Zwischen den Sphingen
Nur damit hier keine Fragen aufkommen: Sphingen ist der korrekte Plural von Sphinx. Und falls euch im Text das Wort Pylon auffällt und fremd erscheint, dann könnt ihr es getrost als altertümliche Toranlage mit zwei flankierenden Türmen übersetzen. Solche Pylone markieren meistens den Eingang oder Durchgang zu einer Tempelanlage.
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Jisungs Pov:
Der heutige Tag war sowohl ein Tag der Freude und der Liebe als auch der Trauer und des Abschieds. Je nachdem, welche Seite der Münze man betrachtete, oder besser gesagt, wen aus dem Palast man zu diesem Zeitpunkt befragte.
Sunghoon und Jungwon würden sicher mit Überzeugung dafür stimmen, dass dieser Tag einer der schönsten ihres Lebens sein würde. Ebenso dachten hoffentlich Sunoo und Niki, die beide mit einem bezaubernden Lächeln neben ihren zukünftigen Ehemännern herliefen und Minhos und mein schweres Herz hoffentlich nicht bemerkten.
In diesem Sinne war es gut, dass wir momentan vor den beiden frischverlobten Paaren auf den großen Tempel zuliefen, um die glückliche Vereinigung der beiden Seelen vor den Göttern zu bezeugen und damit zu stärken.
Wir hatten in den letzten zwei Wochen alles dafür getan, die erblühenden Beziehungen zwischen den Paaren zu unterstützen und dabei sicherzustellen, dass die bevorstehenden Eheschließungen der richtige Weg für alle Beteiligten sein würden. Minho hatte sich selbstverständlich die Zeit genommen und sich von den wachsenden Gefühlen seiner beiden langjährigen Schützlinge überzeugt, indem er mit ihnen sprach sowie Sunghoon und Jungwon ins Kreuzverhör nahm. Gemeinsam hatten wir mit Sunoo und Niki Spaziergänge unternommen, sie alleine zu ihren Empfindungen befragt und von ihnen ehrliche Antworten erbeten, die es uns ermöglichen sollten, ihre endgültige Wahl mit bestem Gewissen zu unterstützen. Minho hatte mich außerdem fast täglich zu den Fortschritten des Geschehens befragt und veranlasste zusätzliche Gastmähler und gemütliche Abende bei Wein und Gesang, um auch die beiden neuen Verbindungen in Gesellschaft zu erproben.
Das Vertrauen, das Minho damit in mich setzte, beflügelte mich zusätzlich und lenkte mich von den eigenartigen Vorkommnissen und meinen gesundheitlichen Problemen der letzten Wochen ab. Beinahe kam sowas wie eine angenehme Routine zustande, die mir aufzeigte, welche außergewöhnlichen Aufgaben ich als königlicher Gemahl übernehmen musste und wie ich mit diesen Erwartungen an mich auch über mich selbst hinauswuchs. Und da sich mein Blickwinkel und meine Ansprüche an eine gesunde Beziehung deutlich von den Vorstellungen des Altertums unterschieden, bemühte ich mich sehr, nicht nur mit meinem Gemahl zu kommunizieren, was ich als angemessenes Verhalten akzeptieren konnte.
Allerdings schien Minho davon überzeugt zu sein, dass er meinem Urteil vertrauen und ausnahmslos auf meine Ratschläge hören konnte. Denn er hatte sofort meine Meinung eingefordert, als Sunghoon und Jungwon kurz nacheinander darum gebeten hatten, Sunoo und Niki heiraten zu dürfen. Beide Male hatte ich gründlich über meine Antwort nachgedacht und schlussendlich für beide Verlobungen mit Ja gestimmt und genauso hatte auch mein Gemahl entschieden. Es hatte ihn kein bisschen gestört, zuzugeben, dass er mich und meinen Standpunkt dabei berücksichtigte. Es zeigte nur erneut, wie sehr wir mittlerweile in unserer Rolle als Herrscherpaar gewachsen waren und dass wir gemeinsam alles erreichen konnten, wenn wir nur einander vertrauten.
