Stille Wasser
Jisungs Pov:
Wir hatten den Palast sehr früh am Morgen verlassen. Besser gesagt, waren wir bereits weit vor Tagesanbruch hinab zum Nil eskortiert worden, wo uns mehrere große Barken erwartet hatten. Dieser recht flache, simple Schiffstyp war bei den alten Ägyptern sehr beliebt gewesen, vor allem aufgrund der enormen Traglast und der simplen Handhabung durch Ruder. Die drei Barken, die nun sanft auf dem breiten Wasserstrom schaukelten, waren jedoch besonders groß und prachtvoll ausgestattet. Die Größte, die Königsbarke, hatte einen Richtmast in der Bootsmitte, der mit reinem Gold überzogen war und die Herrschaftssymbole abbildete.
Es verunsicherte mich ein wenig, dass mir heute niemand besondere Aufmerksamkeit schenkte oder stärker darauf achtete, dass ich nicht in der Menschenmenge am Ufer abtauchte. Nach meinen gestrigen Worten zu Minho hatte ich fest damit gerechnet, kaum einen Schritt allein tun zu dürfen. Aber jeder schien beschäftigt zu sein, und verstohlen sah ich mich nach einer Lücke um, durch die ich schlüpfen konnte. Seungmin stand direkt neben mir und er würde rasch bemerken, wenn ich verschwand, also muss ich warten, bis er abgelenkt war.
Aber so weit kam ich gar nicht mit meinem Plan. Denn da griff Yeji schon nach meinem Arm und führte mich hinüber zu der breiten Planke, über die wir auf die Königsbarke gelangen konnten. Ich konnte Minho bereits an Bord stehen sehen, aber glücklicherweise schien er mir keine Beachtung zu schenken.
„Komm Jisung, lass uns ganz nach vorn gehen, dann können wir das Wasser bei der bevorstehenden Fahrt gut beobachten", meinte Yeji in sanftem Tonfall und führte mich an besagte Stelle.
Ob ich von hier aus auch in einem unbemerkten Augenblick ins Wasser springen könnte?
„Das würde ich dir nicht raten, Jisung. Der Nil beherbergt viele Gefahren. Das Schlimmste wäre wohl, wenn dich eines der Krokodile zu fassen bekommt."
Mein Kopf schnellte herum, zu der Schwarzhaarigen, die die Worte so ruhig und unbeteiligt ausgesprochen hatte, dass mich ihre nüchterne Feststellung beinahe frösteln ließ.
„Woher-"„Woher ich weiß, dass du über eine Flucht nachdenkst? Das ist offensichtlich, Jisung. Besonders dein Blick verrät dich. Er wandert unruhig hin und her, sucht überall nach Möglichkeiten für ein stilles Verschwinden. Du hattest ihn auch in den ersten Tagen im Palast, dann war er seltener zu erkennen. Aber jetzt ist er wieder ausgeprägter."
Ertappt senkte ich den Blick auf das Wasser und merkte kaum, wie um mich herum die Anweisungen fürs Ablegen vom Ufer gegeben wurden. Ich dachte nur darüber nach, was ich Yeji jetzt sagen sollte und wie ich mich möglichst unauffällig verhielt.
„Jisung, ich werde nicht fragen, was gestern zwischen dir, Minho und meinem Cousin geschehen ist, aber du sollst wissen, dass du hier nicht allein bist. Du hast immer die Gelegenheit, dich jemandem anzuvertrauen. Und wenn nicht ich diejenige bin, dann vielleicht Seungmin oder Sunoo. Du verstehst dich so gut mit ihnen. Du musst nicht alles selbst bewältigen."
Ruckartig hob ich den Kopf und starrte die junge Frau neben mir an. Eigentlich wollte ich sie am liebsten anschnauzen dafür, dass sie mich überhaupt an gestern erinnerte, dass sie mich dieser Tortur nochmal aussetzte. Aber als ich ihren dunklen, verständnisvollen Augen begegnete, konnte ich nicht einmal richtig wütend sein.
„Du verstehst das nicht, ich kann mit niemandem darüber sprechen", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. „Das hier ist kein Spiel für mich. Das ist Ernst... das ist jetzt mein Leben."
Die junge Frau nickte und eine Hand legte sich auf meine Schulter. „Es ist ebenso mein Leben und das von Seungmin, Sunoo, Niki..." Ich schüttelte heftig den Kopf.
„Das ist etwas anderes. Ihr seid daran gewöhnt und ihr kennt es nicht anders."
„Du meinst, weil du zuvor arm warst und keinen Reichtum erlebt hast?"
