Wieder vereint

Triggerwarnungen für dieses Kapitel: Krankenhaus, Ärzte, Trauer, seelischer Schmerz

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Jisungs Pov:

„Jisung? Darf ich dich fragen, wo du die ganze Zeit warst?"

Seonghwas Stimme war ruhig und behutsam. So als wollte er mich keinesfalls aufregen oder zurück in meine schlimmsten Alpträume versetzen.

Ich wandte mich ihm zu, blinzelte und wusste nicht, was ich erwidern sollte. Doch dann wurde mir überdeutlich bewusst, dass Yeosang und gewissermaßen auch Seonghwa meinetwegen genug durchlitten hatten und sie es nicht verdienten, auch nur eine Lüge aus meinem Mund zu hören.

Suchend tastete ich nach Yeosangs Hand, um zumindest etwas seelische Unterstützung bei der folgenden Erzählung zu bekommen.

„Ihr konntet mich nicht in dieser Grabkammer finden, weil-weil ich in der Zeit gereist bin und im antiken Ägypten vor etwa 3500 Jahren gelandet bin."

Von Yeosang kam zunächst nur ein scharfes Lufteinsaugen, dann deutete er beinahe anklagend auf Seonghwa und sagte empört: „Ich habe es dir doch gesagt. Ich wusste es... Und du wolltest mir nicht glauben."

Seonghwa, der mit diesem Gefühlsausbruch wohl nicht gerechnet hatte, hob abwehrend die Hände. „Hey, zu meiner Verteidigung, das klingt auch immer noch absurd. Aber wenn du das selbst sagst, Jisung." Er unterbrach seine Rede, strich sich fahrig durch die Haare und seufzte abgrundtief: „Wie soll man das irgendwem begreiflich machen?"

Doch Yeosang kümmerte sich nicht um diese Frage, die vermutlich ohnehin nicht zu beantworten war, stattdessen wandte er sich an mich und bekräftigte mit glänzend geweiteten Augen. „Ich wusste es. Es gab keine andere Möglichkeit mehr und auf dem Sarkophag, in dem wir den Edelstein gefunden haben, stand dein Name. Ich habe ihn gründlich untersucht, auch wenn ich mich dabei mit dem gesamten Forschungsteam anlegen musste. Ich habe mich sogar selbst hineingelegt, aber es ist nichts passiert."

„Das stimmt. Nachdem ich Yeosang berichtet habe, dass die Polizei eine Blutspur von dir im Sarkophag gefunden hat, wollte er unbedingt versuchen, den Tathergang genau zu rekonstruieren. Zunächst war das Grabungsteam dagegen, aber auch sie haben eingesehen, dass Yeosang keine unmoralischen Absichten mit seinen Nachforschungen hatte, sondern er dich finden wollte. Aber das hat uns nur bis zu dem Sarkophag mit deinem Namen geführt, in dem zwei Lapislazuli lagen."

Bei der Erwähnung der beiden Edelsteine und somit meines Lapislazuli sah ich hoffnungsvoll auf.

„Die Anhänger, hast du sie noch, Yeosang?"

Dessen Augen funkelten plötzlich liebevoll und doch ebenso stolz. Er wusste, was mir mein Schmuckstück bedeutete, und deshalb musste ich nicht lange auf die Antwort warten.

„Natürlich, Sungie. Ich habe sie diesem Polizisten hier zwei Tage nach deinem Verschwinden abgeschwatzt und seitdem-" Er stockte und fügte leiser hinzu: „Seitdem trage ich sie beide." Rasch griff er nach dem Halsausschnitt seines Pullovers und zog diesen etwas nach unten, sodass ich sein Shirt sehen konnte und die zwei blauen Edelsteine, die an den Lederbändern um seinen Hals lagen. Ohne zu zögern streifte sich Yeosang nun beide Anhänger über den Kopf und hielt sie mir entgegen. „Ich habe sie für dich aufbewahrt. Ich habe gehofft, dass ich sie dir eines Tages zurückgeben kann, und dieser Gedanke hat mich getröstet."

Zaghaft streckte ich meine Finger nach den sattblauen Steinen aus und mein Herzschlag beschleunigte sich. Das letzte Mal, als ich beide Lapislazuli gleichzeitig berührt hatte, war ich kurz darauf in einem anderen Zeitalter aufgewacht.

Ob mich die beiden Edelsteine erneut in die Vergangenheit schicken werden? Bekomme ich eine zweite Chance, meine Fehler wiedergutzumachen?

Einen Wimpernschlag lang klammerte ich mich so sehr an diese Hoffnung, dass ich meine Augen fest zusammenpresste und dann die letzten Millimeter überbrückte.

Behutsam schloss ich meine Finger um die warmen, schweren Steine und wartete auf ein Zeichen. Als daraufhin jedoch nichts geschah, stieß ich enttäuscht die angehaltene Atemluft aus und biss mir dann kräftig auf die Unterlippe, um sie vom Zittern abzuhalten.

