Kapitel 3

Mit Grauen schaute sie auf die Stelle, wo Aurelian sie berührt hatte. Sie spürte ein leichtes Prickeln unter ihrer Haut, aber mehr nicht. Die umstehenden Leute schauten sie belustigt an. 

  „Elea, was hast du dem Jungspund denn offenbart?“, lachte der Holzfäller, ein bulliger und kräftiger Mann, dreckig. Die umstehenden Männer stimmten ein und dachten sich nichts weiter bei dem Vorfall. Sie drehten sich wieder um und unterhielten sich weiter ausgelassen. 

  Einen schrecklichen Moment lang hatte Elea gedacht, dass sie alles mitbekommen hätten oder Aurelians Schrei schlimmer deuteten. Doch dann atmete sie leicht auf. 

  Sie sind schon angeheitert. 

  Immer noch geschockt über das, was ihr gerade passiert war, stützte sie sich am Tisch ab. Das Prickeln unter ihrer Haut hatte nachgelassen. In die Leere starrend führte Elea nun ganz langsam ihre Hand zu ihrem Oberarm. 

  Doch nichts passierte, als sie ihre Haut berührte. Dies verwirrte sie nur noch mehr. Was war gerade bei Aurelian passiert? Wurde sie verrückt? 

  Und wenn es doch real war? 

  Sie fasste einen Entschluss. 

  Sie folgte der Richtung, in die Aurelian gelaufen war. Aber leise. Unauffällig. Schwer atmend und ihren Arm haltend, obwohl es keinen erkennbaren Nutzen hatte, lugte sie um die Ecke, hinter das Haus, hinter dem er verschwunden war. Sie sah ihn nicht. 

  „Und du willst mir erzählen, dass dieses Bauernmädchen eine Gesegnete ist?,“ fragte eine Stimme. Elea hielt den Atem an. Die Stimme kam von weiter vorne und gehörte einem jungen Mann. Wahrscheinlich standen sie hinter dem anderen Haus direkt vor dem, neben welchem Elea gerade stand. Sie versuchte, so leise wie möglich zu sein und alles mitzubekommen, was die zwei besprachen. 

  „Und wenn ich es dir doch sage! Du hast doch nie an meinen Worten gezweifelt!“ 

  Der Zweite lachte. „Durchaus, das hab ich nie. Aber weil es nie so absurd war! Diese Elea kann doch nichts weiter tun, als dich beim Äpfel kaufen abzuziehen.“ 

 „Gut,“ erwiderte Aurelian. „Und wie erklärst du dann das?“ Daraufhin folgte eine Stille. Eine Stille mit unglaublicher Anspannung. Nur die kleinen Feuer der Kerzen in paar Fenstern flackerten unberührt weiter. Aus Angst gehört zu werden, atmete Elea langsam und so kontrolliert wie möglich durch den Mund, da sie glaubte, es würde weniger Geräusche machen. Sie presste sich an die Wand des Hauses und wartete angespannt auf die Antwort des anderen. 

  Nach einer viel zu langen Pause fragte der junge Mann leise, kaum hörbar für Elea. „Das hat sie dir angetan?“ Darauf kam keine hörbare Antwort. 

  „Sag mal, bist du deines Verstandes beraubt worden?!,“ beschimpfte der eine Aurelian aufgebracht. „Warum bei Lunelia läufst du erstmal zu mir und nicht zu einem Heilkundigen?! Bist du noch zu retten!? Ich…“ 

  „Hör auf, so zu schreien! Willst du eine Panik im Dorf auslösen?,“ herrschte Aurelian ihn an. „Wir müssen das strategisch angehen. Wir müssen sie irgendwie loswerden. Sie ist eine Gefahr für alle im Dorf!“ 

  „Also willst du sie dann irgendwo anders hinschicken, wo sie anderen weiter etwas antun könnte?,“ fragte sein Freund skeptisch. 

  „Daran hab ich schon gedacht. Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, harte Maßnahmen zu ergreifen.“ 

  „Du meinst doch nicht etwa…“ 

  „Doch. Ich habe da keine Skrupel,“ sagte Aurelian todernst. 

  Wieder eine Pause. 

  „Und wenn du eine Unschuldige töt…“ 

  „Wie kann sie unschuldig sein, bei dem, was sie mit mir gemacht hat, sag mir das!“ 

  Elea schlug sich die Hand vor dem Mund und unterdrückte ein Schluchzen. Ihre Knie wurden gefährlich weich und sie versuchte Halt an der hölzernen Wand des Hauses zu finden. 

  Er wird mich töten wollen. 

