Verstohlene Blicke
Jisungs Pov:
Ich war den ganzen Tag über unruhig gewesen und immer wieder wanderten meine Gedanken zurück zu dem Moment, als ich meine Lippen gegen Minhos Stirn gedrückt hatte.
Oh man, ob er mich jetzt für kindisch hält? Warum habe ich das überhaupt gemacht? Bestimmt findet er es seltsam.
Seufzend rappelte ich mich auf, um den Weg zurück zum Anwesen zu gehen und von dort aus in Seungmins und meine Räumlichkeiten zu gelangen. Nach einer kleinen Mahlzeit am späten Nachmittag hatte ich mich nämlich in den angrenzenden Garten verzogen – nicht in den blumenreichen Garten, sondern in einen palmengesäumten Bereich, der einen See und mehrere große Akazien beheimatete. Ins Wasser hatte ich mich nicht getraut, aber immerhin konnte ich meine Füße kühlen, während ich darüber nachgrübelte, wie Minho meine spontane Zuneigungsbekundung aufgenommen haben mochte.
Warum bin ich nur so schnell davongelaufen? Hätte ich ihm nicht die Chance geben sollen, etwas dazu zu sagen? Aber was wäre, wenn er schlecht reagiert hätte? So bekomme ich wenigstens noch eine Gnadenfrist, bevor er mir sagt, dass ich so etwas nicht tun darf.
Noch tief in Gedanken versunken wischte ich mir einige trockene Grashalme von den Fingern und wandte mich dem schmalen Pfad zu, auf dem ich hergekommen war. Allerdings stoppte ich überrascht, als ich einer Person direkt in die Augen sah, die ich hier nicht erwartet hatte. Eine leichte Gänsehaut zog sich über meinen Rücken, bevor ich meine Haltung straffte, ohne mich dabei zu verkrampfen.
Es gibt keinen Grund, Angst zu haben, Jisung. Deine Position ist nun eine gänzlich andere.
Mein Gegenüber schien ebenfalls erstaunt von dem unvermittelten Aufeinandertreffen, aber er fing sich schnell wieder und verneigte sich vor mir.
„Ich wusste nicht, dass Ihr hier seid. Ich werde gehen, um euch nicht zu stören", sprach Changbin mit klarer, ruhiger Stimme. Er drehte sich auf dem Absatz um und wollte sich offenbar wirklich entfernen.
„Wartet", hörte ich mich da auch schon sagen und zu meiner Verblüffung gehorchte der breitschultrige Mann sogleich.
Er wandte sich erneut zu mir und blieb stumm, so als würde er tatsächlich Befehle von mir erwarten.
Ich hingegen knibbelte an meiner Unterlippe, während ich überlegte, wie ich am besten ein Gespräch einleiten konnte, ohne dass es komisch klang.
„Würdet ihr mich auf einem kleinen Spaziergang um den See begleiten? Dieser Ort und die Umgebung sind mir nicht vertraut und es wäre mir angenehmer, eine Begleitung zu haben." Improvisierte ich und versuchte, möglichst bittend zu dem Dunkelhaarigen hinüberzublicken. Dessen Mimik entspannte sich, bevor ein eindeutig spöttisches Lächeln auftauchte.
„Aber gern doch, Jisung." Seine Intonation und auch sein Gesichtsausdruck ließen mich etwas unruhig werden, wie damals, als er mich befragt hatte, denn ich war mir beinahe sicher, dass er meine Lüge durchschaut hatte – oder was auch immer das gerade gewesen war.
Er ist gut darin, die wahren Absichten einer Person zu erkennen. Ich muss aufpassen, mich nicht in dem Netz zu verheddern, das er vielleicht spannt, um mich zu Fall zu bringen.
Also lächelte ich nur freundlich und wandte mich dann um, sodass ich den Pfad in die entgegengesetzte Richtung nehmen konnte. Kurz darauf hörte ich Schritte neben mir und dann sah ich aus dem Augenwinkel die dunkle Kleidung und den schwarzen Haarschopf.