Yeosang ließ die Lederbänder los und die Lapislazuli glitten von meinen Fingern hinab in meine Handinnenfläche, wo ich sie gründlich musterte. Es war schon fast unheimlich, aber sobald ich sie nur hielt und ansah, beruhigte sich mein Innerstes ein wenig. Langsam streifte ich mir nun eine der Ketten über, zögerte bei der zweiten, tat dann aber das Gleiche mit dieser und schloss kurz die Augen, um die Linderung meiner seelischen Schmerzen zu genießen. Logisch betrachtet konnten die Lapislazuli mir nichts von alledem zurückgeben, was ich in den letzten Tagen verloren hatte, dennoch verspürte ich Wärme und Trost. Als würde eine zarte Hand meine Wange streicheln und mir versichern, dass alles gut werden würde.

„Jisung?", fragte Yeosang leise und betrachtete mich nachdenklich, während ich noch auf die Edelsteine fixiert war.

Ich hob träge den Kopf, richtete meinen Blick auf ihn und stieß ein ebenso fragendes „Hmm" aus.

„Was ist dir in der Vergangenheit widerfahren? Wo genau bist du gelandet?"

Mit einem bedauernden Seufzen und deutlich schwererem Herzen ließ ich die zwei Ketten an meine Brust sinken und ordnete meine Gedanken.

„Das Rätsel, das wir gefunden haben. Wir hatten recht. Es handelte von den beiden Brüdern und in deren Zeit bin ich auch gelandet. Ich- wir haben durch das Rätsel die Grabkammer des älteren Bruders gefunden... es ging schon immer um ihn." Ein trauriges Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als ich daran dachte, wie ich Minho kennengelernt hatte. „Nach meiner Zeitreise bin ich in Lee Minhos Grab aufgewacht und–"

„Weshalb bist du dir so sicher, dass es sein Grab war? Immerhin stand auf dem Sarkophag dein Name und nicht seiner." Yeosang sprach damit den Aspekt an, der mich schon vorhin bei seiner Erklärung stutzig gemacht hatte, aber diese Ungereimtheit konnte ich momentan nicht beantworten.

„Nachdem mich einige Arbeiter gefunden hatten, wurde ich vor den Pharao geführt und dieser hat mir bestätigt, dass dieses Grab sein eigenes werden sollte." Meine Stimme brach bei dem letzten Wort, weil es letztendlich viel zu früh dazu gekommen war. Aber ich hielt einen neuen Gefühlsausbruch zurück, indem ich meine Geschichte weitererzählte: „Am Anfang war es alles andere als leicht, mich in der Vergangenheit zurechtzufinden. Ich dachte, man würde mich sehr schnell entlarven oder mich früher oder später umbringen. Aber stattdessen nahm mich der Pharao in seinen Harem auf."

Das war der Punkt, an dem Yeosang tief Luft holte und selbst Seonghwa einen ungläubigen Laut von sich gab.

„Ernsthaft? Ein Harem? Wieso hat er das getan?"

Mein folgendes Lachen klang sicher etwas bitter und ich zuckte die Schultern. „Er fand mich attraktiv und hatte, laut seiner eigenen Aussage, vom ersten Augenblick an eine Schwäche für mich und meine vorlaute Art."

Yeosang hob die Augenbraue und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. „Na super, ein horny Pharao wollte dich also nicht nur in seinem Palast einsperren, sondern dich auch noch in sein Bett bekommen. Ich hoffe, du hast ihm ordentlich in den Allerwertesten getreten, wenn er dich dumm angemacht hat. Natürlich gleich nach dem Vortrag über Consent und Gleichberechtigung." Er blickte kurz zu Seonghwa hinüber. „Da gerade ein Polizist anwesend ist, werde ich jetzt nicht näher beschreiben, was diesem Pharao blüht, sollte er dich nicht respektvoll behandelt haben." Dann warf er dem verschmitzt grinsenden Seonghwa einen Kuss zu. Vermutlich konnte sich dieser ohnehin vorstellen, was mein bester Freund tun würde.

Ich hingegen sah Yeosang aufmerksam an und meinte mit einem ehrlichen, kleinen Lächeln: „Sagen wir es so, ich habe ihn definitiv in Atem gehalten und ihm das prunkvolle Leben, in dem kein Nein akzeptiert wurde, echt schwer gemacht. Aber guess what ... Irgendwann stellte sich heraus, dass ich eine Schwäche für superreiche, familiär geschädigte Herrscher habe."

Yeosang nickte zunächst sehr zufrieden, dann froren seine Bewegungen ein und er schien meine letzte Aussage nochmal zu überdenken, bevor sich seine Augen weiteten. „Einen Moment... das ist nicht dein Ernst, oder? Du hast dich tatsächlich auf ihn eingelassen?" Sein Blick war intensiv und nachdem er meine Mimik analysiert hatte, konnte ich die Erkenntnis in seinen Augen lesen. „Sag mir jetzt nicht, du hast dich in ihn verliebt?"

Diesmal kam mein Nicken zögerlicher und es war deutlich schwerer, die Kraft aufzubringen, überhaupt an meinen toten Gemahl zu denken.