  Es kam so unerwartet, dass der gleiche Mann, der sie vor paar Minuten noch heiraten wollte, jetzt mit dem Gedanken spielte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Es war so irreal. So lächerlich. Dabei wusste sie selber nicht, was mit ihr passiert war. Was sie ist. Was sie sein wird.

  Er ist doch völlig verrückt. 

  „Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie so gefährlich ist,“ sagte nun Aurelian. „Du hättest ihren Gesichtsausdruck dabei sehen müssen. Kalt. Stolz. Emotionslos. Zornig. Sie wusste genau, was sie tut.“

  Nein. Wusste ich nicht. 

  Voller Verzweiflung rannen ihr nun heiße Tränen die Wangen herunter. Ihr Gesicht verzog sich und ihre Nase begann zu triefen. 

  „Und du bist dir sicher, dass das die richtige Entscheidung ist?“ 

  „Sebastian,“ begann Aurelian, „sei ein Mann und erfülle deine Pflicht, das Dorf zu beschützen! Nein, nicht nur das Dorf, Amanien! Eines weniger von diesen Wesen und wir haben diese Welt ein Stück sicherer gemacht!“ 

  „Und du übertreibst da nicht etwas?,“ fragte Sebastian belustigt. Dann war ein Klatschen zu hören. Als hätte eine Hand auf Haut getroffen. 

  „Hast du sie noch alle?!,“ schrie Sebastian. 

  „Reiß dich endlich zusammen! Hilf mir, oder ich mache dich dafür verantwortlich, dass wir sie nicht vernichten konnten!“ 

  Sebastian antwortete nicht sofort. Doch dann hörte Elea wie er sagte: „Gut.“ Als hätte er aus zusammengebissenen Zähnen gesprochen. „Aber sollte das ein Fehler gewesen sein, ist das alles deine Schuld.“ 

  „Keine Sorge. Das wird es nicht.“ 

  Nachdem er das sagte, waren Schritte zu hören. Elea schreckte hoch und verließ leise und schnellstmöglich die Gasse. Sie wischte schnell die Tränen von ihren Wangen, bevor jemand fragen konnte, was denn passiert war. Sie musste Marga finden. 

  Sie rannte durch die Menge, Männer mit Bechern in der Hand, Frauen, die sich lachend unterhielten, Kinder, die unbekümmert ihre Spiele spielten. Und keiner von ihnen beachtete sie. Frustriert, dass sie Marga nicht schnell genug fand, stiegen die Tränen wieder in ihre Augen, die sie aber auch wieder hektisch abwischte. 

  Doch dann entdeckte sie das bekannte Gesicht. 

  „Marga!,“ rief sie unter Tränen. Marga hatte sich gerade lachend mit einer anderen Frau unterhalten. Doch Elea beachtete diese nicht weiter. Sie rannte weiter auf die Freundin ihrer Mutter zu. Marga blickte zu Elea, nachdem sie gerufen hatte, und ihr Lächeln verschwand schlagartig, als hätte man es ihr aus dem Gesicht gewischt, und anstatt dessen breitete sich große Sorge aus. Sie drehte sich nochmal kurz zu der Frau, die irritiert schien, und sprach anscheinend eine Entschuldigung, denn sie rannte danach direkt Elea entgegen. 

  „Marga, sie wollen mich töten,“ schluchzte Elea, als sie bei ihr endlich angekommen war. „Marga, sie haben darüber gesprochen, mich zu töten!,“ sagte sie und weinte unaufhörlich weiter. 

  „Was? Kind, wer will dich töten?,“ fragte Marga drängend und entsetzt. Sie schaute sich um. Einige Dorfbewohner schauten fragend und misstrauisch in ihre Richtung. 

  „Komm, Elea, wir müssen hier weg.“

  Daraufhin zog Marga Elea vom Dorfplatz zu einem Haus ganz in der Nähe. Sie öffnete die Tür, schaute sich nochmal kurz um und zog Elea denn hinein. Die Tür knallte zu, eine Kerze wurde angezündet und Marga kam auf Elea zu, die schwer und unregelmäßig atmend im Raum stand. Die Tränen glitzerten noch auf ihren Wangen und in den Augen. In einem Raum mit einer anderen Person fühlte sich Elea ein bisschen sicherer und sie versuchte, sich zu ein wenig zu beruhigen. 

  „Elea,“ setzte Marga an, „wer will dich töten?“ Die legte ihre Hände auf Eleas Schultern. 

  „Au… Aurelian und Sebastian,“ stotterte sie. 

  „Der Bäckers- und der Schmiedejunge?“ Leicht ungläubig schaute Marga sie an. „Warum?“ 

  „Ich… Ich weiß es doch auch nicht!,“ erwiderte Elea lauter als sie wollte. Die Verzweiflung packte sie und sie weinte wieder. 