Schon wieder schüttelte ich energisch den Kopf, hielt dann aber inne, weil ich meine übrigen Bedenken und Leiden nicht so leicht ansprechen konnte. „Das wird es wohl sein...", versuchte ich noch einzulenken, aber ich erkannte die Skepsis in Yejis braunen Augen. Aber diesmal bohrte sie nicht nach, sondern richtete ihren Blick hinaus aufs Wasser, dann ließ sie sich langsam an der niedrigen Umrandung der Barke hinabsinken und streckte sogar die Beine über die niedrige Bordwand.
„Komm Jisung, wir sehen uns jetzt den Nil bei Sonnenaufgang an. Wir werden die nächsten drei Tage auf dem Wasser verbringen. Dann sollten wir in der Nähe von Memphis an Land gehen."
Es beruhigte mich, dass Yeji das Thema ganz ungezwungen gewechselt hatte und mich nicht drängte, etwas auszusprechen. Also tat ich ihr den Gefallen, setzte mich zu ihr und betrachtete das Wasser, das bis jetzt noch recht stumpf und glanzlos vor uns lag. Doch binnen der nächsten halben Stunde würde sich das ändern. Die Sonne würde sich hell und strahlend vom Horizont ablösen und am Himmel immer höher klettern. Spätestens dann würde das Wasser schillern wie ein Teppich aus Goldfäden.
In vollkommener Stille und in den magischen Anblick versunken, betrachteten Yeji und ich das aufziehende Morgenrot und die langsam aufgehende Sonne. Die Ruhe zwischen uns fühlte sich nicht unangenehm an und ganz langsam entspannte ich mich.
Abgesehen von den ab und an gerufenen Befehlen und den fernen Unterhaltungen einiger anderer Personen war es angenehm leise, und irgendwann musste ich wohl weggedöst sein, denn das nächste, was ich spürte, war, wie Yeji mich sanft schüttelte und leise zu mir sprach. „Wir sollten uns unter das große Sonnensegel des Schiffes zurückziehen. Die Mittagszeit bricht bald an und dann ist es zu heiß, um ungeschützt hier zu sitzen."
Immer noch schlaftrunken blinzelte ich und erhob mich dann langsam, um der Schwarzhaarigen zu folgen. Die Bewegung ließ mich allmählich wach werden, und als mir dann auch ein angenehmer Duft von gedünstetem Gemüse in die Nase stieg, war ich voll anwesend. Unter dem aufgespannten Segeltuch saßen die übrigen Mitglieder des Harems bereits beisammen und unterhielten sich. Seungmin lächelte mir typisch fürsorglich zu und deutete auf einen freien Platz neben sich.
„Setz dich, Jisung. Du musst hungrig sein." Als hätte er es geahnt, reichte er mir eine Schüssel mit gegartem Gemüse und nahm sich selbst von den liebevoll verzierten Gebäckstücken. Erst nachdem ich mich niedergelassen hatte, bemerkte ich, dass nicht nur Minho anwesend war, sondern auch Felix und ein weiterer Mann, der mir seltsam vertraut erschien. Erst nach einem gründlicheren Blick stellte ich fest, dass er derjenige gewesen war, der meine erste Befragung nach meinem Auftauchen durchgeführt hatte. Der junge Mann, den Felix damals auf so spitzbübische Art provoziert hatte. Changbin.
Nun beobachtete ich den Breitschultrigen mit gebührendem Sicherheitsabstand. Ich verstand nicht, weshalb er hier war, doch dafür schien Felix es umso mehr zu genießen, denn ich konnte selbst von hier das freche Funkeln in den grünen Augen erkennen und die spöttisch gehobenen Mundwinkel. Der ungewöhnliche Anblick ließ mich auch beinahe die Anwesenheit des Pharaos vergessen, der ebenso eine Kleinigkeit aß und sich dabei mit Hyunjin unterhielt, der dicht an ihn geschmiegt dasaß.
Nun sagte Felix etwas zu dem kleineren Mann und dieser spannte sich an wie eine Raubkatze, die gleich einen Satz nach vorn machen wollte. Ich konnte sogar beobachten, wie sich die Hand von Changbin zu seinem Gürtel bewegte, in dem ein glänzender Dolch steckte, aber kurz bevor er seine Finger darum schließen konnte, überlegte er es sich offenbar anders und erwiderte etwas, bevor sich seine Anspannung löste.
„Wenn du mich fragst, sollten die beiden schleunigst ihre Differenzen klären, und zwar an einem ungestörten Ort, nackt und sehr eng miteinander verbunden", merkte Yeji trocken und nicht gerade leise an. Sowohl Seungmin als auch Niki blickten zeitgleich zu mir auf und ich bildete mir sogar ein, dass Felix Yeji einen warnenden Blick zuwarf. Aber die hübsche Schwarzhaarige inspizierte nur betont unbeteiligt ihre Fingernägel, während ich mir ein kurzes Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Ich mochte Yejis spitze Bemerkungen und ihre Ausstrahlung, und sie war beinahe noch niedlicher, als sie mir ein freches Grinsen und ein Augenzwinkern schenkte, als würden wir genau dasselbe denken – was wir definitiv taten.