„Also, was genau seid ihr für seine Majestät? Welche Position bekleidet ihr an seinem Hof?", wollte ich wissen und riskierte einen kurzen Seitenblick.
„Ich befehlige die Wachen der Stadt Theben. Alles was mit der Sicherheit der Bevölkerung und meines Königs zu tun hat, ist mein Belang", entgegnete Changbin aalglatt und ich konnte kein Zögern in seiner Stimme hören. Ich schwieg kurz, weil ich nicht wusste, was ich als Nächstes fragen sollte.
„Wie steht es mit euch, Jisung. Ich hörte, Ihr habt seit unserem letzten Gespräch eine beachtliche gesellschaftliche Aufwertung erfahren. Welche Ziele sind die euren?"
Ich grinste etwas schief und richtete den Blick dabei geradeaus. „Da ihr mir geraten habt, bei der Wahrheit zu bleiben, muss ich euch mitteilen, dass diese rasche Veränderung nicht meine Entscheidung war, noch war es mein Wunsch. Also suche ich noch immer nach den Zielen, die dieses Leben mir eröffnet."
Eine fast schon einvernehmliche Stille legte sich für die nächsten Schritte über uns, und nur das regelmäßige Knacken des Sandes unter den Schuhsohlen war zu hören.
„Das glaube ich euch, Jisung. Der Palast fordert viel von jeder einzelnen Person, die auch nur in seine Nähe gelangt. Dies kann Verbindungen schaffen, ebenso wie es sie zerstört", sprach Changbin schließlich mit einem kaum wahrnehmbaren Tadel in der Stimme. Deshalb warf ich ihm einen Seitenblick zu, bevor ich mit einem Summen und Nicken zustimmte.
Und plötzlich hatte ich eine Eingebung.
„Habt ihr selbst eine solche Ungerechtigkeit erfahren, Changbin?"
Ich war mir nicht sicher, ob er die Anspielung auf Felix verstehen würde oder ob sie ihm überhaupt auffiel, aber dieses Thema interessierte mich tatsächlich und lenkte mich von meinen eigenen Grübeleien ab.
„Ihr seid sehr direkt mit euren Fragen... aber möglicherweise ist das der passende Ausgleich für unsere letzte Unterhaltung." Changbin verzog seine Lippen zu einem knappen Lächeln. „Aber nein, es war keine Ungerechtigkeit, die mir widerfahren ist. Vielmehr gibt es in diesem Leben Hindernisse, die sich nicht so leicht überwinden lassen, wenn einmal die Mauern zu hoch gezogen wurden."
Eine äußerst kryptische Antwort wie ich fand. Dennoch versuchte ich nicht gleich mit einer neuen Frage nachzuhaken, sondern gab dem Schwarzhaarigen die Gelegenheit, noch etwas hinzuzufügen oder mir seine Aussage zu erklären. Als er dies nicht tat, wurde ich etwas langsamer, sodass er ebenfalls gezwungen war, nicht mehr ganz so weite Schritte zu machen.
„Hast du tatsächlich die Absicht, eine von Felix Schwestern zu heiraten?"
Diesmal zog sich die Stille länger hin und ich spürte die Anspannung des anderen förmlich, während er einen Schritt vor den anderen setzte, um neben mir zu gehen.
„Woher weißt du davon, Jisung?", fragte Changbin nun im Gegenzug gefährlich ruhig. „Soweit ich mich erinnere, habe ich nur seiner Majestät davon berichtet und dieser hat es Felix mitgeteilt, weil es ihn betrifft. Aber du-"
„Ich habe dein Gespräch mit Felix gehört. Als ihr auf der Barke darüber gestritten habt", gab ich ohne groß nachzudenken zu. „Dafür möchte ich mich entschuldigen, es war nicht angemessen, zu lauschen. Doch ich wollte weder dich noch Felix in Verlegenheit bringen." Changbin schnaubte leise, so als würde er mir das nicht glauben, aber nach diesem Geständnis wollte ich ebenso Antworten erhalten. „Also ist es dir nun ernst mit Rachel oder nicht?"