  „Kind, irgendwas muss doch vorgefallen sein!“

  Elea versuchte tief ein- und auszuatmen. Zwischen den vielen Schluchzern klappte es nicht ganz, aber sie beruhigte sich wieder etwas. Sie antwortete: „Marga, ich habe Aurelians Hand verbrannt. Und ich weiß nicht wie.“ Ihr Verzweiflung war deutlich zu hören. Die Tränen brannten auf ihren Wangen. Aber das merkte Elea nicht. 

  Der leicht verwirrte Ausdruck wich von Margas Gesicht und schockiert starrte sie in Eleas Augen. 

  „Magie.“ 

  „Bitte hilf mir,“ wimmerte Elea. 

  Marga presste die Lippen aufeinander, nahm die Hände von Eleas Schultern und hastete zu einem kleinen Schränkchen zu ihrer Linken. Mit leicht zittrigen, schnellen Bewegungen durchwühlte sie es. Dann holte sie ein Glas heraus. Sie öffnete es und griff nach den getrockneten Blättern. 

  Elfenblatt. Meist zu finden in sonnigen Gegenden und Stellen. Ovale Blätter mit Spitze. Durchschnittlich einen Finger lang… 

  Während Elea versuchte, sich auf was anderes zu konzentrieren ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen, versiegelte Marga das Gefäß wieder und ging zu ihr. 

  „Kau die,“ befahl Marga ruhig. 

  Mit zittrigen Fingern griff Elea nach dem Elfenblatt, führte es zu ihrem Mund und kaute. Es schmeckte würzig, leicht salzig und scharf. Doch als sie das erste Mal schluckte, fühlte sie sich anders. Ihr Magen fühlte sich so an, als würde eine angenehme Wärme aus ihm kommen. Als hätte sie gerade etwas Warmes gegessen. Ihre Sicht verschwamm. Vor ihren Augen tauchte sich alles in lila Licht. Ihre Knie gaben nach und sie sackte zusammen. Und nun kam wieder dieser verhasste Druck von allen Seiten. Wie im Wald. Wie an dieser Stelle, als sie die leuchtende Kugel berührte. Elea versuchte sich dagegen zu wehren, doch dann schrie sie. Schmerzen. Unerträgliche Schmerzen. Unbeschreibliche Schmerzen. 

  Und Stimmen. 

  Sie kamen von allen Seiten, flüstern, schreien, lachen, flehen. Es waren Hunderte. Tausende. 

  „Bitte hilf mir…“ 

  „Oh Götter, steht mir bei…“ 

  „Ich flehe dich an, erlöse mich!“ 

  „Ich weiß, du musst sehr beschäftigt sein, aber…“ 

  „Aufhören! Geht weg! GEHT WEG!,“ schrie sie niemanden bestimmten an. Sie wusste nicht, woher die Stimmen kamen oder wem sie gehörten. Sie wollte es nicht mehr ertragen. Sie wandte sich auf dem Boden, grub ihre Nägel in ihre Arme, um von den Schmerzen abzulenken. Es waren so viele und trotzdem nahm Elea jede einzelne Stimme wahr. Es waren intime Dinge. Berührende Dinge. Aber vor allem waren es traurige und grausame Dinge. 

  „MARGA!“ Sie erhoffte sich so sehr die Hilfe der Frau, aber die kam nicht. Sie ließ sie allein in diesem Martyrium. Mit tausenden fremden Stimmen, die auf sie einredeten. 

  Sie hatte das Zeitgefühl schon völlig verloren und wusste deswegen nicht, wann es endlich aufgehört hatte. Waren es Stunden gewesen? Sekunden? 

  Als sie, noch im Schock, versuchte, sich aufzurichten, bemerkte sie, dass Marga direkt neben ihr kniete, mit den Händen vor dem Mund geschlagen. Und sie bemerkte, dass sie selbst geweint haben musste. 

  Schon wieder. 

  „Elea, du musst sofort hier weg,“ meinte Marga noch mit den Händen vor dem Mund. 

  „Marga…,“ versuchte Elea anzufangen, aber sie verzog in Schmerzen das Gesicht. Ihre Kehle war so wund, dass das Sprechen allein schon eine Qual war. Die Schmerzen ihres restlichen Körpers aber waren komplett verschwunden. 

  „Ich weiß,“ sagte Marga und legte zärtlich eine Hand auf ihre Wange. Eine einzelne Träne rann aus ihrem Auge und bahnte sich ihren Weg von der Wange zu ihrem Kiefer, bis sie auf das weiße Kleid tropfte und einen kleinen dunkleren Fleck zurückließ. Es kam Elea wie eine Ewigkeit vor. 