Der heutige Besuch des Tempels hatte jedoch noch einen weiteren, viel strategischeren Grund. Wir waren nämlich nicht wie üblich zum Bezirk des Amun-Tempels gereist, sondern ganz bewusst zum äußeren Tempelbezirk nach Karnak. Minho und ich zeigten uns also gerade repräsentativ der Öffentlichkeit, ließen diese mitverfolgen, wie wir mit den Sänften in Karnak ankamen und wie uns die Priester dort in Empfang nahmen.
Unter dem Vorwand, die beiden kurz bevorstehenden Vermählungen von hochrangigen Adelsmitgliedern durch die Götter segnen zu lassen, würde es uns möglich sein, den etwa drei Kilometer von Thebens Stadtmauern entfernten Karnaktempel näher in Augenschein zu nehmen. Die Aufmerksamkeit der Priester und auch der übrigen Personen würde auf Sunoo, Niki und den beiden Fürsten ruhen. Währenddessen würden Minho, Felix, Changbin und ich hoffentlich Zeit dafür haben, uns gründlicher im Karnaktempel umzusehen und möglicherweise den lang gehegten Verdacht gegen die Priestergesellschaft zu bestätigen.
Mit einem kaum spürbaren Ruck wurde die Sänfte, in der Minho und ich gereist waren, jetzt abgesetzt. Sogleich kletterte Minho hinaus und streckte mir dann seine Hand entgegen. Ich richtete rasch die lockeren Stoffbahnen, die meinen Körper umschmeichelten, und ließ mir dann aus der Sänfte helfen. Mit einem, wie mir schien, minimalen Kraftaufwand zog Minho mich an sich und mein Blick fiel sofort auf sein wunderschönes Antlitz. Wieder einmal musste ich feststellen, wie außerordentlich hübsch und elegant mein Gemahl doch aussah. Vermutlich hätte ich ihn noch viel länger angestarrt, hätte er mich nicht mit einem liebevollen Händedruck daran erinnert, dass mich jeder beim Starren beobachten konnte.
Hastig trat ich einen kleinen Schritt zurück und sah mich flüchtig um. Niki und Sunoo standen dicht neben Sunghoon und Jungwon. Alle vier waren in besonders prächtige Kleidung gehüllt und der eine wirkte glücklicher als der andere über die bevorstehenden Feierlichkeiten.
Jedoch würde keine der beiden Vermählungen in Theben stattfinden, sondern in den jeweiligen Heimatstädten von Sunghoon und Jungwon. Sowohl Minho als auch Felix hielten dies für sicherer und schließlich hatte ich mich damit abgefunden. Ich wollte Niki und Sunoo nicht verlieren, aber ihre Freude und ihr Wohlergehen waren mir wichtiger. Und da sie tatsächlich glücklich wirkten, wenn sie mit ihren Fürsten zusammen waren, konnte ich das akzeptieren. Vermutlich würde es beiden guttun, Theben zu verlassen und nicht mehr ständig an Seungmins Tod denken zu müssen. Hinzu kam, dass ihre zukünftigen Wohnorte nicht weit voneinander entfernt waren und sich die beiden häufig besuchen konnten. Sie hatten die besten Voraussetzungen, um wirklich glücklich zu werden, und ich gönnte ihnen jeden Augenblick dieses Glücks.
Bereits morgen würden Sunoo und Sunghoon abreisen, während Niki und Jungwon noch einige Tage bleiben wollten. Deshalb war es umso wichtiger, diesen Tag dafür zu nutzen, den Göttern im Tempel ein Opfer darzubringen und deren Zustimmung zu den zwei Eheschließungen einzuholen. Außerdem zeigte die Anwesenheit des Pharaos bei den Ritualen, wie ernst ihm seine Freundschaft zu den beiden Fürsten war und welches Vertrauen er in sie setzte. Jeder würde danach bezeugen können, dass Minhos Großherzigkeit und Ehre selbst vor den Göttern Bestand hatten.
