgen über ihre Dummheit, und dass sie es einfach in Angst und Eile vergessen hatte. Sie hatte sich vorgenommen, so schnell wie möglich ein Dorf oder gar eine Stadt zu erreichen. Zu ihrer Erleichterung fand sie, als sie sich schlafen gelegt hatte, ein paar Münzen im Lederbeutel. Vorsichtshalber hatte sie auch noch ein paar Kräuter gesammelt, die sie in Läden oder an Ständen verkaufen konnte. Doch im Moment wanderte sie noch allein im dichten Wald und orientierte sich an der Sonne, um nach Süden zu kommen. Noch waren ihre Ränder gelb, verblassten aber schon, um zu einem strahlenden Weiß zu werden.
Schon seit Stunden lief Elea in die gleiche Richtung. Kopfschmerzen plagten sie. Sie vermutete, dass es davon kam, dass sie so unruhig geschlafen hatte. Die Bequemlichkeit war kein Problem für sie gewesen, die dicke Schicht Laub federte ihren Körper sogar besser als ihr altes flach geschlafenes Strohbett. Doch ihre Schulter plagte sie immer noch, wenn sie aus Gewohnheit auf der Seite schlafen wollte. Außerdem war der Adrenalinspiegel bei ihr zu hoch gewesen, als dass sie in fernster Weise gut schlafen konnte.
Ihre verknoteten Haare hatte sie mit ihrem Stoffstreifen wie gewohnt zusammengebunden.
Das einzige, was mir von zuhause geblieben ist.
Traurig malte sie sich alle erdenklichen Szenarien aus, wie es ihrer Familie jetzt wohl gehen mag. Würde man sie vertreiben? Bemitleiden? Hassen?
Elea musste schmerzlich an ihren kleinen Bruder denken, der das alles doch noch nicht verstehen konnte. Sie verschränkte ihre Arme vor ihrem Bauch und zog an ihrem Kleid vor Schmerz und Kälte. Sie hörte aus dieser Richtung ein lautes Grummeln. Sie hatte seit dem Fest im Dorf nichts gegessen und getrunken. Ihr Mund fühlte sich auch schon leicht pappig an und ein unangenehmes Gefühl trug auch dazu bei, dass sie stets daran erinnert wurde, dass aus ihrem Mund ein wahrscheinlich sehr unschöner Geruch trat. Elea hasste dieses Gefühl.
Sie musste noch heute eine Quelle finden. Andererseits hätte sie ein größeres Problem. Auf diesen Gedanken fokussiert stampfte sie weiter durch den Wald.
Stunden vergingen und Elea gings mit jeder voranschreitenden Stunde immer schlechter. Sie hatte Durst und Hunger, ihre Kopfschmerzen wurden schlimmer, ihre Kraft zum weiterlaufen schwand immer weiter und sie wurde immer gereizter. Jedes Mal, wenn sie stolperte oder ihre Beine einmal kurz einknickten, verfluchte sie sich selber, die Situation oder den Wald. Nur die Kälte des Morgens war gewichen.
Warum ich?
Warum musste sie aus dem Dorf vertrieben werden? Warum hatte sie auf einmal magische Kräfte?
War das alles wirklich real?
Elea kniff sich zögernd in den Arm, verzog das Gesicht und bereute es sofort wieder. Natürlich musste es real sein. Natürlich musste es weh tun.
Ein Rascheln.
Elea fuhr herum. Die Zweige eines Gebüschs zitterten verdächtig. Neugierig, dennoch vorsichtig, ging sie auf dieses zu. Das Laub unter ihren Füßen raschelte und Äste knackten. Sie lugte über das Gebüsch.
Nichts.
Sie sah sich um. Doch sie sah nichts als die immer gleichen Bäume. Ein paar Gebüsche, dort, wo die Bäume eine kleine Lücke zur Sonne ließen. Eine unendliche Weite von Laub und Ästen. Und eine Bisamratte.
Eine Bisamratte!