Wieder eine kurze Pause. „Das ist es– war es zumindest. Aber jetzt, wo Felix meine Absichten kennt, wird er mich daran hindern, meine Ehre wiederherzustellen. Er ist nur noch von Abneigung und Zorn gegen mich erfüllt."
Bedächtig wog ich meine Antwortmöglichkeiten ab.
Kann ich ihm so unverblümt sagen, dass ich glaube, dass Felix ihn nicht hasst, sondern eher selbst Interesse an ihm hegt? Wenn ich es ihm offenbare, könnte er Felix damit verletzen, und dann wäre Felix sicher wütend auf mich. Wenn ich aber nichts sage, dann wäre es möglich, dass es irgendwann eskaliert und ein Streit oder Ähnliches ausbricht. Vielleicht sollte ich etwas subtiler vorgehen und nur kleine Brotkrumen streuen.
„Das denke ich nicht", entgegnete ich entschieden und setzte dann hinzu. „Alles, was ich bei den beiden Gesprächen, die ich miterlebt habe, gehört habe, lässt mich vielmehr vermuten, dass ihr nie richtig miteinander sprecht."
So wie Minho und ich.
„Ihr beginnt das Gespräch schon mit einer Grundhaltung der Ablehnung und des Misstrauens."
So wie ich es bei Minho von Anfang an getan habe.
„Wieso sprecht ihr nicht einmal über die angenehmen Erinnerungen, die ihr offenbar teilt oder über Themen, die euch beide interessieren."
Das sollte ich definitiv auch versuchen.
Changbin war unterdessen stehengeblieben, also drehte ich mich zu ihm um, sah ihn an und versuchte mich an einem aufmunternden Lächeln. „Ähnlich wie wir hier gerade sprechen, könnt ihr das auch. Möglicherweise legt ihr dann eure Streiterei bei und schlagt einen angemesseneren Weg ein, der euch beide zufriedenstellt."
Das ist schon etwas hoch gegriffen, Jisung. Aber wenn ich auch einsehen kann, dass ich mich möglicherweise geirrt habe und vorschnell eine Person verurteilt habe, dann kann Changbin das auch – hoffentlich.
Dieser stand immer noch reglos vor mir und verarbeitete offenbar meine Hinweise besonders gründlich.
„Du meinst, ich soll ihm eine Möglichkeit zur Versöhnung anbieten?"
Eifrig nickte ich. „Im Grunde genommen ja, aber es muss dir damit ernst sein, damit er dir das auch glaubt."
Ein kleiner Laut, der wohl die Niedergeschlagenheit und Reue verdeutlichen sollte, entfloh Changbins Lippen. „Das sagt sich so leicht."
Am liebsten hätte ich dem jungen Mann mitfühlend auf die muskulöse Schulter geklopft und gesagt, dass ich ihn bestens verstand, aber so versuchte ich es mit einigen subtilen Worten. „Betrachte es mal so: Wenn du Erfolg damit hast, dann ist allen geholfen. Und falls Felix dein Angebot ausschlägt, weißt du immerhin, dass du alles in deiner Macht stehende getan hast."
„Ich hoffe, du behältst Recht, Jisung." Changbin blickte mir direkt in die Augen und erneut konnte ich die Entschlossenheit in ihnen lesen. Diesmal waren sie weniger hart und unbarmherzig als bei unserem ersten Gespräch im Innenhof seines Hauses. Dafür erkannte ich in ihnen neue Zuversicht und zufrieden mit dieser Erkenntnis setzte ich mich in Bewegung.
„Das hoffe ich ebenso. Und jetzt lass uns zurück zum Anwesen gehen, es wird bereits dunkel."
Während ich so einen Fuß vor den anderen setzte, stellte ich fest, dass ich eine ganze Weile nicht an die Ereignisse von heute Morgen gedacht hatte und nun kam es mir fast lächerlich vor, dass ich mich so verrückt gemacht hatte.
Sicher hat Minho das Ganze längst vergessen.