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Zwei Tage vergingen wie im Flug und man hatte uns verkündet, dass die Strömung des Nils so günstig gewesen war, dass wir schon heute, am frühen Nachmittag, in der Nähe von Memphis an Land gehen würden und von dort aus nur noch einen kurzen Ritt zum Anwesen von Minhos Freund hinter uns bringen müssten. Der Gedanke, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, freute mich, und gleichzeitig spürte ich die Unruhe über die anstehenden Festlichkeiten und das Kennenlernen von so vielen neuen Menschen. Dieser Teil entfachte doch eine grundlegende Nervosität in mir, vor allem weil ich nicht wusste, ob ich mich gut genug in eine solche Gesellschaft einfügte oder jeder sofort merken würde, dass ich unfähig war, meine Herkunft zu kaschieren.
Einmal mehr saß ich an diesem Morgen vorn am Bug der Königsbarke und betrachtete das sanft dahinfließende Wasser, das uns in den letzten Tagen zuverlässig vorangetragen hatte. Ein oder zweimal hatte ich tatsächlich aus der Ferne einen Krokodilrücken gesehen – zumindest glaubte ich das.
„Das bildest du dir ein, Changbin! Weder seine Majestät noch ich würden ein solches Vorgehen erlauben, und ehrlich gesagt ist es unverschämt, darüber zu sprechen, dass du Rachel heiraten willst, nachdem du sie bereits entehrt hast. Sag mir, würdest du sie auch ehelichen, wenn ich oder seine Majestät nicht davon wüssten?"
Neugierig hob ich meinen Kopf und beobachtete die beiden Männer, die nicht weit entfernt von mir auf dem Deck standen und sich ganz offensichtlich stritten. Noch immer verstand ich nicht, worum es ging, doch Felix Augen blitzten gerade so angriffslustig, dass ich mich ihm niemals in den Weg gestellt hätte. Zusätzlich ragte er gertenschlank über dem breitschultrigen Changbin auf und ich war mir sicher, dass der Großwesir seine fehlende Stärke mit Schnelligkeit und Geschick wettmachen konnte, sollte es zu einer handfesten Auseinandersetzung kommen.
Changbin knurrte leise und versuchte sich größer zu machen. „Du gehst mir auf die Nerven, Lee Felix. Ich habe dir gesagt, dass es mir ernst damit ist. Wenn du mir nicht glaubst-" „Es geht nicht darum, was ich glaube, sondern was ich gesehen habe", fauchte Felix und er gab Changbin einen festen Stoß vor die Brust, was diesen aber nicht einmal aus dem Gleichgewicht brachte. „Du weißt nicht, wann es genug ist und niemals würde ich zulassen, dass Rachel dich zum Mann nehmen muss."
Changbin merkte wohl, dass sein Gegenüber nicht einlenken würde und deshalb hob er sein spitzes Kinn an, sah dem Wesir fest in die Augen und sagte dann kühl: „Dann werde ich jetzt gehen. Aber denk nicht, dass ich jemanden wie dich jemals respektieren könnte. Du bist berechnend und nur auf deinen Vorteil aus, Felix... Dabei warst du als Kind ganz anders. Ich werde nie vergessen, wie wir uns das Spielzeug geteilt haben, gemeinsam gelacht haben und du dich normal verhalten hast. Aber jetzt bist du nur noch besessen von Macht. Und das nur, weil du als entfernter Verwandter von Minho einen Anspruch auf ein höheres Amt hast."
Nach diesen Worten drehte sich Changbin auf dem Absatz um und ging schnellen Schrittes zum hinteren Bereich des Bootes, wohl um sich so weit wie möglich von Felix zu entfernen. Ich hingegen blieb stumm und unauffällig sitzen und fühlte mich fast schlecht, dass ich so viel von dem Gespräch belauscht hatte. Dann hörte ich Felix tief seufzen und beinahe hätte ich die gemurmelten Worte überhört: „Was soll ich denn machen, wenn du mich nie so gesehen hast wie ich dich? Du hattest nur Augen für meine Schwestern, also habe ich mir auch meine Ablenkung gesucht."
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Ich habe euch ganz oben noch ein relativ annehmbares Bild einer Barke (dem Schiff auf dem Jisung gerade reist) eingefügt. Es gibt echt wenige, gute Beispiele, aber das ist glaube ich ganz okay. Typischerweise hatten Barken nämlich keine Segel sondern nur Ruder, aber vermutlich konnte man das variieren.
I love you Stay.
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