Das Tier beobachtete sie interessiert und schnupperte. Es kam einen Schritt näher, stoppte dann wieder und setzte sich.
Verwundert über das ungewöhnliche Verhalten blieb Elea stehen und musterte den Bisam. So blieb es paar Sekunden, bis das Tier plötzlich aufsprang und in die entgegengesetzte Richtung lief. Da fiel es Elea ein.
Wie wahrscheinlich war es, dass sie eine Bisamratte irgendwo im Wald traf?
Schnell nahm sie die Verfolgung auf und lief in dieselbe Richtung. Sie kämpfte sich durch die Gebüsche, duckte sich unter Ästen hindurch. Es kam ein Abhang, den sie hinunterschlitterte. Sie sah auf und stieß sie ein erleichtertes schwaches Lachen aus. Vor ihr erstreckte sich ein großer Teich. Das Wasser glitzerte verführerisch in der Sonne. Stürmisch kniete Elea sich vor den Wasser nieder und tauchte ihre Hände in das kühle Nass. Gierig trank sie und sie konnte fühlen, wie ihr Verstand klarer und ihre Kopfschmerzen milder wurden. Sie genoss das Gefühl von Wasser auf ihrer Haut, den süßlichen Geschmack in ihrem Mund. Nachdem sie hastig getrunken hatte, verweilte sie kurz und schwer atmend. Sie beobachtete ihr Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Ein erschöpft aussehendes Mädchen schaute sie daraus aus. Wirre Strähnen lösten sich aus dem eh schon losen Zopf. Elea meinte auch leichte Schatten unter ihren Augen zu erkennen. Wasser tropfte von ihrem Kinn in den Teich und verzerrte ihr Bild. Sie sah auf.
Ich werde hier eine Pause machen.
Sie stand auf, wischte sich den Mund trocken und ging zu einem Baum in der Nähe. Doch dann verkrampfte sie sich plötzlich. Sie fiel auf die Knie. Ihre Haut brannte vor Schmerz, als hätte man sie in kochendes Wasser geworfen. Der verhasste Druck zwang ihre Arme dazu, nachzugeben und nun lag sie auf dem Bauch. Sie hatte das Gefühl, alle Luft würde ihr aus den Lungen gepresst. Doch sie schrie.
„Hilf mir…“
Geht weg…
Die Stimmen erzählten grausame und ekelhafte Dinge. Dinge, die einem dazu verleiten, in Tränen auszubrechen. Dinge, die einem vor Wut schreien lassen würden. Dinge, bei denen man sofort helfen will. Aber man kann nicht.
Elea krallte ihre Finger in den Boden, schrie und weinte.
Aufhören…
Wie in dem Haus von Marga. Und doch anders. Manche Stimmen waren gleich, andere wieder anders. Sagten, schrien, flüsterten, fragten gleiche Dinge. Es war die gleiche Mischung aus Verzweiflung, Hass, Angst und leichter Hoffnung, aber doch anders. Es waren andere Menschen.
Ihr wurde schlecht. Hätte sie etwas im Magen gehabt, hätte sie sich übergeben. Ihre Sicht verschwamm. Ihre Gedanken wurden träge und konnten nicht mehr auf die unzähligen Stimmen um sie herum hören. Ihr Atem wurde ruhiger, ihre Augen trüb und sie schlossen sich. Das Letzte was sie mitbekam, war das ferne Rauschen der Stimmen in ihren Ohren.
Elea verzog das Gesicht. Etwas stach ganz leicht auf ihrer Haut. Benommen führte sie ihre Hand zu ihren Wangen. Sie waren nass. Kleine Wassertropfen rannen an ihren Schläfen entlang. Das leichte Stechen kam vom seichten Wind, der am Teich rauschte und die Blätter in ihren Baumkronen tanzen ließ. Verwirrt richtete sie sich auf und fasste sich ins Gesicht.
Wie kommt das Wasser da hin?
Da fiel ihr auf, dass sie gar nicht mehr auf dem Bauch gelegen hatte. Sie hatte auf dem Rücken gelegen.