„Doch, das habe ich", flüsterte ich und ohne, dass ich es aufhalten konnte, rannen Tränen über meine Wangen. Unterdrücken konnte ich die Erinnerungen an Minho ohnehin nicht mehr, schon gar nicht, als der heiße, frische Schmerz durch meinen Körper zuckte und ein klägliches Schluchzen über meine Lippen entfloh. Sogleich spürte ich Yeosangs Präsenz dicht neben mir, seine Arme legten sich schützend um meinen Körper und seine Wärme sprang auf mich über. Seine hastig gemurmelten Worte versuchten, mir Beistand zuzusichern und einen Ausweg aus dem dunklen Loch zu zeigen. „Shh, shhh, schon gut, lass es raus, Sungie. Oh man, was hast du dir nur dabei gedacht, dich in einen Pharao zu verlieben? Sowas geht doch nie gut aus." Liebevoll tätschelte er meinen Rücken. „Denk nur an all die Dramen, die wir uns angesehen haben. So funktioniert das reale Leben nicht. Könige und Pharaonen werden nicht über Nacht zu perfekten Menschen, die ihre Macht für eine andere Person aufgeben."

Ich schüttelte den Kopf und musste trotz der Tränen lächeln, weil sich Yeosang wirklich alle Mühe gab, mich aufzuheitern. „Nein, da hast du recht. Er-Minho hat sich nicht über Nacht verändert. Aber über Monate hinweg hat er es getan." Erneut übermannte mich die Trauer. „Ich liebe ihn so sehr, Yeosang. Ich habe mich für ihn verändert und er sich für mich." Kurz blieb es ganz still, nur Yeosangs Griff um meine Schultern wurde fester, bevor er murmelte: „Das klingt ganz nach einem K-Drama."

„Und jetzt ist dieser Minho in der anderen Zeit zurückgeblieben, während du hier bist?", fragte Seonghwa unvermittelt, woraufhin sich mein Körper verkrampfte und ich mich heftiger in Yeosangs Pullover krallte.

„Ne-nein, er-er ist-" „-tot, stimmts?", hauchte mein bester Freund mitfühlend und ich nickte tränenblind. Ein hoffnungsloses Schluchzen schlüpfte über meine Lippen, das sich in dem klinisch minimalistisch eingerichteten Raum viel zu laut anhörte. Danach spürte ich nur, wie mein Freund den Kopf anhob und sicher zu Seonghwa blickte.

„Laut den bestehenden Aufzeichnungen starb der Pharao Lee Minho recht jung durch ein Attentat. Es ist nicht überliefert, wer ihn ermordete, aber die Schreiber dieser Zeit sprechen von einer außergewöhnlich grausamen Tat."

Mein Griff um Yeosangs Schultern wurde beinahe eisern und ich atmete hektisch ein und aus.

„Er ist umsonst gestorben, wegen so viel Hass und Schmerz. Ich konnte ihn nicht retten. Changbin hat ihm sein Auge genommen und Hyunjin die Kehle durchgeschnitten. Er hat seinen Pharao für die Rache ermordet. Ich- ich konnte keinen von ihnen retten." Mein Körper zitterte aufgebracht, weil es noch immer schwer zu verarbeiten war, dass ich all das miterlebt hatte. „Er wollte lediglich für Frieden in seinem Land sorgen. Er hätte einen Ausweg gefunden. Sie hätten nur reden müssen."

Yeosang nickte andächtig, schlang seine Arme fester um mich und flüsterte mir beruhigende Worte zu. „Das glaube ich dir, Jisung. Bitte gib dir nicht die Schuld daran. Das hättest du nicht mit ansehen sollen."

Diesmal dauerte es länger, bis ich mich beruhigte, und Yeosang und Seonghwa schienen sich stumm darauf geeinigt zu haben, mich nicht mit weiteren Fragen zu bedrängen und neue Erinnerungen zu triggern. Sie waren auch dann noch bei mir, als Schwester Hanya das Zimmer mit meinen Entlassungspapieren betrat.

Sie sagte mir, dass es mir nun freistünde zu gehen, und als Yeosang das hörte, beschloss er, mich sogleich mitzunehmen. Es kostete ihn keine zwei Minuten Zeit, seinen Freund zu überzeugen, mich bis morgen in seiner Wohnung einzuquartieren. Sodass Yeosang und ich morgen gemeinsam nach Qina in unsere dortige Wohnung, die Yeosang tatsächlich behalten hatte, zurückkehren konnten.


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Ich habe jetzt schon mehrfach in den Kommentaren gelesen, dass ihr Theorien zu möglichen Handlungsverläufen oder Ausgängen dieser Story habt. Diese dürft ihr hier gern teilen, weil ich auch verdammt neugierig bin und eure Vorstellungen/ Gedanken unglaublich interessant finde. Und vielleicht will ich auch wissen, wie nahe ihr meinem erdachten Ende kommt... Also haut einfach mal raus, was euch einfällt. ✨

I love you, Stay ❤️

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