Deshalb schritt ich nun hoch erhobenen Hauptes neben Minho und vor den verlobten Pärchen in Richtung des großen Säulensaals, der das Herzstück des Karnaktempels bildete. Auf beiden Seiten des Weges, den wir entlangschritten, standen in regelmäßigen Abständen kleine Sphingen, die all die imposanten Bauwerke vor jedem Entlanggehenden zu bewachen schienen. Je weiter wir uns dem hiesigen Tempel des Amun-Re näherten, desto prachtvoller und einschüchternder wurden die kunstvoll errichteten Tempelanlagen. Schließlich erreichten wir den Vorplatz zum Säulensaal, der von zwei riesigen Statuen von Ramses dem Zweiten und einem noch größeren Obelisken ergänzt wurde.
Entschlossen drückte ich Minhos Hand nun etwas fester, als ich die Reihe der Priester und Novizen entlanglief und ganz vorn im Schatten des Haupteingangs zum Karnaktempel Seungmins Vater erblickte. Der Hohepriester dieses Tempelbezirkes hatte noch immer einen kahlrasierten Schädel - so wie es die meisten Priester zu halten pflegten. Seine Robe stach deutlich unter den anderen hervor, mit ihrer auffällig rein weißen Farbe war sie definitiv gewagt. Aber das, was wirklich auffiel, waren seine kalten, harten Augen, die insbesondere Minho und mich zu fixieren schienen. Und obwohl der Tag mild und sonnig war, fröstelte ich und suchte die Nähe meines Gemahls, der mein Unwohlsein sofort bemerkte. Als er dann ebenfalls die Quelle für meine Unruhe erblickte, stieß er ein leises Knurren aus.
„Alles ist gut, Kätzchen. Er wird dir nicht zu nahe kommen. Schon gar nicht, wenn ich nicht anwesend bin."
Ich atmete erleichtert aus und hielt mich dennoch weiter an Minhos Arm fest. „Bleib trotzdem in meiner Nähe. Ich habe kein gutes Gefühl bei ihm..."
Minho nickte und warf einen raschen Seitenblick zu Felix und Changbin, die wie zwei Schatten unseren zügigen Schritten folgten.
„Keine Sorge, Jisung", beschwichtigte mich Minho erneut und ich versuchte, mich selbst zu beruhigen, indem ich einen tiefen Atemzug nahm und dann die zwei Stufen hinauf zum Haupteingang erklomm. Der Karnak-Tempel unterschied sich auch deutlich in seiner Größe vom Amun-Re-Tempel in Theben. Und das, obwohl die beiden Haupttempel durch die breite Allee mit den bereits erwähnten Sphingen miteinander verbunden waren. In Karnak fanden sich jedoch besonders prunkvolle Obelisken, mehrere hohe Pylonen und gigantische Tempelareale aus massivem Stein. Alles in allem war Karnak beeindruckender und prächtiger als Thebens Tempelbezirk, was vermutlich auch an dem Hohepriester selbst lag. Diesem traute ich durchaus zu, genug von den Götteropfern und Geschenkabgaben in seine eigene Tasche zu wirtschaften.
Aber sobald ich nun in den Schatten der massiven Kalksteinmauern trat, erinnerte mich die rauchgeschwängerte Luft wieder daran, dass die zwei Tempel im Grunde doch gleich waren und sogar dieselben Götter angebetet wurden.