„Ist alles in Ordnung?“
Elea schreckte so sehr von der fremden Stimme hoch, dass sie kurz einen hohen Aufschrei hören ließ. Entsetzt hatte sie sich in die Richtung der Stimme gedreht. Ihre weit aufgerissenen Augen erblickten einen vielleicht Anfang zwanzig-jährigen Mann. Seine Stirn zog sich besorgt über seinen braunen Augen zusammen. Eine ebenfalls braune Strähne seiner welligen Haare hatte sich von dem Rest gelöst und hing ihm nun in eben dieser. Er hatte wahrscheinlich normalerweise kurze Haare, doch waren sie wohl zu lang geworden. Und sein Vollbart ließ ihn älter wirken, als er eigentlich war. Elea hätte dies auch gedacht, hätte sie nicht schon andere Männer nach einer langen Reise durch den Wald gesehen.
Wie lange er wohl in den Wäldern wanderte?
„Es ist alles gut.“ Er streckte seine Hand aus, um ihr hochzuhelfen, obwohl er selber noch in der Hocke war und somit mit ihr auf Augenhöhe. „Ich will dir nichts Böses.“
Eleas Atem ging nun ruhiger, aber sie runzelte die Stirn.
Erst die Bisamratte… Dann jemand, der mir zu Hilfe kommt, wenn ich ihn brauche.
„Sprich, wie ist dein Name?“, fragte sie stattdessen.
Der Fremde ließ seine Hand sinken und atmete einmal tief ein. „Nicht so zutraulich zu Fremden, was?“ Es hätte ein Scherz sein können, wenn er dabei nicht seinen Mund verzogen hätte. Nachdem Elea weiterhin nur schwieg und ihn musterte, antwortete er: „Kian. Mein Name ist Kian.“
„Von?“, fragte Elea unermüdlich weiter.
„Celebra,“ antwortete er. „Kian von Celebra.“
Celebra war eine kleine Stadt südlich des dichten Waldes. Vielleicht konnte er Elea ja helfen, dorthin zu gelangen, damit sie sich genug Vorräte kaufen konnte, um weiter nach Süden zu wandern.
Er stützte sich mit seinen Armen auf den Beinen ab und lächelte. „Darf ich nun auch wissen, mit wem ich die Ehre habe?“
Mit der Antwort und dem Lächeln des Fremden fiel die Anspannung Eleas. Sie sah Kian direkt in die Augen, antwortete aber ohne Lächeln: „Elea von Irma.“
Nun runzelte Kian wieder die Stirn. „Irma? Ist das nicht ein Frauenname?“
„Durchaus. Aber wer hat gesagt, dass man sein Dorf nicht nach einer Frau benennen darf?“
„Ich habe nie gehört, dass eine Ortschaft nach irgendjemanden benannt wurde.“
„Nun, jetzt hast du es gehört.“
Kian verzog wieder seine Mundwinkel. „Ich gehe dann mal davon aus, dass es dir gut geht.“ Er stand auf und ging zu einem Rucksack, der mit einem Bogen ganz in der Nähe lag.
Er ist Jäger…
Elea schämte sich nicht für ihr Verhalten. Doch war ihr klar, wenn sie nach Celebra kommen wollte, musste sie diesem Mann folgen.
„Warte! Bitte.“
Kian drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen um. Elea setzte an, zu fragen, ob sie ihn begleiten konnte, entschied sich aber doch um. „Wie hast du mich gefunden?“
Der leicht spottende Ausdruck auf Kians Gesicht verschwand und er verschränkte die Arme. „Ich habe dich schreien hören,“ antwortete er. Er schien zu überlegen, ob er fragen sollte, was passiert war, sprach seine Gedanken aber nicht aus. Das war Elea auch lieber so. Sie konnte es ja selber noch nicht glauben. Es wirkte alles wie ein Fiebertraum.
Andererseits könnte er denken, dass sie verrückt ist und sich mehr sträuben, sie mitzunehmen.