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Als Changbin und ich die Haupthalle betraten, wogte uns sogleich lautes Stimmengewirr entgegen und es herrschte eine ausgelassene Atmosphäre unter den Anwesenden. Offenbar war die Jagdgesellschaft kurz vor uns hier eingetroffen und feierte nun den erfolgreichen Tag. Verstohlen blickte ich mich nach Minho um und entdeckte ihn in der Nähe von Ani Hamed, der gerade seinen gefüllten Weinbecher anhob und den Umstehenden zuprostete. Doch plötzlich schob sich ein dunkelbrauner Haarschopf vor mein freies Blickfeld und stattdessen sah ich in Felix blitzende, grüne Augen. Changbin war bereits in der Menge abgetaucht, wofür ich momentan sehr dankbar war.
Wer weiß, was Felix sonst von mir denken würde...
Der Großwesir war mittlerweile neben mir angekommen und erst jetzt bemerkte ich, dass das breite, beinahe sonnige Lächeln und die funkelnden Augen wohl ein Verdienst des Alkohols waren, den die Jagdgesellschaft bereits konsumiert hatte. Nur damit war auch die folgende Situation zu erklären:
Beinahe kumpelhaft legte mir der Braunhaarige nun einen Arm um die Schultern und drückte mir dann seinen Becher mit Wein in die Hand, während er mit leichtem Singsang aber noch immer gut verständlich zu mir sagte: „Trink, Jisung, trink. Feier mit uns."
Ich drehte mich ein wenig unter dem Gewicht von Felix Arm, sodass er die Wunde auf meinem Rücken nicht aus Versehen berührte. „War die Jagd erfolgreich?", fragte ich, bevor ich ganz vorsichtig an dem Becher nippte und nur einen kleinen Schluck des starken Gebräus trank.
Felix nickte schnell und fast schon etwas ruckartig, bevor er kicherte. „Oh ja, sehr." Das letzte Wort zog er fast unnötig in die Länge, bevor er plötzlich ernster dreinsah, mich gründlich musterte und mir dann einen Finger gegen die Brust drückte. „Aber mit dir habe ich noch eine Nilgans zu rupfen, Jisung."
Verdammt, hatte er mich doch mit Changbin hereinkommen sehen?
Bemüht, nicht allzu ertappt und schuldbewusst auszusehen, legte ich den Kopf schief und fragte: „Mit mir, weshalb?"
Felix bohrte seinen Finger noch etwas fester gegen mein Brustbein. „Dein Gespräch mit Minho heute Morgen – bevor wir aufgebrochen sind."
Nun verstand ich gar nichts mehr und versuchte mich zu entsinnen, ob es etwas an der Unterhaltung gegeben hatte, das anstößig oder unangebracht gewesen wäre. Aber bevor ich zu einem Ergebnis kam, plapperte Felix weiter.
„Du hast ihn dabei verhext." Ein niedliches Hicksen folgte, bevor sich Felix erklärte: „Während der gesamten Jagd war er schrecklich unaufmerksam und grüblerisch. Er hätte einen der Löwen nicht einmal getroffen, wenn dieser sich in seinen Schoß gelegt hätte."
Belustigt von Felix ausgeschmücktem Bericht und seiner Sprechweise hoben sich meine Mundwinkel, während ich gleichzeitig darüber nachdachte, was Minho so aus der Konzentration gebracht haben könnte.
Der Kuss auf die Stirn! Nein, das ist absurd. Aber was, wenn doch!?
Unauffällig schielte ich hinüber zu dem Pharao, der gerade tatsächlich etwas abwesend seinen Blick in der Halle umherschweifen ließ. Und plötzlich entdeckten seine dunklen Augen mich und blieben an mir haften. Schüchtern lächelte ich ihn an und spürte meine Wangen wärmer werden, als ein ebenso zaghaftes Lächeln zurückkam.
Plötzlich wurde der Griff um meine Schulter etwas stärker und der Geruch nach Alkohol wehte mir entgegen, als Felix mir direkt ins Ohr lallte: „Ich sagte doch, du hast ihn verhext."
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