Jedenfalls beachtete ich Seungmins Vater nicht, als ich an ihm vorüberschritt. Vor allem, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr mich seine Anwesenheit verunsicherte und wie schmerzlich mich das an Seungmin erinnerte. Ich betrat das Halbdunkel des großen Säulensaals und unterdrückte ein aufsteigendes Husten, da es durch die verbrannten Kräuter sofort im Hals kratzte. Felix und Changbin verschmolzen sogleich förmlich mit der Dunkelheit und ich fragte mich, ob sie mehr in der Finsternis sahen als ich. Ich hoffte es sehr. Immerhin musste ich darauf vertrauen, dass sie im Falle eines Angriffs sofort reagierten. Etwas angespannt tastete ich nach der spitzen Gewandnadel, die mir Felix zur Hochzeit geschenkt hatte, und stellte erleichtert fest, dass sie an ihrem Platz ruhte.
„Es wird dir hier nichts passieren", murmelte Minho, streichelte meine Hand und betrat dann mit mir den zentralen Raum, in dem eine überlebensgroße Statue des Gottes Amun-Re auf einem leicht erhöhten Sockel ruhte. Auf dem Sockel lagen schon unzählige Opfergaben und das Abbild des Gottes selbst war in prächtige Gewänder gehüllt. Andächtig trat ich mit Minho direkt vor die Statue und ließ mich dann auf den Boden sinken, um dem Gott meinen Respekt zu zollen. Noch immer war ich ganz und gar nicht überzeugt von dessen Existenz, doch die Gebräuche verlangten dieses ehrerbietige Verhalten und Minho zuliebe tat ich, was das Protokoll verlangte. Ich legte meine Hände flach auf den kühlen Stein und drückte dann kurz die Stirn zwischen meinen Händen auf den Boden, bevor ich mich in eine kniende Position begab und die Priester und deren Novizen mehr Räucherwerk anbrannten, um unsere Gebete mit Gesang und reinigenden Ritualen begleiten zu können.
Das Atmen wurde dadurch leider nur noch schwerer, während ich fast unbeweglich dahockte und versuchte, meine Gedanken in eine unverfängliche Richtung zu lenken. Würde ich an die göttliche Kraft und Hilfe glauben, würde ich nun, wie die anderen Anwesenden, darum bitten, dass Sunoo und Niki in ihrer Ehe sehr glücklich leben würden und Wohlstand und Ansehen ihr ständiger Begleiter sein sollten. Und da ich die Zeit ohnehin hier verbringen musste, konnte ich genauso gut ein kurzes Gebet mitschicken. Ich schloss also die Augen, was auch dem zudringlichen Rauch auf der Netzhaut entgegenwirkte, und bat welche Macht auch immer darum, dass Niki und Sunoo ein wunderschönes und langes Leben führen würden und genauso viel Glück mit ihren Ehemännern haben sollten wie ich mit meinem.
Nachdem sicher eine halbe Stunde vergangen war und die Klänge des Gesangs noch immer nicht verstummt waren, warf ich einen flüchtigen Blick hinüber zu Minho, der meine Aufmerksamkeit offenbar spürte, denn er lehnte sich leicht in meine Richtung und flüsterte kaum hörbar: „Da wir schon einmal hier sind, werde ich Amun auch um Schutz und Gesundheit für unser Kind bitten."
Nun wandte ich ihm abrupt meinen Kopf zu und starrte ihn von der Seite an, so als müsste ich erst begreifen, was er gerade gesagt hatte. Ich blinzelte mehrmals und eigentlich hätte ich gern erwidert, dass er endlich zu Vernunft kommen sollte, doch mein Hals fühlte sich trocken an und die Luft in diesem Raum war mittlerweile zum Schneiden dick. Also hielt ich meinen Mund geschlossen und nickte dann ganz leicht, um zu signalisieren, dass ich ihn verstanden hatte. Anschließend wandte ich mich wieder der Götterfigur zu, betrachtete ihre vergoldete Gestalt und versuchte, so flach wie möglich zu atmen.
Bald jedoch stellte ich fest, dass das Warten zu einer Qual werden könnte, denn allmählich wurde mir schummrig und ein oder zweimal bildete ich mir dank der Rauchschwaden sogar ein, die Statue würde sich langsam zum Gesang bewegen.
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