„Komm,“ sagte er im selben Moment. „Ich bring dich nach Hause. Das kann ja nicht weit sein. Der Wald ist zu gefährlich für ein junges Mädchen.“
Elea riss die Augen auf. „Das geht nicht!“, schoss es aus ihrem Mund. Auch wenn die Bezeichnung "junges Mädchen" nun wirklich nicht auf sie zutraf. Vielleicht junge Frau. Aber nicht junges Mädchen.
Was bin ich, drei?
Kian runzelte die Stirn. „Warum nicht?“
„Ich… habe mich verlaufen.“ So ganz stimmte das nicht. Sie wusste noch aus welcher Richtung sie gekommen war und kannte diesen Wald sehr gut. Elea hätte den Weg wahrscheinlich auch allein nach Hause gefunden. Wahrscheinlich. Aber sie hätte ihm doch nie die Wahrheit sagen können, warum sie nicht nach Hause konnte.
Zu Hause.
Kian seufzte. Er konnte sie nicht mehr so liegen lassen. Schon gar nicht, nachdem er ihr angeboten hatte, sie nach Hause zu begleiten. Das wusste Elea.
„Willst du mich dann nach Celebra begleiten?“, fragte er.
Elea senkte den Blick, um zu simulieren, dass sie überlegte. Eigentlich hatte sie sich schon entschieden, aber es wäre einfach zu auffällig, wenn sie sofort das Angebot eines fremden Mannes angenommen hätte. Und je länger Elea ihre Antwort künstlich hinauszögerte, desto mehr Zweifel kamen ihr in den Sinn. Auch wenn es wohl ein Zufall war, dass sie den Mann getroffen hatte, er könnte alles mögliche mit ihr auf dem Weg anstellen.
Aber warum hatte er, was auch immer, nicht machen können, als sie ohnmächtig war?
Oder jetzt?
Elea nickte. „Ja, ich begleite dich.“
Bei diesen Worten spürte sie einen Stich in ihrem Herzen. Es machte alles so wahr und wirklich. Sie dachte an ihre Schwester, die eigentlich eine unbesorgte Zeit vor ihrer Hochzeit verdient hatte. Jetzt machte sie sich wahrscheinlich unglaubliche Sorgen um ihre kleine Schwester. Genauso wie ihre Mutter und ihr Vater. Das hatten sie nicht verdient. Nicht mal annähernd.
Und Cassian… Würde nicht mal verstehen, dass ich erstmal für lange Zeit nicht mehr da sein werde.
Jetzt wo alles so wirklich wurde, schlich sich Angst in ihre Gedanken. Schreckliche Angst. Sie wollte sie nicht verlieren. Aus den Augen verlieren, vergessen, nie wieder sehen. Elea krallte ihre Nägel in die weiche, feuchte Erde des Ufers. Sie atmete tief ein und aus. Sie durfte jetzt nicht panisch werden. Nicht jetzt.
„Ist alles gut?“, fragte auf einmal eine männliche Stimme.
„Ja. Das müssen die Nachwirkungen der Ohnmacht sein,“ antwortete Elea Kian gefasst.
„Wir können auch noch die Nacht hier verbringen,“ bot er an.
Sehr zuvorkommend.
Doch im nächsten Moment dachte sie wieder an ihre Anfälle. An ihre Magie. Er durfte nichts davon mitbekommen. Niemals.
„Das geht schon. Lass uns gehen.“
Nachdem sie das gesagt hatte, drehte er sich um, um seine Sachen zusammenzusammeln. Da viel Elea auch ihre Ledertasche ein. Hektisch machte sie diese auf und zählte die Münzen.
Alle da…
„Kian?“
Kian drehte sich zu ihr, als er sich gerade zu seinem Rucksack geduckt hatte.
„Du bringst mich in die Stadt und dann trennen sich unsere Wege, richtig?“
Kian lachte. „Wie stellst du dir das vor? Du musst nach Hause kommen und ich hab dir Hilfe angeboten. Du wirst paar Tage bei mir hausen und dabei gucken wir weiter.“
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