  „Die Macht, die du in dir trägst, ist groß, Elea. Zu groß und zu unvorhersehbar für einen Menschen. Du musst sie loswerden. Sonst wird sie dich von innen heraus zerstören.“ Ihre Miene verzog sich nicht, aber weitere Tränen rannen ihr Gesicht entlang. 

  „Du bist keine Gesegnete. Deine Familie hat seit Generationen keine magischen Kräfte gehabt. Du hast es nicht geerbt. Dir wurde es übergeben. Anders kann ich mir das nicht erklären.“ 

  Gebannt hörte Elea Marga zu. Je mehr sie hörte, desto mehr Sinn ergab das alles für sie. 

  Die Kugel… Es war Magie gewesen. 

  „Finde Lunelia. Sie ist die einzige, die dir helfen kann.“

  Was?! 

  „Aber… wo?,“ fragte Elea. Trotz der Schmerzen musste sie diese Frage stellen. Wo suchte man eine Göttin? 

  Schmerzlich lächelte Marga sie an. „Geh nach Süden und suche den Göttertempel. Die Wesen dort werden dir helfen.“ Sie konnte sich nicht mehr halten und die Tränen liefen ihr nur so über das Gesicht. Sie nahm die Hand von Eleas Gesicht und zog sie an sich. „Ich liebe dich, mein Spatz. Genauso tun dies deine Eltern und deine Geschwister. Vergiss das nicht.“ 

  Elea war am Boden zerstört. Sie war zu schockiert, um zu weinen. Ihre Augen waren die ganze Zeit nur geweitet und sagten regelrecht, dass dies nicht real sein konnte. Sie krallte sich in die Ärmel des Kleides und wollte nie wieder loslassen. Sie hatte Marga noch nie so traurig und ernst gesehen. Sie wollte nicht weglaufen… Sie wollte nicht… 

  „Aurelian kann dir jetzt sehr gefährlich werden. Es gibt genug Geschichten, in denen Unschuldige von bösartigen und verblendeten Wesen hingerichtet wurden. Du kannst hier nicht bleiben,“ sagte Marga. Vielleicht um Elea zu überreden, den Schritt zu wagen. Vielleicht aber auch, um sich selbst dazu zu bewegen, sie loszulassen. Sie löste die Umarmung behutsam und gab Elea einen letzten Kuss auf die Stirn. „Möge Lunelia mit dir sein, mein Kind.“ Marga schenkte ihr noch ein Lächeln, auch wenn es gebrochen und verzerrt aussah. Elea schüttelte nur den Kopf, ihren Augen sah man an, dass sie darum flehte, nicht weggeschickt zu werden. 

  „Mach es uns nicht zu schwer,“ bat nun Marga flüsternd. Sie stand auf und ging zum Tisch, der mitten im Raum stand. Sie nahm sich eine kleine lederne Umhängetasche und Messer und legte dieses in die Tasche. Sie ging wieder auf Elea zu und sagte: „Nimm das. Das wirst du brauchen.“ 

  Elea schluckte. Es tat weh. Sie nahm die Tasche an sich und ergriff die ihr hingestreckte Hand von Marga, um sich hochzuziehen. 

  „Komm,“ befahl Marga leise und zog sie sanft mit sich. Elea sträubte sich immer noch innerlich. Aber alles andere wäre Selbstmord. Das wusste sie nun genau. Schmerzlich folgte sie Marga. Diese führte sie zu einer kleinen Hintertür in Richtung des dunklen Waldes. Marga öffnete sie vorsichtig. Es knarzte leicht. 

  „Marga, mach die Tür auf!,“ rief plötzlich eine männliche Stimme von der anderen Seite des Hauses. „Ich muss dringend mit dir sprechen. Es geht um Elea!“ 

  Aurelian. 

  Angst machte sich in Elea breit. Ihr Herz schlug schneller. 

  „Marga! Ich weiß doch, dass du hier bist! Was soll der Mist?“ 

  „Beeil dich!,“ flüsterte Marga Elea zu und drückte sie in Richtung der Tür. „Ich kümmere mich darum und um deine Familie. Du musst jetzt los!“ 

  Sie standen draußen. Die Luft war kühl, es roch leicht nach Feuer und Wein. 

  „Ich komme jetzt rein!,“ rief die Stimme von draußen. Die Tür wurde aufgestoßen. 

  „Los!,“ drängte Marga Elea verzweifelt. Diese drehte sich nur noch kurz um und warf Marga einen angsterfüllten Blick zu. Doch dann rannte sie los. So schnell wie sie noch nie gerannt war. Sie rannte mitten in den Wald und hatte nur ein Messer und einen Lederbeutel dabei. Auf der unmöglichen Suche nach einer Göttin. 

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